Читать книгу Altern mit geistiger Behinderung - Meindert Haveman - Страница 37
4.3.7 Institutionalisierungseffekte
ОглавлениеAndere Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Fehlen von Alternativen in psychiatrischen Kliniken oder Einrichtungen für geistig Behinderte aufgenommen. Stärker noch als in Deutschland waren in den Niederlanden religiöse Orden und Glaubensrichtungen für die Begleitung und Pflege verantwortlich. Klijn (1995) untersuchte die Lebensgeschichten von geistig behinderten Bewohnern in der Periode 1879 bis 1952 zweier großer katholischer Einrichtungen im Süden der Niederlande, nämlich St. Anna (Frauen) und St. Joseph (Männer) im Dorf Heel (Limburg). Durch eine sorgfältige Studie der noch vorhandenen Dokumente individueller Lebensgeschichten, schildert sie das Alltagsleben und strukturelle wie auch kulturelle Bedingungen. Obwohl es einschneidende Unterschiede im historischen Vergleich zwischen den beiden Ländern Deutschland und Niederlande gibt (z. B. die systematische Vernichtung der Menschen in der Periode 1939–1945 in Deutschland), zeigen sich in der Organisationsentwicklung sehr viele Parallelen. Auch in Deutschland war die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gratwanderung des Versorgungssystems für Menschen mit geistiger Behinderung zwischen Caritas und Psychiatrie beeinflusst. Strukturelle und kulturelle Charakteristika dieser Umwelt beeinflussten Wertvorstellungen, Lebensstil, Lebensanschauung, Interessen wie Desinteressen und das Verhalten vieler Menschen in der Jugend und im Erwachsenenalter, wodurch nun das Leben älterer Menschen mit geistiger Behinderung geprägt ist.
Viele Werte und Strukturen der Begleitung in Einrichtungen sind durch die in dieser Zeit und in dieser Gesellschaft dominanten Ideologien zu erklären. Das Klassensystem und der Unterschied zwischen arm und reich äußerten sich als soziale Klassen-Abteilungen auch innerhalb dieser Einrichtung. Ein harter Arbeitstag (Brot nach Arbeit) und eine strenge Erziehung im Glauben waren wichtige Prinzipien in dieser Zeit.
Einige der genannten Aspekte erinnern auch an das Konzept der »Totalen Institution« (Goffman, 1961). Eines der Wesensmerkmale einer totalen Institution ist, dass die Möglichkeit, an verschiedenen Orten zu schlafen, zu arbeiten und sich zu erholen, aufgehoben ist. Alles findet am selben Ort unter der Verantwortlichkeit derselben Autorität statt.
»Darüber hinaus läuft jeder Abschnitt des Tagesablaufes ihrer Mitglieder in der unmittelbaren Gegenwart einer großen Zahl anderer ab, die alle in der gleichen Weise behandelt werden und alles untereinander tun müssen. Schließlich ist der Tagesablauf genau eingeteilt, wobei die eine Tätigkeit zu einer festgesetzten Zeit von der nächsten abgelöst wird und die ganze Folge des Handelns durch ein System expliziter formaler Regeln von einer Gruppe von Funktionären von oben her bestimmt wird« (ebd., S. 24).
Die Kluft zwischen der kontrollierten Gruppe (Insassen) und dem Aufsichtspersonal war groß. Die Insassen lebten hauptsächlich sozial isoliert hinter Mauern. Langjährige Bloßstellung von Menschen durch solche Systeme – ohne die Möglichkeit zu haben, alternative Lebenswelten kennenzulernen – prägte den Menschen. Bertling & Schwab (1995) beschreiben einige Konsequenzen.
»Heute noch erzählen alte Bewohner und Ordensschwestern vom früheren Alltagsleben in den Einrichtungen, von der Arbeit im Garten, in der Landwirtschaft, vom gegenseitigen Helfen in den großen Gruppen. Das war eine Notwendigkeit, weil über viele Jahre ausschließlich wenige Ordensleute die Pflege der behinderten Menschen übernahmen. Mithilfe, feste Regeln für Alltage und Festtage bestimmten den Tagesablauf und Jahreslauf. Sie boten Orientierung und festen Halt im Leben. Wenn wir genau hinschauen, können wir bei unseren alten Bewohnern heute noch das Orientieren und Festhalten an bestimmte Regeln beobachten« (ebd., S. 216).
Viele ältere Menschen mit geistiger Behinderung wurden als Kinder in diese Einrichtungen aufgenommen, wurden verwahrt und gepflegt, aber nicht gefördert, weil sie aufgrund ihrer Behinderung als »bildungsunfähig« galten. In ihren Entwicklungschancen ist diese Gruppe von Menschen kaum zu vergleichen mit den Geburtskohorten der letzten 30 Jahre, die vorschulisch, schulisch, im Arbeitsbereich und der Erwachsenenbildung gefördert wurden.
Auch Menschen mit geistiger Behinderung in höherem Alter haben plastische und adaptive Fähigkeiten, um sich veränderten Umständen anzupassen. Es ist jedoch grundsätzlich zu erwarten, dass viele dieser Menschen durch Lücken in der Förderung, Verwahrlosung von Fähigkeiten und durch Ausschluss von der Öffentlichkeit Periodeneffekte zeigen.