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Mittwoch, 14.10.2014; 08:05 Uhr

Peter „Pete“ Schönherr sah auf seine Armbanduhr.

Noch 10 Minuten bis zum Zugriff.

In Gedanken ging er den Einsatz erneut durch und suchte zum wiederholten Male nach Schwachstellen, fand jedoch keine. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl in ihm zurück. Vor zwei Monaten hatte er einen Einsatz geleitet, bei dem ein Kripobeamter angeschossen und schwer verletzt worden war. Schönherr und seine Leute hatten den Auftrag gehabt einen Bauernhof zu stürmen, in dem sich Kinder und Jugendliche aufhielten, die an Pädophile verkauft werden sollten. Da nicht bekannt war, wie viele Täter sich ebenfalls in dem Bauernhaus befinden würden, zog man zahlreiche Kräfte zu dem Einsatz heran.

Die Stürmung des Hauses war seinerzeit ohne Probleme abgelaufen und eine ganze Reihe Personen konnten verhaftet werden. Dabei hatten die Einsatzkräfte allerdings einen Täter übersehen, der von den Kollegen der Kripo aufgespürt wurde und sofort das Feuer eröffnet hatte. Ein Beamter erlitt dabei schwere Schussverletzungen im Oberkörper und konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden. Schönherr fiel ein, dass er sich schon seit längerer Zeit nicht mehr nach dem Zustand des Kollegen erkundigt hatte.

Er wusste, dass dieser die Operation überlebt hatte und ins künstliche Koma versetzt worden war. Deshalb nahm er sich vor, sich nach diesem Einsatz über dessen Gesundheitszustand zu informieren. Der Täter war von einem anderen Kripobeamten erschossen worden.

Schönherr und die vier Kollegen, die den Dachboden kontrolliert und dabei den Täter übersehen hatten, waren zwei Tage nach dem Einsatz suspendiert worden. In der entsprechenden gründlichen Untersuchung waren ihnen keine Fehler nachzuweisen. Und so konnten alle wieder ihren Dienst antreten.

Warum der Schütze übersehen worden war, blieb ungeklärt.

Der heutige Einsatz war Schönherrs erster, nachdem seine Suspendierung aufgehoben worden war. Deshalb war er nervöser als sonst. Auch seine beiden entlasteten Kollegen waren an dem Einsatz beteiligt. Der war nicht so groß wie jener auf dem Bauernhof, entsprechend weniger Kräfte waren vor Ort. Ein Einfamilienhaus im Bielefelder Süden stand im Fokus.

Schönherr wusste, dass in dem Gebäude eine Familie mit drei Kindern wohnte. Der Mann arbeitete als Psychologe und hatte seine Praxis im Haus. Die Kinder waren mit der Mutter auf dem Weg zur Schule. Anschließend würde sie selber zur ihrer Arbeitsstelle als Rechtsanwältin fahren. Das Zielobjekt war der Mann, der sich nun allein im Haus befand.

Der Anlass des Einsatzes allerdings war der Gleiche, wie seinerzeit auf dem Bauernhof. Und der Kollege von der Kripo, der den Fall bearbeitete, war derjenige, der in dem Bauernhaus den einen Täter erschossen hatte. Schönherr sah noch einmal auf die Uhr, dann schaute er zu Kriminalhauptkommissar Marc-Andre „Brett“ Weber hinüber und nickte ihm zu. Der Einsatz konnte starten. Schönherr gab den Befehl an sein Team weiter.

11:25 Uhr

Marc-Andre Weber von der Kripo Bielefeld saß in seinem neuen Büro in der Abteilung 1 der Kriminalpolizei des Polizeipräsidiums OWL und sah auf den Mann, der neben seinem Schreibtisch auf dem Besucherstuhl hockte.

An dem anderen Schreibtisch im Büro saß Chiara Bültmann, mit der sich Weber den Raum teilte.

„Also bleiben sie dabei“, fragte Weber den Mann, „dass sie hier keine Aussage machen wollen?“

„Ich möchte zuerst mit meinem Anwalt sprechen“, entgegnete dieser.

„Soll ich ihre Frau anrufen?“ konnte Weber sich nicht verkneifen zu fragen.

Der Mann schaute ihn wütend an.

„Herr Archer, welchen Anwalt sollen wir für sie anrufen?“, hakte Weber nach.

„Herrn Buck“, antwortete Archer kurz angebunden.

„Friedhelm Buck?“ fragte Weber nach.

Archer nickte.

„Ok“, sagte Weber.

