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4.3.5 Lebenslaufperspektive

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Der Lebenslauf eines Menschen hat sowohl eine individuelle Dimension als auch eine Dimension auf Makroebene. Ein Lebenslaufmodell sollte das Mikroniveau, den Menschen mit geistiger Behinderung selbst, mit den individuellen psychischen, körperlichen und sozialen Anpassungen und Veränderungen beim Älterwerden, immer einbeziehen. Auf individuellem Niveau können mindestens zwei Phasen unterschieden werden, nämlich:

• Entwicklungsphase (Reifung und Erziehung; Bildung und Zunahme der Autonomie)

• Altersphase (Reifung und/oder Abnahme der Autonomie durch körperliche Gebrechlichkeit)

Ein umfassendes Lebenslaufmodell umschließt jedoch auch das Makroniveau der sozialen Auffassungen, Normen und Werte über Altern, geistige Behinderung, Integration und Normalisierung in einer Gesellschaft. So könnte eine umfassende Frage lauten: Welche Konsequenzen haben gesellschaftliche, kulturelle, politische, marktwirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen für das Ansehen und die Begleitung des Menschen mit geistiger Behinderung während seines Lebens?

Ein sozial-gerontologisches Lebenslaufmodell sollte jedoch auch das Mesosystem einschließen, nämlich die Beziehungen des Menschen mit geistiger Behinderung mit seiner direkten materiellen und immateriellen Umwelt, die physische und soziale Umgebung, z. B. die Familie, die Schule, die Wohngruppe, die Werkstätte, die Tagesstätte. Das Mesoniveau ist von großer Bedeutung für die Position und Aktivitäten der Person mit geistiger Behinderung in den Bereichen Erwachsenenbildung, Förderung, Arbeit, Freizeit, Wohnen, Begleitung, Pflege und Versorgung. Der Mensch mit geistiger Behinderung wird auf diesem Niveau seine Kontakte und sozialen Beziehungen finden müssen, seinen Platz in einem sozialen Netz. Es wird deutlich, dass sich in der Arbeit mit dem behinderten Menschen verschiedene Disziplinen den Entwicklungsaspekten zuwenden.

Die Lebenslaufperspektive und -forschung ist folglich interdisziplinär und hat Vertreter in der Psychologie, Pädagogik und in der Soziologie.

Einer der zentralen Grundsätze der heutigen Auffassung der Lebenslaufperspektive ist, dass es keine einzelne oder spezifische Periode im Leben eines Menschen gibt, die den kontinuierlichen Prozess der menschlichen Entwicklung insgesamt prägt.

In der Gerontologie wird der Alterungsprozess und die Altersphase als Teil des Lebenslaufs verstanden, in dem die Eckpfeiler des aktiven Alterns und der Gesundheit bereits in frühen Lebensphasen gelegt werden (Elder & Giele, 2009). Obwohl es im Alter möglicherweise mehr eingreifende Ereignisse gibt (z. B. Tod von Angehörigen oder Beginn der Demenz), prägen vor allem biografische Ereignisse der Kindheit, Jugend und des Erwachsenenalters die »dritte« und »vierte« Phase im Leben.

Gerade das Akzentuieren einer bestimmten Entwicklungsphase und das Verleugnen einer späteren wird oft zum Problem bei Menschen mit geistiger Behinderung. Schaut man sich Biografien von Menschen mit geistiger Behinderung an, dann wird deutlich, wie abhängig solche Phaseneinteilungen von dem Bildungswillen und der aktiven Gestaltung des Lebens durch die Mitwelt ist. Auch bei älteren Menschen trifft man noch oft auf Bemerkungen wie »Es bleiben doch immer Kinder« oder »Erwachsen werden sie nie«. Wie kann man den Menschen mit Behinderung altersgemäß und mit Respekt begleiten, wenn man ihm oder ihr die Zwischenphasen des Lebenslaufs leugnet und damit abnimmt?

Die psychologische Alternsforschung (Lehr, 1980; Baltes & Baltes, 1990) hat auch für die Gestaltung der Erwachsenenbildung in der Geistigbehindertenpädagogik zur Folge, dass menschliche Entwicklung als ein lebenslanger Prozess betrachtet wird (Rapp & Strubel, 1992; Speck, 1983; Theunissen, 1993). Kognitive, emotionale und soziale Entwicklung endet nicht im Erwachsenenalter oder wird sogar rückläufig, sondern ist bei einer fördernden und stimulanzreichen Umgebung ein kontinuierlich fortschreitender Prozess bis ins hohe Alter. Auch im hohen Alter haben ältere Menschen mit geistiger Behinderung den Willen und die Fähigkeit, für sie wichtige und interessante Sachverhalte zu lernen (vgl. Haveman et al., 2000).

Lernerfahrungen in der Kindheit und Rollenerfahrungen des Jugendlichen haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung des einzelnen Menschen; was jedoch nicht bedeutet, dass diese Einflüsse wichtiger und stärker sind als die Erfahrungen der Altersphase. Nach Theunissen (1997) ist die Lebenslaufperspektive, der »life span developmental approach« (Baltes, 1980; 1990), ein Bezugsrahmen für Interventionen, »die den geistig behinderten Menschen auch im fortgeschrittenen Alter in seinem Personsein, in seiner Würde, in seinen Möglichkeiten, in seiner Befindlichkeit und mit seinen Bedürfnissen als ein auf Autonomie hin angelegtes, aktives und kompetentes Wesen ernst nehmen« (Theunissen, 1997, S. 133). Der Einzigartigkeit jedes Menschen im Lebenslauf wird letztlich nur die Biografie gerecht. Die Aufarbeitung der eigenen Biografie hat vor allem für ältere Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Begleitung wichtige Funktionen. Das bedeutet nicht, dass die Vergangenheit wichtiger ist als die Gegenwart oder die Zukunft.

