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Mittwoch, 28.10.2014; 1:23 Uhr

Fabian Tillmann sah zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr.

1.23 Uhr.

Er war seit 21 Uhr im Dienst und würde noch bis 3 Uhr auf seinem Posten bleiben müssen. Erst dann war mit der Ablösung zu rechnen. Bis dato tat sich gar nichts, Tillmann gähnte laut.

Er hatte als einziger einen direkten Blick auf die Einfahrt und die Haustür. Die anderen Kollegen warteten in einiger Entfernung. Im Haus waren vor vier Stunden die Lichter gelöscht worden, seither herrschten Dunkelheit und Stille. Tillmann rechnete nicht damit, dass sich vor dem geplanten Zugriff um 5 Uhr überhaupt noch etwas tun würde. Wachsam musste er trotzdem bleiben, man konnte ja nie wissen. Er hatte schon Einsätze mitgemacht, wo es nach einer ruhigen und langweiligen Schicht aussah und plötzlich überschlugen sich von einer Sekunde auf die nächste die Ereignisse.

Tillmann kannte den Hintergrund des Einsatzes und gerade er wollte nicht derjenige sein, dem man später nachsagen würde, er habe einen Kinderficker entkommen lassen. Ein weiterer Blick durch das Nachtsichtgerät verhieß wieder nichts. Es war kalt geworden im Auto, Tillmann rieb sich die Hände warm, den Motor zu starten verbot sich von selbst. Tillmanns Gedanken schweiften ab.

Als er an das für den heutigen Abend geplante Date dachte, zauberte sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Er hatte Keanu vor drei Wochen in einem Club in Hannover kennengelernt. An die folgenden vier Treffen erinnerte er sich nur allzu gut und gerne. Gleich am ersten Abend waren sie im Bett gelandet, für beide bedeutete es den besten Sex seit langem. Und der war seitdem nicht schlechter geworden. Tillmann grinste vergnügt. Dass er schwul war, wussten die Kollegen nicht, mussten sie auch nicht wissen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Noch ganz in Gedanken versunken, griff er erneut zum Nachtsichtgerät.

Was war das? In einem der unteren Zimmer brannte plötzlich Licht. Jetzt öffnete sich sogar die Haustür und ein Mann trat nach draußen, der etwas Großes in der Hand hielt. Tillmann sah genauer hin: ein Reisekoffer. Schnell machte er via Funkgerät Meldung beim Einsatzleiter. Der Unbekannte war kurz wieder im Haus verschwunden und kam mit einem zweiten Koffer aus der Tür. Auch im Obergeschoss brannte jetzt Licht. Hinter der Gardine bewegte sich jemand.

„Ziemlich klein, das könnte ein Kind sein“, sprach Tillmann mehr zu sich selbst als in das Funkgerät. Die Koffer waren mittlerweile im Auto verstaut, der Mann wieder im Haus verschwunden.

„Alle mal herhören. Wir starten einen Notzugriff. Macht euch alle bereit“, kam der Befehl aus dem Netz.

„Die Teams auf die vorbestimmten Stellen, sobald alle dort sind, Meldung an mich, ich gebe dann das Zeichen zum Zugriff.

Tilli, “ wandte sich der Einsatzleiter nun mit dessen Spitznamen an Tillmann.

„Höre“, antwortete der.

„Irgendwelche Veränderungen?“ fragte Schönherr.

„Nein. Alle Personen befinden sich noch im Haus, vermutlich sind es zwei.“

Im Obergeschoss erlosch das Licht wieder, dafür flammte ein anderes ebenfalls im Parterre auf.

„Team 1 in Position“, meldete sich eine Stimme aus dem Funkgerät.

„Team 2 ebenfalls.“

„Da kommt jemand aus dem Haus“, flüsterte Tillmann ins Mikrofon.

