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4.3.2 Loslösungstheorie (Disengagementtheorie)

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Die Loslösungstheorie wurde Anfang der 1960er Jahre von Cumming und Henry (1961) nach dem struktur-funktionalistischen Modell Talcot Parsons entwickelt. Basierend auf dem Defizitmodell des Alters wird Loslösung als Voraussetzung für erfolgreiches Altern angesehen, wobei der Verlust von Kontakten und Aktivitäten positiv zu sehen ist. Es versucht die Mikroebene des persönlichen Erlebens und Verhaltens im Alter mit gesellschaftlichen Aspekten zu verknüpfen (Wahl & Heyl, 2004, S. 130). Loslösung (Disengagement) entsteht aufgrund gesellschaftlicher und auch individueller Interessen; der Rückzug erscheint als unvermeidbarer Prozess, in dem Beziehungen gelöst und verändert werden. Altern wird als biologischer und nicht korrigierbarer, hinzunehmender Prozess gesehen, der zur Verminderung von geistigen, körperlichen und seelischen Kräften führt. Diese Verminderungen führen zu einem sozialen Rückzug aus unterschiedlichen Lebensbereichen, der von der Gesellschaft erwartet und durch den Einsatz jüngerer Menschen kompensiert wird. Loslösung wird auch als Bedürfnis älterer Menschen betrachtet, der gewünscht und als Ruhe- und Selbstentfaltungsbedürfnis akzeptiert wird.

Die Loslösungstheorie (Cumming & Henry, 1961) geht also davon aus, dass mit zunehmendem Alter ein gegenseitiger Rückzug eintritt: Die Person zieht sich aus der Gesellschaft zurück und die Gesellschaft zieht sich von der Person zurück. Der Ruhestand wird als ein Beispiel für die Loslösungstheorie gesehen. Die Art des Ausscheidens aus dem sozialen Bezugssystem der Arbeitswelt ist hierbei von zentraler Bedeutung. Ausgangspunkt der Loslösungstheorie ist eine von der betroffenen Person ungewollte Berentung, die mit der vermeintlichen, mit dem Alter sinkenden Leistungsstärke und Handlungsfähigkeit begründet wird (vgl. Backes & Clemens, 2013, S. 128). Diese Sichtweise unterscheidet sich deutlich von der Perspektive der Aktivitätstheorie. So schreiben Backes und Clemens (2013): »Das Aktivitätskonzept unterliegt zumindest in seinen Annahmen nicht den Stereotypisierungen von Alter als einem Abbau von Fähigkeiten und reduziertem Bedürfnis nach Betätigungen, sondern weist darauf hin, dass solche reduzierten Aktivitäten und Interessen oft erst durch gesellschaftlich herabgesetzte Möglichkeiten entstehen« (Backes & Clemens, 2013, S. 130).

Die Loslösungstheorie ist heute nicht weit verbreitet und hat im Laufe der Jahre viel Kritik erhalten. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Menschen von der Arbeit zurückziehen und ihre Interaktion mit der Gesellschaft verringern möchten, was nicht immer der Fall ist (Cumming, 1963). Ein Hauptkritikpunkt an der Loslösungstheorie ist die Betrachtung des Ruhestandes als »bloße Restzeit« (Kohli, 1994, S. 236) des Lebens. Die Tatsache, dass die Menschen mit oder ohne Behinderungen immer älter werden und die Lebenserwartung steigt, hat die Lebensphase des Ruhestandes einen weitaus größeren quantitativen und qualitativen Stellenwert für die Menschen gegeben. Die »Wartezeit« ist zu lang, um diese Periode auf eine Wartezeit auf den Tod zu reduzieren (vgl. Kohli, 1994, 236). Ebenfalls kritisch zu betrachten bleibt die Annahme, dass der Rückzug und das Disengagement einen natürlichen Prozess darstellen, auf den die alten bzw. alternden Menschen zielführend hinarbeiten.

Bei der Bewertung dieses Ansatzes für die Zielgruppe der älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist zunächst die angebliche Übereinstimmung von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen kritisch zu bewerten (vgl. Wahl & Heyl, 2004, S. 122). Menschen mit geistiger Behinderung erfahren in der Regel lebenslang Ausgrenzungen aus dem gesellschaftlichen Leben. Für diesen Personenkreis ist es kaum möglich, sich den Erwartungen und dem Druck zu widersetzen. Reduktion des sozialen Netzwerkes ist für niemanden wünschenswert, da soziale Kontakte von existentieller Wichtigkeit sind.

Altern mit geistiger Behinderung

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