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Der Auftrag Suäl Graals
ОглавлениеRahon tobte.
Die Bewohner Zargos blickten betreten auf die leere, runde Kammer des Engerle, in dem sie nun einen reumütigen Tek zu finden erhofften.
Ein kleiner Grabenmacher drängte sich durch die Menge – seine Kleidung und Haare waren verschmutzt mit Sand und Staub. „Der Tunnel verdrängt das Allsein bis dort drüben vor dem Grenzwall!“, rief er aufgeregt, noch bevor er Rahon, der offenbar das Ziel seines Drängens war, endlich erreichte. Sein Arm wies in die entsprechende Richtung.
Rahon war verstummt, als er den Jungen kommen sah, und nickte nun mit finsterer Miene. „So verdrängt es das Allsein!“, sagte er, und blickte angestrengt überlegend zum Himmel. Plötzlich machte er ein paar Schritte auf die schwere, hölzerne Tür der Kammer zu, und warf sie wütend in das Schloss. „Der junge Tek hat den Ort und seinen Stamm verraten. Er verdrängt nun nicht mehr das Allsein als ,Tek, der Dompteur, vom Stamme der Grabenmacher!“ Er holte tief Luft. „Er gehört nicht mehr zu uns!“, schrie er erbost in die Menge, was von denen mit einem tiefen Brummen und zustimmenden Nicken bestätigt wurde. „Geht in eure Reviere, und sammelt die Pfeile, Bögen, und sonstigen Besonderen Apparate. Schon morgen werden wir den Pfad bemessen gegen Luegra, der Oase der Langen Schatten. Tek kennt unseren Plan und wird sie warnen. Wir müssen die Eroberung vom Allsein verdrängen, bevor ihre Zeit genügend Raum bietet, sich auf uns vorbereiten zu können!“
Sofort stob die Menge in alle Richtungen auseinander. Nur der kleine Grabenmacher, der den Tunnel erkundet hatte, blieb zurück. Mit leuchtenden Augen schaute er zu Rahon hoch. „Darf ich dabei sein, wenn wir Luegra als einen Ort der Grabenmacher vom Allsein verdrängen?!“
Rahon schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Nein Kleiner. Du verdrängst noch nicht genügend Zeit und Raum vom Allsein. Es wird schwer werden ohne die Unterstützung deiner Bemessungen, aber wir werden es noch einmal ohne dich vom Allsein verdrängen müssen!“, fügte er tröstend hinzu.
Der Kleine nickte verständig und ernst. „Dann werde ich den Tunnel wieder dem Allsein zuführen, den Tek bemessen hat, damit nicht noch einmal jemand aus dem Engerle entfliehen kann.
„Wenn du dies vom Allsein verdrängen würdest, wäre darin eine große Hilfe für mich entschieden – denn sonst müsste ich es womöglich selber tun, und könnte dann nicht zur rechten Zeit unseren Stamm gegen Luegra führen!" Rahon war wohl zurecht der Anführer von Zargo. Er verstand es sehr gut, mit seiner Gefolgschaft umzugehen.
Der Kleine zog stolz seinen ebenso kleinen Spaten von der Schulter, den jeder Grabenmacher wie einen Teil seines eigenen Körpers ganz selbstverständlich mit sich trug. „Mach dir keine Sorgen!“, sagte er, und klopfte dabei Rahon beruhigend auf den Oberarm – bis an seine Schulter reichte er eben noch nicht. „Ich mach das schon!“ Und schon war er weg.
Rahon wollte sich gerade auch auf den Weg in sein Revier machen, als er die kleine Gruppe von Grabenmachern bemerkte, die geradewegs auf ihn zukam. Sie stritten scheinbar miteinander, und einer von ihnen stieß immer wieder die anderen von sich, wenn sie ihm zu nahe kamen. Rahon erkannte in ihm den alten Kasid, einen der ältesten Grabenmacher dieses Ortes. Er lag schon seit einigen Tagen im Sterben, und war eigentlich lange schon viel zu schwach, sein Revier zu verlassen.