„Ich werde für sie wählen, dann können sie mit ihm sprechen.

Aber sie sollten es sich nochmal genau überlegen, ob sie nicht jetzt und hier ihr Gewissen erleichtern wollen“, versuchte der Kripobeamte letztmalig, sein Gegenüber umzustimmen und zu einer Aussage zu bewegen.

Archer war am Vormittag vom SEK festgenommen worden, da er im Verdacht stand, einen 12-jährigen unbegleiteten Flüchtling „gekauft“ zu haben.

„Wo ist der Junge, Archer?“ fragte Weber und spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte.

Bis jetzt hatte er sich beherrschen können, aber je länger er diesem miesen Schwein gegenüber saß, desto schwerer fiel es ihm.

„Machen sie es nicht noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Sagen sie uns wo der Junge ist und ich werde sehen, ob ich etwas für sie tun kann.“

Bei den letzten Worten wurde Weber fast schlecht als er sie aussprach. Natürlich würde er sich für den Kerl nicht einsetzen. Er war froh, wenn Archer im Gefängnis saß und dort auf Typen traf, die wussten wie man mit perversen Schweinen umging.

„Sie kommen aus der Nummer eh nicht raus. Die Beweise, die gegen sie vorliegen sind eindeutig. Sie wandern in den Knast, da führt kein Weg dran vorbei und auch ihr Anwalt wird ihnen da nicht helfen können. Also sagen sie, was sie wissen und sie werden im Gefängnis in eine Einzelzelle kommen.“

Bei den Worten sah Archer auf, der den Blick bis jetzt starr auf den Boden gerichtet hatte. Ihm schien mit einem Mal bewusst zu sein, was mit ihm passieren könnte, wenn er eingesperrt würde.

Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Hände fingen an zu zittern.

„Es gibt einige Jungs im Knast, die sich schon darauf freuen, jemanden wie sie kennenzulernen“, setzte Chiara ergänzend hinzu.

Weber musste innerlich grinsen. Seine Kollegin war eine zierliche junge Frau von 28 Jahren und eine solche verbale Gemeinheit traute man ihr nicht zu. Gerade deswegen aber freute sich Weber, dass er mit ihr bei den Ermittlungen zusammen arbeiten durfte.

„Die schweren Jungs werden sie herzlich begrüßen und sich dann ganz intensiv um sie kümmern“, machte Chiara weiter.

„So wie sie sich um den Jungen gekümmert haben“, setzte sie leise hinzu.

Archer liefen nun Tränen über die Wangen. Weber hasste diese Typen, die auf der einen Seite Kinder missbrauchten, auf der anderen aber hier saßen und heulten.

„Wir haben ein Wochenendhaus im Harz“, sagte Archer endlich.

Er nannte ihnen den Ort und die Adresse. Chiara griff sofort zum Telefon und gab die Infos an den Leiter der A 1 weiter. Oskar Schwarzbach versprach, sich ohne Zögern um die Befreiung des Jungen zu kümmern.

„Es tut mir so leid“, begann Archer nun zu wimmern.

Nicht das jetzt, dachte Weber.

„Halten sie die Fresse“, fuhr er ihn an.

„Sie kotzen mich an. Ruf seinen Anwalt an, “ sagte Weber zu Chiara. Dann stand er auf und verließ das Büro.

Er brauchte frische Luft.

13:55 Uhr

Weber legte den Telefonhörer auf die Gabel und sah zu Chiara herüber.

„Sie haben den Jungen gefunden“, sagte er.

„Das war der Kollege aus Niedersachsen, der den Einsatz geleitet hat. Das Kind war im Keller des Hauses eingesperrt. Zudem hatte es eine Kette am Bein, die an einem Haken im Boden verankert war. Die Kette sei so lang gewesen, dass er alles habe erreichen können. Er hatte dort unten was zu essen und zu trinken und ein kleines Bad. Außerdem gab es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und ein Regal mit Büchern. Übrigens alle in deutscher Sprache. Ich weiß gar nicht, ob der Junge da was mit anfangen konnte. Nach den ersten Untersuchungen durch den Notarzt scheint er wenigstens körperlich soweit fit zu sein. Genauere Untersuchungen werden in der Kinderklinik in Osnabrück gemacht, in die er gerade gebracht wird.“

„Was wird weiter mit dem Jungen geschehen?“ fragte Chiara.

„Das Gleiche wie mit den anderen Jungen auch, die wir bis jetzt befreien konnten. Wenn sie gesund sind, werden sie aus dem Krankenhaus entlassen und dem Jugendamt übergeben. Dann werden sie wohl wieder in einem Heim landen.