„Scheint ein Mädchen zu sein, vielleicht 12, 13 Jahre alt. Sie bringt etwas zum Auto, legt es auf den Rücksitz, geht zurück ins Haus, die Tür steht noch offen. Denke, die wollen gleich los.“

„Team 3 in Position.“

„Team 4 in Position.“

Alle hatten sich zu Fuß angeschlichen und umstellten nun das Gebäude. Oberstes Ziel war die Vereitelung der Abfahrt. Auf keinen Fall durfte sich das Auto in Bewegung setzen. Zwar sicherte noch ein weiteres Team die Ausfahrt vom Hof, aber ein Zugriff auf einen fahrenden Wagen konnte brandgefährlich sein.

„Das Mädchen kommt aus dem Haus“, gab Tillmann jetzt durch. „Der Mann ist hinter ihr. Die Lichter sind aus.“

„Zugriff“, tönte die Stimme des Einsatzleiters aus dem Funkgerät.

Innerhalb weniger Sekunden stürmten acht schwer bewaffnete und vermummte Beamte in schwarzer Kleidung, Schutzwesten und Sturmhauben auf das ungleiche Duo zu.

„Polizei, runter auf den Boden“, donnerte es durch die Nacht.

Gleich sechs Beamte kümmerten sich um den Mann, der bevor er wusste wie ihm geschah, bäuchlings auf der Erde lag.

Die Hände wurden ihm auf den Rücken gedreht und mit Kabelbindern fixiert. Zwei Beamte hatten sich das Mädchen geschnappt und es hinter dem Haus in Sicherheit gebracht.

„Zielperson ist sicher“, klang es aus dem Funkgerät.

„Das Mädchen auch, “ meldete eine andere Stimme.

„Sehr gut, “ antwortete der Einsatzleiter.

„Team 5. Ihr zieht vor zum Objekt und übernehmt den Transport der Zielperson zum Präsidium. Ich melde euch dort an.“

„Verstanden“, antwortete einer der Beamten.

Unmittelbar darauf hörte man ein Auto mit hoher Geschwindigkeit die Zufahrt zum Haus hochschießen. Der Polizeiwagen stoppte direkt vor dem am Boden Liegenden. Schnell wurde der auf die Füße gezogen und auf der Rückbank abgesetzt. Einer der Polizisten nahm neben ihm Platz. Seine Kollegen auf den Vordersitzen hatten nicht einmal aussteigen müssen. Keine fünf Minuten hatte es gedauert, keine Patrone war notwendig geworden, das Mädchen war in Sicherheit und die Zielperson auf dem Weg in den Gewahrsam. Besser konnte es einfach nicht laufen.

Doch jetzt musste zunächst das Haus durchsucht werden.

„Saubere Sache“, meldete der Einsatzleiter über Funk. „Team 2, 3 und 4, geht rein, aber seid vorsichtig. Team 1 - ein Streifenwagen kommt gleich zu euch, übernimmt das Mädchen und bringt es ins Krankenhaus.“

„Alles klar“, antworteten die Angesprochenen.

Tillmann, der seinen Beobachtungsplatz bis zum Ende des Einsatzes nicht verlassen würde, sah kurz darauf Blaulicht, das sich dem Standort von Team 1 näherte.

Fünf Minuten später sah er den Streifenwagen schon wieder in Richtung Bielefeld davonfahren. Kurz darauf war auch die Durchsuchung, die allein auf mögliche weitere Personen gerichtet war, beendet.

„Keine weiteren Bewohner“, meldete einer der Beamten.

„Gut“, sagte Schönherr.

„Team 3 und 4 ihr bleibt vor Ort und sichert das Haus, bis ihr abgelöst werdet. Alle anderen können abrücken. Wir treffen uns auf der Dienststelle.“

5:50 Uhr

Eine Stunde nachdem Chiara ihn über den Notzugriff und die Verhaftung von Kaiser informiert hatte, betrat ein reichlich zerknittert aussehender Weber die A1. Der Anruf hatte ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und trotz zweier Tassen Kaffee vor der Abfahrt war er noch immer nicht richtig wach.

„Morgen“, knurrte er im Büro als er die äußert munter wirkenden Kollegin sah.

„Hallo“, gab Chiara ebenso kurz zurück.

Weber zog seine Jacke aus, hängte sie über die Lehne seines Bürostuhls und ließ sich auf das Möbel sinken.

Er sah ihr an, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“ fragte er.