Ungläubig blickte Rahon auf die sich ihm nähernde Gruppe, und fixierte den Alten misstrauisch, als die Gruppe ihn endlich erreicht hatte. Irgend etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. „An dir verdrängt kein Spaten das Allsein, Kasid!“, sagte er zu dem Alten – eher, um überhaupt irgend etwas zu sagen. Denn der Alte schien alles andere als schwach und sterbend, und schaute ihn vielmehr mit durchdringenden Augen an.
„Kasid braucht seinen Spaten nicht mehr!“, antwortete dieser, ohne seinen durchdringenden Blick von Rahon zu lassen. „Du bist Rahon, der Führer dieses Ortes, und du bist der, dessen Wort zählt in Zargo – einem jener wenigen Orte in der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms, in denen die Wasser noch nicht gänzlich versunken sind!“
Rahon zögerte einen Moment. Es waren nicht die Worte, die ein Grabenmacher sprach. „Du solltest es bemessen können!“, antwortete er ausweichend. „Aber ich frage mich, ob sich in dir Kasid vom Allsein verdrängt. Ich kenne Kasid, doch du ...!“
„Kasid ist nicht mehr in eurer Zeit!“, unterbrach ihn der Alte mit fester Stimme. „Ich nutze nur das Nachleuchten seines verlassenen Ortes, um an dem deinen zu sein!“
Rahons Brauen zuckten nach oben, als sich seine Augen weit öffneten. Er hatte eine böse Ahnung, die ihm im selben Augenblick als Gewissheit erschien. Es woben sich viele Legenden um die Fähigkeiten eines Dompteur – diese war ihm fremd, doch es konnte nicht anders sein ... „Du bist Tek, der Dompteur, der die schwäche Kasids nutzt, um in ihm statt seiner das Allsein an diesem Ort zu verdrängen!“ Während er dies ausrief, hatte er bereits seine Lanze erhoben und sie mit aller Wucht gegen den Alten geschleudert. Der kurze Flug der Lanze musste nur wenige Schritte überwinden, bevor die Gewalt des Wurfes den gespitzten Stab tief in den Körper des Alten trieb.
Das Abbild Kasids zeigte keinerlei Reaktion, und starrte mit seinem durchdringenden Blick weiter in Rahons Augen – und wie von Geisterhand geführt, verließ die Lanze langsam den Körper des Alten auf dem selben Wege, wie sie in ihn eingedrungen war. Rahon und die Gruppe, die Kasid begleitet hatte, erstarrte.
Als der Stab den Körper gänzlich verlassen hatte, begann er sich zu drehen, und richtete seine Spitze gegen Rahon. Unfähig sich zu rühren, sah er, wie sich die Lanze in Augenhöhe langsam auf ihn zu bewegte, bis die scharfe Spitze direkt zwischen seinen Augen zum stehen kam – gerade, dass sie seine Nasenwurzel berührte. Rahon schloss die Augen. Er war nicht fähig irgend etwas zu tun.
Der Druck der Spitze ließ plötzlich nach, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie sich das hintere Ende des Lanzenschaftes langsam nach oben bewegte, bis sie gänzlich senkrecht stand. Mit einem Zischen stieß sie nach unten und bohrte sich zwischen seinen Sandalen tief in den Boden ...
„Du solltest nicht meine Macht herausfordern!“, sagte die Stimme des Alten. „In dir ist nur eine Zeit, in der du das Allsein verdrängst, weil ich so entschieden habe. Ich kann auch anders entschieden sein! Es ist Deine Unwissenheit, die meinen aufkommenden Zorn beschwichtigt. So will ich in dir vom Allsein trennen: Ich bin kein kleiner Dompteur eures Volkes, den ihr als Tek vom Allsein verdrängt!“
Rahon spürte, wie die Erstarrung von seinem Körper wich, und er seine Glieder wieder zu bewegen in der Lage war. „Wer bist du dann?!“, quetschte er angestrengt aus seiner noch nicht ganz befreiten Kehle hervor.