Aber diesmal in einem richtigen.“

Weber fragte sich, während er das sagte, allerdings, ob die Jugendlichen nach den gemachten Erfahrungen je wieder unbeschwert in einem Heim leben konnten, soweit das für Flüchtlingskinder überhaupt möglich war. Von einer Vermittlung in eine Pflegefamilie ganz zu schweigen.

Seit etwas über einem Monat gab es jetzt die EK Eckendorf in der Weber zusammen mit Chiara arbeitete. Sie war das Ergebnis eines anderen Falles, an dem Weber und Chiara zuvor gearbeitet hatten. Dabei war es um einen Mord an einem Kfz-Händler aus Bielefeld gegangen.

Im Rahmen der Ermittlungen waren Verbindungen zwischen dem Toten und dem Chef eines großen Unternehmens bekannt geworden. Es hatte sich herausgestellt, dass der Tote in den Handel mit Pkw verstrickt war, die in Deutschland als Totalschaden geführt, in Polen für wenig Geld aufbereitet und dann wieder in Deutschland als unfallfreie Gebrauchtwagen verkauft wurden.

Der Transport der Fahrzeuge von Polen nach Deutschland war zudem für den Schmuggel von Drogen im großen Umfang genutzt worden. Das Opfer hatte sich jedoch einen Teil einer Lieferung Drogen unter den Nagel gerissen und als dies bekannt geworden war, hatte ihn der Unternehmer ermorden lassen. Die schmutzigen Geschäfte des Unternehmers waren nach und nach ans Licht gekommen. Dazu gehörte auch der „Handel“ mit unbegleiteten Flüchtlingskindern.

Dieser Unternehmer, Georg Renner, hatte zusammen mit einem Geschäftspartner mehrere Heime für Flüchtlingskinder eröffnet und zahlreiche Mädchen und Jungen aufgenommen. Dann hatten sie die Kinder und Jugendlichen an Pädophile verkauft. Einer von Renners Leuten war damit nicht einverstanden gewesen und hatte heimlich sämtliche Daten zu den „Käufern“ von Renners Laptops auf einen USB-Stick überspielt. Er hatte gehofft, so sich und seine Freundin vor Renner schützen zu können. Was aber nicht gelungen war. Sowohl er als auch seine Freundin wurden in der Folge ermordet.

Die Frau hatte den Stick vor ihrer Ermordung noch bei ihren Eltern verstecken können. Diese wohnten in der Ukraine. Weber hatte sich mit einem Kollegen auf den Weg dorthin gemacht und die Daten abgeholt. Mit genau diesen Informationen war es dann letztendlich gelungen, Renner und einen Teil seiner sogenannten Geschäftspartner zu verhaften.

Die Ermittlung der „Kunden“ erwies sich als sehr schwierig. Zwar ließ sich anhand der aufgefundenen Daten sehr gut nachvollziehen, wann welche „Geschäfte“ abgeschlossen worden waren. Fast alle weiteren Infos aber hatten die Verbrecher gut verschlüsselt. Bis jetzt war es den IT-Experten nur gelungen, drei Kunden zu ermitteln. Und das auch nur, weil deren Daten, aus welchem Grund auch immer, nicht verschlüsselt worden waren. Es wurde mit Hochdruck weiter gearbeitet, und es waren sogar Experten vom LKA und BKA mit der Entschlüsselung beauftragt worden.

Aber es gab eine Vielzahl an Computern, Tabletts und anderen Speichermedien, die sichergestellt worden waren, so dass noch nicht alle hatten ausgewertet werden können. Man hoffte allgemein, dass sich auch auf einem dieser Speichermedien der Entschlüsselungscode befand - und nicht nur in Renners Kopf. Denn dass Renner der Polizei helfen würde, um möglicherweise eine Hafterleichterung zu erhalten, war absolut nicht zu erwarten. Einer der „unverschlüsselten Käufer“, war Klaus-Otto Archer gewesen.

Einen anderen hatten sie letzte Woche verhaften können, die Festnahme eines weiteren wurde gerade vorbereitet. Der, den man letzte Woche verhaftet hatte, hatte ebenfalls einen Jungen „gekauft“, der mit ihm in seinem Haus, eingesperrt in einem Zimmer, „gelebt“ hatte. Ärztliche Untersuchungen hatten ergeben, dass das Kind während dieser Gefangenschaft wiederholt geschlagen und sexuell missbraucht worden war. Der Täter hatte sich im Gegensatz zu Archer bei der Verhaftung gewehrt, was ihm nicht so gut bekommen war.