„Leipnitz ist verschwunden.“

Weber richtete sich kerzengerade auf.

Chiara hatte ihm am Telefon nur erzählt, dass Kaiser verhaftet worden war, fiel ihm jetzt ein und er war automatisch davon ausgegangen, dass auch der Zugriff bei Leipnitz eine Punktlandung bedeutete. Offenbar ein Irrtum.

„Erzähl schon“, drängelte er.

Seine Kollegin zog genervt die linke Augenbraue hoch und berichtete:

„Nachdem der Zugriff bei Kaiser beendet war, wurde das Team, dass vor Leipnitzs Haus postiert war, informiert. Wie abgesprochen erfolgte dort ebenfalls ein Notzugriff. Aber es war niemand im Haus. Kein Leipnitz, kein Kind.

Die Kollegen sind noch mit der Durchsuchung beschäftigt, aber es sieht so aus, als ob nichts fehlt. Die Schränke sind voll, es stehen drei Koffer im Keller und sogar der Ausweis wurde in der Wohnung gefunden. Sein Wagen steht in der Garage, aber von ihm keine Spur.“

Weber verdrehte wütend die Augen und hieb mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

„Himmel, Arsch und Wolkenbruch“, bellte er.

„Irgendetwas ist da ganz merkwürdig“, entgegnete seine Kollegin.

„Unsere Leute haben den Briefkasten geöffnet und darin unter anderem eine Benachrichtigungskarte von DHL gefunden, die augenscheinlich am Montag eingeworfen worden ist. Außerdem steckten zwei Exemplare der Neuen Westfälischen von Montag und Dienstag in der Zeitungsrolle.“

„Also dürfte er schon seit dem Wochenende verschwunden sein“, mutmaßte Weber, als Chiara nicht weitersprach.

Sie nickte nur.

„Genau wie bei Welle. Beide sind verschwunden, ohne dass es Anzeichen für eine Flucht gibt, und die Kinder sind ebenfalls weg.“

Weber starrte Chiara an:

„Gibt es denn Hinweise, dass sich in dem Haus überhaupt ein Kind aufgehalten hat?“.

„Die gibt es“, antwortete sie. „Es wurde Mädchenbekleidung in der Größe 152 gefunden. Also für ein etwa 12- bis 13-jähriges Kind.“

Weber sah Chiara grüblerisch an.

„Zufall?“, fragte er dann.

Chiara gähnte jetzt auch.

„Was genau meinst du?“, fragte sie zurück.

„Du solltest nach Hause gehen und dich ausschlafen“, antwortete Weber.

„Später“, kam es knapp zurück.

Weber sah sie lächelnd an. Verdammt zäh, meine hübsche Kollegin, dachte er.

„Mit Zufall meine ich“, fuhr er dann laut fort, „dass sowohl Leipnitz als auch Welle samt der Kinder verschwunden sind. Beide unter den gleichen Umständen.“

Die Kommissarin sah ihn interessiert an:

„Worauf willst du hinaus?“

Weber zuckte mit den Schultern.

„Kann ich nicht genau sagen“, antwortete er dann.

„Aber irgendwas stimmt da nicht. Ich kann nur noch nicht genau sagen was. Ist so ein ganz ungutes Bauchgefühl.“

Chiara überlegte:

„Glaubst du, dass die beiden verschwunden sind, weil sie gewarnt wurden?“

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf.

„Ohne Klamotten? Und in einem Fall ohne Ausweis?“

„Vielleicht eine kurzfristige Warnung, die sie erst kurz vor unserem Zugriff erhalten haben? So dass sie Hals über Kopf verschwinden mussten?“ Chiara erschrak, als ihr bewusst wurde, welchen Verdacht sie damit andeutete.

Weber konkretisierte:

„Du meinst, einer der Kollegen hat Leipnitz und Welle gewarnt?“

Chiara ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie mochte den Gedanken nicht konsequent fortsetzen.

