Читать книгу KISHOU II - Michael Kornas-Danisch - Страница 12
Entdeckungen
ОглавлениеMo hatte die Führung übernommen. Sie schritt voran, wie es jemand tut, der keinen Zweifel an der einzuschlagenden Richtung hat. Ab und zu verharrte sie einen Augenblick und schien in das weite Land hineinzuhorchen – machte dann zuweilen einen harten Schlenker und änderte die Richtung. Das war aber kein Ausdruck von Orientierungslosigkeit, sondern ihr Gespür für die Grenzen der Reviere, die hier die verschiedensten Wesen wohl für sich in Anspruch nahmen, und die respektiert werden wollten. Weitere böse Überraschungen, wie die mit den Knüppelhörnern, galt es möglichst zu vermeiden.
Es war ganz im Sinne Kishous, die sehr wohl Mos Verhalten verstand – wenn sie auch selbst nichts von dem bemerkte, was Mo immer wieder zu einer Korrektur der Richtung ihres Marsches veranlasste. Um so mehr versuchte sie ihre Augen möglichst überall gleichzeitig zu haben. Der Schrecken mit den Knüppelhörnern saß ihr noch tief in den Knochen, und sie hoffte sehr, dass ihnen eine Wiederholung erspart bliebe.
Es tauchten dennoch immer wieder einmal irgendwelche, oft seltsam anmutende Wesen auf, wie sie Kishou niemals zuvor gesehen hatte. Nur in den wenigsten Fällen schienen sie etwas mit den Tieren gemeinsam zu haben, die sie von ihrem großen Garten her kannte. Sie wäre oft gern stehengeblieben, um sie genauer zu betrachten, aber sie wagte es nicht, um nicht womöglich im gemeinsamen Marsch von der Gruppe zurückzufallen. Sie hielt sich eher möglichst in der Mitte des kleinen Trecks auf – und natürlich auch noch an der Seite Boorhs. Hinter ihnen watschelte das Untere Squatsch – hin und wieder leise vor sich hinschimpfend, wenn er mit seinen kurzen Beinen irgendein Hindernis nicht so ohne weiteres überwinden konnte.
Irgendwelche Geräusche waren immer zu hören. Entweder kamen sie von den zuweilen recht seltsamen Lauten der unzähligen Wesen, die dieses öde Land bewohnten, oder von brechenden kleinen Ästen der kahlen Bäume, die das Gewicht irgendeines Tieres nicht mehr zu tragen vermochten. Nicht zuletzt war da immer das Rascheln des trockenen, hohen Grases, das sie selbst oder irgendwelche Tiere verursachten, die in seinem Schutz verborgen die Steppe durchstrichen.
Die Landschaft mutete Kishou immer seltsamer an, je länger sie unterwegs waren. Es war ein sehr wildes Land – eigentlich zunächst ohne größere Besonderheiten – wenn man einmal davon absah, dass es im Gegensatz zum Ersten Drom nahezu sanft in seinen landschaftlichen Formen erschien.
Nur wenige hartkantige Felsen waren zu sehen, alles war eher abgerundet oder bestenfalls borstig – wie die Brust Boorhs, kam es Kishou einen Moment in den Sinn. Unzählige kleine Hügel und Täler – die mehr Senken als wirkliche Täler waren, sorgten für ein stetes auf und ab des Marsches. Aber das war nicht jeder Zeit ersichtlich, weil immer wieder ausgedehnte kahle Wälder und Baumgruppen die wechselnden Höhen für die Augen ausglichen. Die Bäume in den Senken wollten wohl einst der Sonne ebenso nahe kommen, wie diejenigen auf den Hügeln. Das, was die Landschaft letztlich wirklich seltsam erscheinen ließ, war, dass ihr bei aller Vielfalt jegliche Farben fehlten. Alles verlor sich in der Kontrastlosigkeit zwischen allen möglichen von zumeist hellen Brauntönen.
Wenn sie die Höhe eines Hügels überschritten, und dieser einigermaßen baumlos war, konnte Kishou in gehöriger Entfernung immer wieder diese schwarzgrauen Säulen erblicken, die sich verschiedentlich in den Himmel erhoben, und immer wieder ihre Verwunderung hervorriefen. Große, dunkle Berge schoben sie unablässig aus ihren Gipfeln hinaus.