In der sonderpädagogischen Arbeit hat die Lebensgeschichte eine doppelte Funktion (vgl. Bertling & Schwab, 1995). Auf der einen Seite geht es darum, den Menschen durch die Begegnung mit seiner Geschichte besser zu verstehen. Die andere Funktion ist, mit dem behinderten Menschen an dessen Lebensgeschichte zu arbeiten und sie voranzubringen. Beides ist schwierig – das Verstehen wie auch das »Daran-Denken«.

Der Lebenslauf und die erzählte Lebensgeschichte sind zwei verschiedene Aspekte. Erstere ist eine objektivierte chronologische Darstellung wichtiger und bedeutungsvoller Erfahrungen im eigenen Leben. Die Lebensgeschichte jedoch besteht aus einer mehr oder weniger geordneten Aufreihung von Geschehnissen und Erlebnissen, allerdings reduziert zu dem, woran wir uns noch erinnern. Es sind keine Videofilme, die früher aufgenommen und jetzt auf Abruf abgedreht werden, sondern Fragmente, die emotional gefärbt und durch spätere persönliche Erfahrungen mitgestaltet sind. Es wird immer ein Lebensgefühl im Alter geben, ein Basisgefühl im heutigen Erleben, das auf Vergangenem beruht, auch wenn die Vergangenheit dem Menschen nicht mehr bewusst ist. Für viele Menschen, auch für Menschen mit geistiger Behinderung, hat die Lebensgeschichte so viel Einfluss auf das Lebensgefühl, dass dadurch die Zukunftserwartungen und die Zukunftsperspektive bestimmt werden. Es ist diese persönliche Geschichte, die es verständlich machen kann, warum der eine Senior noch joggt und auf Festen sein Tanzbein schwingt, während ein Gleichaltriger nicht von seinem Stuhl loskommt, lieber allein ist und wenig Initiative zeigt. Es ist auch die individuelle Biografie, die erklären kann, warum einige ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Depression entwickeln und andere Menschen in derselben Situation nicht.

Nicht nur erbliche und konstitutionell bedingte Unterschiede in der körperlichen, motorischen, kognitiven, emotionalen und sensorischen Entwicklung, sondern auch wesentliche Unterschiede im Lebenslauf machen ältere Menschen mit geistiger Behinderung zu dem, was sie sind: Menschen mit einer großen Verschiedenheit in individuellen Merkmalen und Charakterzügen. Die Heterogenität und die Vielfalt der Unterschiede fallen auf. Es handelt sich keineswegs um eine homogene Gruppe, wie sie oft verstanden wird. Die Zuordnung zu einem bestimmten IQ-Bereich und statistische Mittelwerte verschleiern vielfältige Ausprägungen des Älterwerdens, die unendlich vielen Varianten, die aus der Biogenese, der früheren Entwicklung und dem Lebenslauf zu erklären sind (vgl. Lehr, 1980). Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte, die zu erforschen ist; nicht nur um den Lebenslauf kennenzulernen, sondern auch um das Verhalten im Kontext der persönlichen Entwicklung und der sozialen Umstände erklären zu können. Nicht jeder Mensch ist sich des eigenen Lebenslaufs in derselben Weise bewusst. Auch gibt es verschiedene Stadien und Momente im Leben, in denen sich Menschen auf einer anderen Art und mit unterschiedlicher Intensität ihrer eigenen Lebensgeschichte bewusst sind.

Nach Timmers-Huigens (1995) ist die Lebensgeschichte und die Weise, mit der Menschen die Lebensgeschichte interpretieren, unter anderem abhängig von:

• der momentanen Situation;

• der Stimmung und Atmosphäre der Situation;

• der Länge der Lebensgeschichte;

• der »stressful life events«, der intensiv froh oder traurig erlebten Momente in der Lebensgeschichte;

• der Art, wie man gelernt hat, die Geschehnisse im Leben zu interpretieren und zu deuten.

Mit Letzterem ist gemeint: das Total der sinnlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Prozesse der Auseinandersetzung einer Person mit ihrer Welt beim unabschließbaren Versuch, den Erfahrungen einen Sinn abzuringen, der das Ganze zusammenhalten könnte. Dieses Vermögen des Menschen, nicht nur in guten, sondern auch in widrigen und aussichtslosen Umständen, Sinnhaftigkeit im eigenen Leben entdecken zu können, bezeichnet Antonovsky (1979; 1987) in seinem Salutogenese-Modell als »Sense of Coherence«.

Dieses »Deuten« und »Interpretieren« wird unter anderem geformt durch:

• die Kultur und Gesellschaft, in der man lebt;

• die Lebensphilosophie, den Glauben, die Lebensvision und das Lebensgefühl, mit dem man aufgewachsen ist;

• die Art und Weise, wie Mitmenschen (Vorbilder wie Eltern, Lehrer, Idole und andere wichtige Personen im eigenen Leben) mit wichtigen Lebensgeschehnissen umgehen;

• die Fähigkeit, sich an Geschehnisse zu erinnern (Gedächtnis);

• die Art, wie man in der Vergangenheit Geschehnisse erlebt und verarbeitet hat;

• die Hilfen und Stützen im sozialen Umfeld bei der Verarbeitung der Geschehnisse (Timmers-Huigen, 1995, S. 361f.).

Altern mit geistiger Behinderung

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