Er würde wahrscheinlich am Ende der Woche aus dem Krankenhaus entlassen und dann in Untersuchungshaft gebracht werden. Weber hoffte nur, dass sich der polizeiliche Aufwand auch lohnte und die Täter angemessen bestraft würden, ohne dass eine schwere Kindheit, oder ein eigener Missbrauch als Ausrede geltend gemacht und anerkannt werden könnten. Zuviel Leid war im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu Tage gekommen.

Dabei musste er automatisch an seinen Kollegen Laschek denken. Weber und Laschek hatten sich im Rahmen der Ermittlungen zum Fall Renner kennengelernt. Sie waren ein Team gewesen und hatten sich sehr gut verstanden. Laschek, der in einem Haus im Bielefelder Rotlichtviertel wohnte, war bei der Befreiung eines Heims angeschossen und schwer verletzt worden. Er hatte mehrere Schüsse in den Oberkörper abbekommen. Eine Kugel war nahe der Wirbelsäule in den Körper eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass Webers Kollege querschnittsgelähmt bleiben würde und wohl den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen musste. Laschek hatte nach der Not-OP drei Wochen im künstlichen Koma gelegen, bevor sich sein Zustand soweit verbessert hatte, dass ihn die Ärzte wieder aufwecken konnten. Mittlerweile war er aus dem Krankenhaus entlassen worden und befand sich zu einer Reha in Bad Oeynhausen. Weber nahm sich vor ihn zeitnah zu besuchen und ihm von ihrem neuen Erfolg zu berichten.

Er tippte seinen Bericht zu Ende und wandte sich dann an Chiara.

„Ok“, sagte er dann zu ihr.

„Zwei hätten wir jetzt.“

Weber hatte herausgefunden, dass ein Großteil der Kunden von Renners Geschäftspartner „Freddy“ Krüger vermittelt worden waren. Krüger saß ebenfalls in U-Haft und wartete auf seinen Prozess. Urs Fischer, einer von Renners engsten Mitarbeitern, war immer noch auf der Flucht und wurde per internationalem Haftbefehl gesucht.

Die Presse hatte sich aasgeierartig auf den Fall gestürzt. Er war wochenlang der Aufhänger der örtlichen, aber auch der überörtlichen Medien aller Art gewesen. Olaf Herbst, der die Ermittlungen geleitet hatte, war von einer Pressekonferenz zur nächsten geeilt. Weber war noch immer froh, dass er damit nichts zu tun hatte. Die Einrichtung der EK war geheim gehalten worden. Man hatte der Presse lediglich gesagt, dass die Geschäfte von Renner und Krüger so weit wie möglich aufgeklärt werden würden. Dass den Ermittlern dabei zahlreiche Unterlagen in die Hände gefallen waren, wurde nicht gesagt.

Allerdings reichte die Verhaftung von Renner und Krüger möglicherweise bei einigen ihrer Kunden schon aus, um diese in Panik zu versetzen und Maßnahmen zu treffen, um ihre Beteiligung zu verwischen. Weber hoffte inständig, dass sich Renners Kunden nicht zu überstürzten Handlungen gegen die Kinder und Jugendlichen verleiten ließen. Außerdem war noch ein weiterer von Renners engsten Vertrauten, Peter Craig, auf der Flucht. Auch er konnte durchaus andere gewarnt haben.

Craig hatte sich vor den Verhaftungen abgesetzt und war untergetaucht. Trotz intensiver Fahndungen, konnte er bis jetzt nicht aufgespürt werden. Allgemein wurde vermutet, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Derzeit wurde versucht ausländische Konten aufzuspüren, die von ihm angelegt worden waren, um Geld zu verschieben.

Doch bis jetzt ohne Erfolg.

16:30 Uhr

Weber belohnte sich für die erfolgreiche Festnahme Archers mit einem ausnahmsweise pünktlichen Feierabend. Schon um halb vier setzte er sich auf sein Rennrad und startete durch. Das Wetter war noch gut und er freute sich über die Bewegung nach einem Nachmittag vor dem PC.

Als er zu Hause ankam sah er gerade noch, wie seine Frau mit den Kindern im Auto wegfuhr. Na prima, dachte er. Soviel zu einem schönen Nachmittag mit der Familie. Als er sein Rad in die Garage schob fiel ihm ein, dass sein Sohn Yannik heute Basketballtraining hatte. Dahin waren sie also unterwegs.

„Hätte ich mal vorher angerufen“, dachte Weber.

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