„Boorh entscheidet: Es verdrängen sich viele Feuerberge in der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms!“, ließ Boorh sich entgegen seiner gewohnten Wortkargheit vernehmen. Er hatte wohl das Staunen Kishous über diese Erscheinungen aus ihren geweiteten Augen, und ihrem offenen Mund erraten, mit denen sie bei jeder Gelegenheit zu ihnen hinüber starrte. Oder vielleicht war er auch so wortselig, weil er es offenbar genoss, all das zu sehen. Er hatte immerhin wohl eine halbe Ewigkeit auf diesen Anblick seiner zweiten Heimat verzichten müssen.
„Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir Trautel Melanchful mal erzählt hat – da gab es viele rauchende Berge – manchmal kam auch Feuer aus ihnen raus. Sind das solche Berge?", fragte sie fasziniert.
„Boorh entscheidet: Wenn Kishou so entscheidet, so verdrängt es das Allsein!“
Mo war wieder einmal stehen geblieben und erspürte mit geschlossenen Augen die Gegend. Dieses Mal bedurfte es aber nicht des besonderen Gespür Mos, um zu erkennen, dass sie nicht alleine hier in der Gegend waren. Ein unüberhörbares Gezeter, schreiende Laute und das Krachen berstender Äste zeigte an, dass unweit vor ihnen offenbar ein heftiger Kampf entbrannt war.
Kishou schrak heftig zusammen, und drängte sich dicht an Boorh, der in dem selben Augenblick bereits seine Axt aus dem Schulterhalfter gezogen hatte. Aber es war wohl mehr ein Reflex, denn eine unmittelbare Bedrohung bestand nicht. Der Kampf fand ohne Zweifel ein erklägliches Stück weiter vor ihnen statt.
Mo schien letztlich auch eher unbeeindruckt von dem Geschehen, und schwenkte einfach nur nach rechts ab, wie sie es immer tat, wenn sie meinte, ein Revier umgehen zu müssen.
„Was ist das?!“, fragte Kishou dennoch etwas besorgt.
Boorh schob bereits seine Axt wieder in seine Ruhestätte zurück. „Boorh entscheidet: Nur eine kleine Bemessung der Kräfte!“
Kishou konnte zwar die Ruhe seiner Haltung keineswegs teilen, fühlte sich dann aber doch besser, nachdem niemand von ihren Begleitern eine ernste Gefahr erkannte.
Nachdem sie offenbar erfolgreich dem Kampfgeschehen ausgewichen waren, kamen sie bald in ein ausgedehntes Waldgebiet. Es war ein unheimlicher Ort, befand Kishou, denn obwohl der Wald sehr dicht war, hatte die Sonne keinerlei Schwierigkeiten, ihren Weg bis zum Boden zu finden. Das blattlose Geäst bot trotz seiner Dichte den gleißenden Strahlen der Sonne kaum einen Widerstand. Mächtige hölzerne Stämme, die sich hoch in den Himmel reckten, standen dicht an dicht mit fingerdicken Stöckchen, die nicht mehr die Zeit gefunden hatten, erwachsen zu werden, und beim kleinsten Anstoß brachen.
Hellbraun war alles hier um sie herum. Ein helles, sandiges Braun, das sich nicht von den trockenen Gräsern unterschied – und auch nicht von dem Boden, aus dem sie vor langer Zeit einmal hervorgekrochen waren. Ein einziges, großes, wunderliches Skelett, das jegliches Fleisch verloren hatte. Und doch schien es, als wollte es leben. Kishou schauderte. Das stetige Krachen des spröden Holzes um sie herum, wo immer sie mit ihm in Berührung kamen, ließ es nicht zu, dass die Ohren voraushörten, um eventuelle Gefahren einschätzen zu können.
Seltsamerweise war dieser brüchige Wald offenbar frei von allen Wesen, die dieses Drom bewohnten. Nicht ein einziges Mal änderte Mo ihre Richtung, was darauf hindeutete, dass sie tatsächlich ganz allein in dieser seltsamen Kulisse wandelten. Als sich Kishou bei Mo darüber verwunderte, gab sie ihr zu verstehen, das man einen solchen Ort nicht verteidigen konnte, ohne ihn zu zerstören. Ein so brüchiges Revier wird niemand in Besitz nehmen wollen.
Bis zum Abend brauchte es, bis sie den knöchernen Wald durchschritten hatten. Als sie aus ihm heraustraten, fanden sie sich am Ufer eines gigantischen Sees wieder – zumindest das, was von ihm übrig geblieben war, vermutete Kishou in einer entsprechenden Äußerung sofort. Sie wurde in ihrer Annahme von Boorh sogleich bestätigt.