„Ich weiß nicht“, wich sie aus, „vielleicht war es auch einer von Renners oder Krügers Leuten.“

„Aber warum dann erst so kurzfristig? Hätte einer aus ihrem Umfeld sie nicht viel früher gewarnt, damit sie die Zeit für eine Vorbereitung ihrer Flucht nutzen konnten?“

Chiara nickte langsam und ungläubig:

„Eigentlich schon. Ich glaube, es reicht mir für heute, ich fahre nach Hause und schlafe mal richtig durch. Aber zuerst bringe ich dich noch wegen Kaiser auf den neuesten Stand.“

Binnen fünf Minuten wusste Weber genau Bescheid.

„Unser Verdächtiger sitzt jetzt unten in Gewahrsam und wartet auf seinen Anwalt. Ich denke, er wird nichts sagen. Das Mädchen haben wir dem Jugendamt übergeben, die kümmern sich um ihre Unterbringung. Vermutlich in einem Heim,“ fügte sie dann deprimiert hinzu.

Auch dem Kommissar war bei dem Gedanken nicht wohl. Sicher hatte das Kind längst sein Vertrauen in Heime und ähnliche Einrichtungen vollständig verloren.

„Zumindest übergangsweise, bis sie eine Pflegefamilie gefunden haben. Eine der man auch vertrauen kann.“

„Was haben wir über das Mädchen?“ fragte Weber.

„Leider nicht viel.

Sie stammt vermutlich aus Afghanistan, ist 16 Jahre alt und heißt Hadia Jahander. Mehr konnten wir ohne Dolmetscher nicht herausfinden. Das Jugendamt hat darauf bestanden, dass sie sich erst ausschläft, bevor wir sie mit einem Dolmetscher vernehmen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie um 16 Uhr wieder hier sind. Den Übersetzer müssen wir organisieren.“

„Wer macht die Vernehmung?“ fragte Weber.

„Die mache ich selbst", kam es von Chiara wie aus der Pistole geschossen. „Bis dahin bin ich wieder fit!“

8 Uhr

Weber, Herbst und die beiden Einsatzleiter des SE, saßen im Besprechungsraum zusammen. Zu Webers Unmut gab es keine neuen Erkenntnisse. Weder zum Aufenthaltsort von Leipnitz noch hatten die Durchsuchungen irgendwas Brauchbares zu Tage gefördert.

Nachdem die SEK-Beamten weg waren, setzten sich Weber und Herbst, jeder mit einer Tasse starken, schwarzen Kaffees, in Schwarzbachs Büro. Herbst ließ sich schwer in den Bürostuhl sinken und griff sich mit den Zeigefingern an die Nasenwurzel.

„Du machst einen angeschlagenen Eindruck“, schaute Weber auf den Kollegen.

Herbst griff nach seinem Kaffee und nahm einen Schluck bevor er antwortete:

„Der Eindruck täuscht nicht, im Moment ist einfach zu viel los. Eure EK, Windmanns MK - und in den anderen Bereichen stapeln sich auch die Anzeigen. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch Vorgänge geben soll. Personal gibt es aber auch keins zusätzlich und noch dazu sieht es in den anderen Abteilungen genauso beschissen aus wie bei uns, “ sagte Herbst frustriert.

„Am Montag kommt wenigstens ein Ersatz für Schwarzbach. Wurde mir auf jeden Fall zugesagt und ich hoffe, es bleibt dabei. Das bringt zumindest etwas Entlastung, auch wenn mir noch keiner gesagt hat, wer kommt.“

„Wie geht es Oskar?“ fragte Weber.

„Unverändert. Er liegt weiter auf der Intensivstation. Ist aber soweit stabil.“

„Ist er wach?“

Herbst schüttelte den Kopf.

„Sie halten ihn noch im künstlichen Koma, bis sich sein Körper weiter erholt hat.“

„Meinst du er kommt nochmal zurück?“ fragte Weber nach einer kurzen Pause.

Herbst trank einen Schluck Kaffee und schüttelte dann den Kopf.

„Er ist 58 Jahre. Bis er wieder dienstfähig ist, dürfte es noch mindestens sechs Monate wenn nicht gar 12 dauern. Dann hätte er noch drei Jahre vor sich. Ich denke, die wird er auf einer ruhigeren Dienststelle verbringen. Oder er entschließt sich früher in Pension zu gehen.“

Weber kommentierte mit einem Kopfnicken:

„Anzunehmen.“

„Aber lass uns jetzt über den Fall sprechen“, wechselte Herbst von einem unangenehmen Thema zum nächsten.