„Ich bin die Ursache, und ich bin die Wirkung!“, tönte es aus dem Munde Kasids, und seine ohnehin dunkle Stimme klang plötzlich, als hätte sie sich verdoppelt. „Ich bin der Schatten, der das Licht spiegelt. Ich bin wider dem Allsein – Suäl Graal, Hüterin der Großen Tore der Großen Wasser, und Herrscherin, über alles was da war, ist, und sein wird!“
Rahon spürte, wie sich seine Haut eng um ihn zusammenzog. Bleich sank er, wie alle anderen auch, langsam auf seine Knie. „Verzeih die Unbemessenheit meiner Verdrängung ...!“, stotterte er zutiefst erschrocken. „... ich konnte nicht ahnen ...!“
„So höre denn, was ich dir zu sagen habe!“, unterbrach ihn die durchdringende Stimme, die nun nichts mehr mit dem alten Kasid zu tun hatte. Auch seine Lippen bewegten sich nicht mehr, als er sprach – und seine Augen schienen über den knienden Rahon hinweg ins Unendliche zu schauen.
„Dies ist die Zeit der Entscheidung!“, sprach es.
„Das Untere Squatsch,
Herrscher über die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms,
Hat seine Untertanen,
Hat sein Volk,
Verraten.
Er hat Einlass gewährt,
In die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms,
Kishou,
Die da entschieden ist,
Die Große Ordnung Suäl Graals zu stören.
Kishou,
In sich tragend,
Die Macht aller vergangenen Dompteure,
In sich tragend,
Die Macht des Erkennens,
Doch auch in sich tragend,
Die Ohnmacht der Unerfahrenheit,
Und damit der Aufhaltsamkeit,
Ist entschieden,
Zu erfahren,
Und damit unaufhaltsam zu werden!“
Der Blick des Alten kehrte wieder zurück aus der Unendlichkeit, und bohrte sich erneut in die Augen Rahons. Auch seine Lippen bewegten sich nun wieder.
„So höre denn, was ich dir auftrage:
Du wirst Deinen Stamm zu einer Stätte führen, die ich dir benennen werde.
Dort wirst du zusammentreffen mit weiteren Stämmen der Grabenmacher, als auch der Stämme der Langen Schatten. Gemeinsam und unter deiner Führung solltet ihr die Kraft haben, das Wesen, das als Kishou erkannt werden will, und sich mit Macht vom Allsein trennt, zu vernichten und dem Allsein zuzuführen!“
Rahons Augenlider ruckten nach oben. Er sollte sich mit den Langen Schatten vereinigen ...? Der Blick Suäl Graals erstickte aber sogleich den Reflex des Widerspruchs.
„Doch damit nicht genug!“, setzte Suäl Graal in der Erscheinung Kasids fort. Die Macht Kishous ist groß. Zu groß, als das ihr es wagen solltet, ihr zu begegnen. So wird sich auch ein großes Heer der Korks bei euch einfinden, die ich nahe genug verstreut fand, um dem Verlangen meiner Entschiedenheit zur rechten Zeit beiwohnen zu können. Sie werden sich deinen Anweisungen unterwerfen, wie auch die Stämme der Langen Schatten, bis das die Entscheidung vollendet, und vollkommen entschieden vom Allsein verdrängt sein wird! Ihr aber haltet euch in gebührenden Abstand und mit gebundenen Augen gegenüber der, die als Kishou erkannt sein will, wie ihr es entscheidet, wenn ihr auf den Rjuchhu trefft. Von dort sollt ihr eure Pfeile zum Ort des Zieles führen – während das Heer der Korks deinem lautenden Befehl folgend, vordringt. All dies, was ich in dir nun vom Allsein getrennt, trenne ebenso vom Allsein in deinem Gefolge und auch in den Stämmen der Langen Schatten, und sie werden gehorchen!“
Die Ausführungen des Alten waren wohl zu Ende, und es entstand eine kleine Pause, bevor seine Stimme noch einmal nachfragte. „Ist da noch etwas, dass du wissen solltest?!“
Rahon biss sich auf die Lippen. „Du verlangst viel von mir und meinem Stamm. Die Langen Schatten ... .“
„Suäl Graal ,verlangt’ nicht, Suäl Graal ist entschieden!“, wurde er von der unheimlichen Stimme aus Kasids Körper barsch unterbrochen – sie kam wieder aus unbewegtem Munde.