Der Anblick der weiten öden Fläche erinnerte sie an ihre ersten Schritte in der Ersten Ebene des Ersten Tals des Ersten Droms, nachdem sie Trautel Melanchful verlassen hatte – und sie ertappte sich dabei, dass sie nach unten schaute, um ihre Fußspuren zu sehen. Nach einer leichten Dünung erstreckte sich das weißlich-braune Tuch des ehemaligen Seegrundes bis zum Horizont, und riss dort in einem Spiegelbild die rote Abendsonne in tausend Fetzen. Doch sehr schnell erkannte sie die Unterschiede zu ihrer ersten Erfahrung. Der Boden war nicht gleichmäßig bedeckt mit feinem Sand, wie sie es im Ersten Drom Anfangs vorgefunden hatte. Hier war er brüchig – wie eine riesige zerborstene Glasscheibe: flach aus großer Höhe aufgeschlagen, in tausend Scherben gesprungen – und doch in einem Stück geblieben.
Kishou setzte sich, wo sie stand, und schnürte sich das Bündel von der Schulter, um erst einmal einen kräftigen Schluck aus ihrem Wasserbeutel zu nehmen. Noch nie zuvor bis zu diesem Augenblick hatte sie das Drama der Dürre so deutlich empfunden wie in diesem Moment. Eine ganze Weile saß sie so da, und starrte in die zerrissene Ebene hinein. Auch Boorh und Mo schienen sehr beeindruckt. Regungslos und mit versteinerten Gesichtern konnten auch sie sich offenbar nicht von dem Anblick lösen.
„Boorh entscheidet, wenn Kishou die Großen Wasser wieder wieder sein lässt im Großen Belfelland, werden ihre Augen vom Allsein trennen, was auch Boorhs Augen vom Allsein trennten, als er zuletzt diesen Ort bemaß!"
Kishou antwortete nicht, nur ihre Hand bewegte sich langsam nach oben zu ihrer Brust, bis sie den großen kristallenen Schlüssel darunter spürte. Durch ihre Bluse hindurch umspannte ihre Hand hart den langen Schaft. „Werden wir eine Oase sehen?“, fragte sie plötzlich leise, ohne ihren Blick abzuwenden.
„Boorh entscheidet: Der Pfad Kishous in das Zweite Tal der Zweiten Ebene des Zweiten Droms verdrängt den Ort ,Sahier’ vom Allsein. Es ist der ,Stamm des Zehnten’, der diesen Ort sein Eigen nennt. Doch Boorh kann nicht entscheiden, ob Sahier noch das Allsein verdrängt, nachdem nur noch zwei Stämme an diesem Ort bemessen sind – wie das Untere Squatsch entschieden ist.
Die Blicke von Boorh und Mo wanderten zu dem Erwähnten, der wohl von der ganzen Situation noch am wenigsten beeindruckt war. Er kannte das Land und seinen Niedergang – er hatte es in der langen Zeit mit angesehen, und sich längst daran gewöhnt. „Oh ...!“, stichelte er gespielt erstaunt gegen Boorh, und musste sich dabei fast den kurzen Hals verrenken, um zu dem nahestehenden Muskelberg aufzuschauen. „Er hat sich was gemerkt! Er hat sich tatsächlich was gemerkt – hat er sich! Wenn eine Zeit dafür ist, musst du in mir unbedingt den Trick vom Allsein trennen, wie du das bemessen ... oh – oh ... verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ... ich – äh ...!“ Er watschelte kopfwackelnd und schulterzuckend zu Kishou hinüber. „Natürlich, natürlich – es verdrängt dort eine Oase das Allsein – nicht sehr groß, ... nicht sehr groß! Die Grabenmacher hatten den ,Stamm des Zehnten‘ vor vielen Zeiten dem Allsein zugeführt. – hatten sie! ... und verdrängten jenen Ort fortan vom Allsein als ein Revier der Grabenmacher! Allerdings vor noch nicht sehr vielen Zeiten – nicht sehr vielen – nahm der Stamm der langen Schatten die Oase in seinen Besitz. Es war ein furchtbares Gemetzel ... ja, das war es! Nun ja, nun ja. Die Zeit der Oase verdrängt nicht mehr viel Raum vom Allsein – nicht mehr sehr viel. Aber sie ist noch immer im Besitz der Langen Schatten!“ Er wackelte mit dem Kopf. „Aber wie ich schon sagte, wir müssen vorsichtig sein. Aber wenn der Plattfuß da ... . Oh – oh ... verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ...!“ Er räusperte sich verlegen. „Also mit Mo und Boorh und meiner Wenigkeit können wir es sicherlich wagen, die Oase zu bemessen. Sicherlich! Ohne Frage das! Euer Beutel ist sicherlich nicht mehr gut gefüllt – ist er nicht, und ein Bad wäre wohl für euch ... nun ja – ... eine vollkommen bemessene Verdrängung des Allseins – wäre es wohl!“
„Baden ... was für ein Traum!“, schwärmte Kishou mit einem tiefen Seufzer. Sie nahm ein kleines Steinchen auf, und warf es im hohen Bogen von der Dünung herunter. „Plumps!“, sagte sie, als das Steinchen auf den harten Boden des einstigen Sees aufschlug. Sie lächelte dabei und zuckte resignierend mit den Schultern.