„Was macht die Fahndung nach Welle?“ fragte Weber.

„Läuft“, antwortete Herbst.

„Ich habe vorhin noch mit den Kollegen von der Finanzermittlung gesprochen. Sein Konto wird weiter beobachtet. Es gab keine Abhebungen, seit er verschwunden ist. Sollte sich etwas tun, werden sie uns sofort unterrichten. Auch die Kreditkarte ist ungenutzt. Also entweder er hatte genug Geld zur Flucht zu Hause liegen, oder es woanders bar deponiert.“

„Sind denn größere Summen von seinem Konto im Vorfeld abgehoben worden?“ fragte Weber.

Herbst schüttelte den Kopf.

„Die Kollegen versuchen auch noch herauszufinden, ob er im Ausland Konten hat. Und das gleiche Vorgehen habe ich für Leipnitz veranlasst, “ fuhr Herbst fort.

„Ich hoffe, dass wir im Laufe des Tages zumindest Informationen über mögliche Kontobewegungen erhalten.“

Herbst nahm einen Schluck von seinem Kaffee bevor er fortfuhr.

„Wie sieht es mit Kaiser aus?“ fragte er dann.

Weber war seit Chiaras Feierabend nicht untätig gewesen:

„Ich habe den Vorführbericht fertig. Frau Fähr hat den Antrag auf U-Haft erwartungsgemäß gestellt. Ich habe vorhin schon mit ihr telefoniert. Sobald der zuständige Richter da ist, erfahre ich den Termin für die Vorführung.“

„Gut“, sagte Herbst.

„Was ist mit dem Mädchen?“

„Chiara will sie am späten Nachmittag vernehmen.“

Herbst stand auf und stellte sich ans Fenster.

„Was passiert jetzt mit Krüger?“ fragte er dann, ohne sich umzudrehen.

„Ich habe mit Fähr heute früh kurz darüber gesprochen“, antwortete Weber.

„Er hat uns die richtigen Namen geliefert, daran besteht nun mal kein Zweifel. Deshalb ist sie geneigt, sich auf den Deal einzulassen, will aber erstmal noch darüber nachdenken, bevor sie sich endgültig entscheidet. Bis zum Ende der Woche.“

Herbst drehte sich mit einem Seufzen um und sah Weber an.

„Ich habe ein Problem damit, dass dieses Arschloch von Krüger mit einem Deal davonkommt. Dieser Mistkerl hat so viel Leid mit seinem Handel verbreitet, dass er für immer weggesperrt gehört. Wie sollen wir den Opfern jemals klarmachen, dass er vielleicht schon bald wieder rauskommt? Was wird die Presse dazu sagen? Die Kollegen?“

„Immerhin können wir dadurch noch mehr Täter in Haft bringen, die sonst ungeschoren davonkommen würden. Und wir haben die Chance, die Kinder zu befreien.“

„Wenn die anderen Kunden von Renner und Krüger von den Verhaftungen heute erfahren, werden sie kalte Füße bekommen und die Kinder wegschaffen. Und du weißt, was das bedeutet, “ stammelte Herbst mit dünner Stimme.

„Aber das haben sie eventuell nach der Festnahme von Renner und Krüger eh schon getan“, fuhr Weber fort.

„Und sie könnten straffrei davonkommen, wenn uns Krüger die Namen nicht liefert und wir den Code für die Liste nicht knacken können.“

Herbst drehte sich wieder zum Fenster um.

Nach einem kurzen Moment sagte er:

„Du hast recht. Trotzdem ist es ein Scheißgefühl.“

Weber fiel darauf keine Erwiderung ein. Nachdem er das Büro verlassen hatte, lehnte Herbst seinen Kopf gegen die Fensterscheibe und blieb regungslos stehen. So lange, bis sein Telefon klingelte.