Rahon schluckte, und senkte erschrocken seinen Blick. „Wo ist der Ort der Zusammenkunft, und wo verdrängen wir das Wesen vom Allsein, das als Kishou erkannt sein will?!“, fragte er sehr kleinlaut.
„Gut! – Das ist die Frage, die ich hören wollte, und die in mir vom Allsein trennt, dass du mich verstanden hast!“, antworteten die unbewegten Lippen Kasids. Ihr werdet euch zusammenfinden im Angesicht der verbotenen Stätte – im Schatten des vierten Winkels, welcher erscheint, wenn die Sonne die verbotene Stätte zu Gänze bemessen hat!
„Rahons Augen weiteten sich erschrocken „Die ,Verbotene Stätte’ ...?
„So soll es euch gestattet sein in der Zeit, die eure Tat an Raum bemisst!“, unterbrach ihn die Stimme sofort wieder. „Sucht und folgt der Fährte des Dompteurs. Dort, wo ihr seine Zeit bemisst, werdet ihr die anderen – und Kishou bemessen!“
Die Stimme verstummte. Die durchdringenden Augen des Alten fielen wieder durch Rahon hindurch, und begannen glasig zu werden. Langsam neigte sich der alte Körper steif nach hinten über seinen Schwerpunkt hinaus, um endlich wie ein gefällter Baum nach hinten umzukippen, und auf dem Boden aufzuschlagen. In den weit geöffneten Augen war kein Leben mehr zu erkennen. Der Körper war nur noch das Nachleuchten eines einstmaligen Wesens, das sich in einer Zeit des Ausglimmens mit dem Sande vereinigen würde – wie sich alle Zeit irgendwann mit der des Sandes vereint ...
Es dauerte noch einige Zeit, bis sich in Rahon und den Anderen wieder etwas regte.
Noch sichtlich benommen erhob er sich endlich und atmete einige Male tief durch. „In euch ist vom Allsein getrennt, wie Suäl Graal entschieden ist, und was nunmehr das Allsein verdrängen wird!“, sagte er, und man sah ihm an, dass es ihm nicht leicht fiel, diese unerwartete Entwicklung anzunehmen. Es war nicht dieses Wesen, das Suäl Graal ,Kishou’ nannte, dass in ihm Unmut und Besorgnis auslöste – er konnte die Bedrohung nicht einschätzen, die von ihm ausgehen sollte. Es war eher zum einen der Umstand, dass sie gegen das Untere Squatsch kämpfen sollten, dessen Untertan sie immerhin alle waren, und der sich niemals in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte – aber noch viel mehr die kaum ertragbare Vorstellung, sich mit den Langen Schatten verbünden zu müssen. Das hatte es nicht gegeben, seit die Wasser begannen zu versiegen, und der Kampf der Stämme um die verbliebenen Oasen ihren Anfang nahm. Jene Ära lag weit vor der Zeit Rahons, und inzwischen erinnerte sich niemand mehr an den ursprünglichen Anlass der Fehden unter den Stämmen, von denen nur noch diese zwei geblieben waren. Die fehlende Erinnerung war längst ersetzt durch einen allgemeinen Hass gegen ,die Fremden’, die nicht zum eigenen Stamm gehörten, und daher keinen Anspruch hatten auf die immer weniger werdenden Oasen.
„Geht – und verdrängt das eure vom Allsein! Ich werde den Stamm zusammenrufen, um das Unvermeidliche in ihnen vom Allsein zu trennen!“, sagte Rahon knirschend. „Wir werden mit der nächsten Sonne aufbrechen, um in ihrem Untergang die verbotene Stätte zu bemessen!“
Ohne weitere Worte ließ er die Gruppe stehen und verließ den Ort des Geschehens. Er ging in sein Revier, um das 'Lange Horn' zu blasen, dessen weitreichender Ton den Stamm aufrief, sich auf dem Versammlungsplatz Zargos einzufinden.
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