Читать книгу Altern mit geistiger Behinderung - Meindert Haveman - Страница 36
4.3.6 Periodeneffekte
ОглавлениеViele der heutigen alten Menschen mit geistiger Behinderung gingen nicht zur Schule, weil es bis in die 1960er Jahre keine Schulpflicht gab, und blieben bei den Eltern, bis diese sie wegen eigener Altersprobleme oder weil ein Partner starb, nicht mehr begleiten konnten. Andere wurden schon in sehr jungem Alter, manchmal schon als 2- bis 6-jährige Kinder, in Großeinrichtungen aufgenommen. Dies wurde den Eltern empfohlen oder die Eltern konnten oder wollten nicht mehr für die Pflege und Begleitung des Kindes aufkommen. Neben diesen Anstalten gab es in den 1950er Jahren kaum Alternativen.
Viele der heutigen älteren Menschen mit geistiger Behinderung haben Invalidität und gesundheitliche Schäden durch medizinische Unterversorgung erfahren und sich in psychiatrischen Kliniken, Pflegeheimen und Großwohneinrichtungen einer oft rigiden und unpersönlichen Erziehung und Verwahrung unterwerfen müssen. Das Leben in der Wohneinrichtung war oft ein schlechtes Abbild der Normen und Werte, die damals in der Gesellschaft vorherrschten, mit einer starken sozialen Stratifikation in soziale Klassen sowie Frauen- und Männer-Abteilungen. Auch waren die Kontaktmöglichkeiten durch den intramuralen Aufenthalt zur Gesellschaft draußen, nämlich zu Familie, Freunden, Bekannten und anderen, sehr reduziert. Man lebte ein separiertes, sozial isoliertes Leben, in dem Fremdbestimmung zur Tagesordnung gehörte.
Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden in den damaligen Hilfsschulen Kinder aufgenommen, die wir heute als geistig- oder lernbehindert bezeichnen würden und von denen heute nur noch wenige leben. Aufgrund der großen Unterschiede in den Lernbeeinträchtigungen waren die Mitarbeiter der Hilfsschulen oftmals überfordert und konnten die Kinder nicht gezielt fördern (Speck, 1979). Man bevorzugte den leistungsorientierten Unterricht, wobei Schüler mit geistiger Behinderung zwangsläufig ins Hintertreffen gerieten und langsam zum »Ballast« wurden. Ab 1933 begann man damit, die Sammelklassen aufzulösen, sodass Schüler mit geistiger Behinderung verstärkt aus dem Schulwesen verdrängt wurden. Mit dem § 11 des Reichsschulpflichtgesetzes von 1938 schloss man diese Kinder schließlich als »bildungsunfähig« aus den staatlichen Schulen aus (vgl. Mühl, 1984; Speck, 1979).
Während des Nationalsozialismus war die Existenz von Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur bedroht – systematisch wurde ihnen als »Ballastexistenzen« das Recht auf Leben abgesprochen. Auch nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« hatte der Krieg einschneidende und lang andauernde Konsequenzen. Die ersten Jahre nach Kriegsende waren geprägt durch die Folgen des Krieges: Der Wiederaufbau der zerstörten Städte, die Sicherung der eigenen Existenz und wirtschaftliche Interessen bestimmten in dieser schwierigen Zeit das Handeln und Denken der meisten Menschen (vgl. Craig, 1983). An Unterstützung sowie schulische Förderung von Kindern mit geistiger Behinderung, war in dieser Situation nicht zu denken.
Aber auch in den 1950er Jahren, der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs Deutschlands, erhielten Familien mit Kindern mit geistiger Behinderung keine staatliche Hilfe (vgl. Craig, 1983). Menschen mit geistiger Behinderung besaßen kein Anrecht auf Bildung und hatten somit auch keine Aussicht auf eine berufliche Ausbildung. Wie in den meisten Bundesländern, existierte auch in Rheinland-Pfalz weiterhin der § 11 des Reichsschulpflichtgesetzes vom 6. Juli 1938, der die »Schulbefreiung von geistig behinderten Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter« vorsah (vgl. Bach, 1979; Mühl, 1984). Ein Großteil der betroffenen Familien musste ihre behinderten Kinder zu Hause versorgen. Die meisten waren dadurch sehr großen Belastungen ausgesetzt. Eltern konnten lediglich versuchen, das Kind in einem Heim, beispielsweise der Diakonie oder der Caritas, unterzubringen. Jedoch reichten die hier vorhandenen Plätze bei Weitem nicht aus. Außerdem bedeutete die Heimunterbringung eine weitgehende Trennung vom Kind (vgl. Urban & Fröhlich, 2000, S. 17f.).