21:30 Uhr

Weber lümmelte zu Hause auf dem Sofa rum und schaute sich einen Krimi in seinem favorisierten Sender ZDF neo an. Doch von der Handlung bekam er nichts mit, seine Gedanken kreisten um diesen Arbeitstag. Die Vorführung hatte am Mittag stattgefunden und Kaiser war in U-Haft gegangen.

Beim Termin hatte er auf Geheiß seines Anwaltes eisern geschwiegen. Danach aktualisierten Weber und Chiara die Akten und bereiteten die Vernehmung des Mädchens vor. Und noch immer gab es keine neuen Erkenntnisse, Welle und Leipnitz blieben verschwunden. Auf den Bankkonten tat sich weiterhin nichts. Leipnitz erwies sich als nicht unvermögend. Er arbeitete als Abteilungsleiter bei einer großen Küchenfirma in der Nähe von Herford und verfügte über ein sattes Einkommen.

Das Haus, in dem er wohnte, gehörte ebenfalls ihm, geerbt von seinen Eltern. Unverheiratet, keine Kinder, seine Ausgaben schienen gering zu sein, die Auszüge belegten das. Leipnitz einziger Luxus schienen Urlaubsreisen zu sein. Abbuchungen dazu erfolgten alle von einem Reisebüro in der Bielefelder Innenstadt. Aktuell aber war nichts terminiert worden, den nächsten Urlaub wollte der Gesuchte offenbar erst zum Jahreswechsel genießen, eine Reise nach Thailand, drei Wochen für eine Person. Offenbar, so plauderte die Mitarbeiterin des Reisebüros bereitwillig aus, hatte das Tradition seit Jahren ebenso wie Reisen nach Indonesien im Frühjahr. Trotz der beiden jährlichen Ferntouren verfügte Leipnitz zusätzlich zu seinem prallen Konto noch über zwei Sparbücher mit jeweils 10.000 Euro, beide seit längerem schon unangetastet. Einen Sparvertrag über 150.000 Euro, von seinem Vater vor langer Zeit angelegt, hatte er vor einem halben Jahr aufgelöst. Weber konnte sich in etwa vorstellen, was mit diesem Geld geschehen war.

Die Vernehmung von Hadia hatte Chiara nach einer Stunde abgebrochen. Das Mädchen war nach wie vor so durcheinander, dass sie kaum etwas Geordnetes berichten konnte. Ihr sollten nun zwei Tage Pause gegönnt werden. Die Kleine war wohl mit ihren Eltern und zwei Geschwistern aus Afghanistan geflüchtet. In Nordafrika fanden sie Platz auf einem Boot, das sie nach Europa bringen sollte. Doch in einem schweren Sturm kenterte es, Hadia war von einem anderen Schiff aus gerettet worden. Was mit ihrer Familie geschah, wusste sie nicht. Von Italien aus war sie irgendwie nach Deutschland gelangt, an der Stelle machte das Mädchen in der Vernehmung dicht. Zu Leipnitz konnte sie nicht mehr befragt werden.

Weber kam früh genug nach Hause, um noch kurz mit den Kindern zu sprechen, ehe sie ins Bett mussten. Leon, der ihn sofort bestürmt hatte, bombardierte Weber mit Vorlesebüchern. Für eine kleine Geschichte um Bob der Baumeister reichte es gerade noch, dann schlief der Kleine ein. Danach setzte er sich aufs Sofa und schaute einen Krimi im Fernsehen. Gerade als die beiden Fernsehkriminalisten den Mörder gefunden hatten, spazierte Yuna ins Wohnzimmer, stellte sich vor den Bildschirm und rubbelte die frisch geduschten Haare. Während Weber versuchte, einen Blick irgendwie auf das bevorstehende Filmende zu werfen, sagte Yuna:

„Saki kommt nächste Woche zu Besuch.“

Weber, der nun doch noch von der Handlung gefesselt worden war, nahm das erst gar nicht wahr, staunte dann aber:

„Sie kommt hier hin?“

„Ja, das machen die Leute im Allgemeinen, wenn sie uns besuchen“, konterte Yuna mit reichlich Sarkasmus in der Stimme und setzte sich zu Weber aufs Sofa.

„Wann genau kommt sie?“

„Wenn alles gut geht am Montag“, antwortete Yuna.

„Und sie kommt nicht alleine“, grinste sie.

Weber zog fragend die Stirn kraus.

„Sie bringt ihren neuen Freund mit“, ergänzte seine Frau zufrieden.

Jetzt machte Weber ein überraschtes Gesicht.

„Seit wann hat sie den denn?“ wurde er jetzt doch neugierig.

„Sie kennt ihn seit etwa einem halben Jahr. Er hat einen Bekannten in dem Krankenhaus besucht, in dem Saki arbeitet, hat sich auf den ersten Blick in sie verguckt und tauchte fortan täglich in der Klinik auf. Noch bevor sein Bekannter entlassen wurde, lud er Saki zum Essen ein. Danach waren sie zum Kaffeetrinken und im Kino und seitdem sind sie zusammen.“

„Wusstest du das schon früher?“ fragte Weber, der immer noch überrascht war. Saki hatte in ihrem Leben selten Glück mit ihren Freunden gehabt und deshalb hatte Weber nach ihrer letzten herben Enttäuschung gedacht, dass sie seitdem endgültig von Männern die Schnauze voll hatte.

„Sie hatte es vor einiger Zeit mal angedeutet, aber nichts Konkretes gesagt. Ich bin auch etwas überrascht und hoffe, dass sie diesmal mehr Glück hat.“

„Schauen wir mal, was sie sich dieses Mal für einen Kerl angelacht hat“, sagte Weber.

„Bin auch gespannt. Ich gehe ins Bett, “ erwiderte Yuna dann und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen.

„Bin total müde.“

Sie gab Weber einen Kuss auf den Mund und stand auf. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich in bester Colombo Manier nochmal zu ihm um.

„Das hätte ich ja fast vergessen. Nachdem ich mit Saki telefoniert hatte, habe ich die Post aus dem Briefkasten geholt. Da war neben Werbung auch eine Postkarte drin.

Die Karte war ohne Briefmarke, also muss jemand sie so eingeworfen haben. Komisch fand ich das Motiv. Hatte ja gerade mit Saki in Wien telefoniert und auf der Postkarte war ein Bild von der Wiener Oper.“

22:35 Uhr

Weber stand vor dem Haus und nahm einen tiefen Zug von seinem Zigarillo. Längst hatte er zwar mit dem Rauchen aufgehört, aber im Handschuhfach seines Autos lagen immer eine Packung und ein Feuerzeug für stressige Momente. Und jetzt war garantiert so einer. Sein Körper gierte nach Nikotin.

Weber hatte nur mit erheblicher Mühe verhindern können, dass sich die Angst, die er nach Yunas Mitteilung empfunden hatte, auf seinem Gesicht widerspiegelte. Aber nachdem sie das Wohnzimmer verlassen hatte, schlug er die Hände vors Gesicht und blieb einige Minuten sitzen, bis er sich einigermaßen gefangen hatte. Dann war er in die Küche gegangen, wo Yuna die Karte auf die Arbeitsplatte neben der Kaffeemaschine gelegt hatte.

Wie sie schon gesagt hatte, zeigte die Postkarte ein Bild der Wiener Oper. Wie bei den anderen Karten gab es keinen Text. Er nahm die Karte mit nach draußen und ging zu seinem Auto, um die Zigarillos zu holen. Wer zum Teufel war der Typ und was wollte er von ihm? Warum nahm er nicht direkt Kontakt auf? Solange die Postkarten zu ihm ins Büro gekommen waren, war ihm die Angelegenheit nicht so nah gegangen. Aber jetzt?

Weber hatte eine diffuse Ahnung, worauf das hinauslaufen könnte. Was hatte die neue Entwicklung zu bedeuten? War seine Familie jetzt in Gefahr?

Er drückte den Zigarillo mit der Schuhspitze aus und fasste einen Entschluss - er musste etwas unternehmen, bevor der Unbekannte noch einen Schritt weiter ging. Weber wandte sich zur Haustür und machte zwei Schritte darauf zu, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Ganz langsam drehte er sich um und hätte vor Schreck fast laut aufgeschrien, als er in fünf Metern Entfernung einen schwarzen Retriever auf der Straße sitzen sah.

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