„Noch eine andere Oase verdrängt das Allsein – nicht sehr viel Zeit ist bemessen von diesem Ort!“, wusste das Untere Squatsch noch zu berichten. „Sie ist als ,Zargo’ vom Allsein getrennt – als Zargo! ... und ein Revier der Grabenmacher. Sie ist größer als Sahier – ja das ist sie! ... hat mehr Zeit. Aber ist wohl auch unangenehmer – ja das ist sie!“
„Was ich ehrlich gesagt nicht so recht verstehe, ist, warum wir vor den Afeten Angst haben müssen?“, wunderte sich Kishou. „Ich meine, du bist doch hier der König oder so was – also du herrschst doch über sie, oder nicht? Das Volk der Ky war doch auch sehr nett zu mir, nachdem ich Boorh getroffen hatte.
Dieses Thema war dem Unterem Squatsch offenbar nicht besonders angenehm. Er wackelte nervös mit seinem Kopf, trat von einem Bein auf das andere, und blickte immer wieder verstohlen zu Boorh und Mo hinüber, die sich inzwischen auch gesetzt hatten, und mit unbewegtem Blick auf den See starrten. Er vergewisserte sich wohl, dass sie ihn nicht hören konnten, bei dem, was er nun eingestehen musste. „Nein, nein – ja – doch ... natürlich! Ich bin ich der Herrscher über diesen Teil des Droms – das bin ich schon ... Das bin ich ohne jeden Zweifel ...!“, raunte er, und blickte dabei erneut verstohlen zu Boorh hinüber, als befürchtete er, dass dieser ihn hören konnte. „Aber ... ich bin eben doch nur ein ... – na sagen wir – ein halber Herrscher. ... Also natürlich ist in meiner Wenigkeit ein gänzlicher Herrscher ... keine halben Sachen – nein, nein – keine halben Sachen ...!“ Er rückte näher an Kishou heran, um noch etwas leiser sprechen zu können. „Aber wie ihr ja wisst, ist auch in Boorh ein Herrscher über diesen Teil des Droms vom Allsein verdrängt – also zur Hälfte ist auch er ...!“ Er schob sich noch etwas mehr an Kishou heran ... „..natürlich nur zur Hälfte! Aber das Volk verdrängt leider nicht viel Intelligenz vom Allsein, und meint immer, was größer bemessen ist, und eine Axt mit sich herumschleppt ...” Er wiegte seinen zu großen Kopf hin und her und kratzte sich nervös an seinem Hals herum ... „Nun sagen wir mal ... „er rückte sein Sakko zurecht. „... in mir verdrängt sich nun einmal nicht eine ganz so gewaltige Erscheinung vom Allsein ... nicht äh ... nicht ganz so gewaltig!" Nun schüttelte er fast ein wenig ärgerlich den Kopf. „Dabei bin ich sehr mächtig – sehr mächtig! Immerhin beherrsche ich das Allsein. Meine Wenigkeit verdrängt das Sein vom Allsein ... verdrängt es! – niemand außer mir ist dazu im Stande ... ihr habt’s ja bemessen – ihr habt’s bemessen ...!“
„Du meinst, wenn du dich in diese komische Kugel verwandelst – das sieht echt toll aus!“, sagte Kishou anerkennend. „Aber was machst du damit, mehr passiert ja eigentlich nicht ...!“
„Oh nein – Oh doch, doch!“, wurde sie vom Unteren Squatsch fast erschrocken unterbrochen. „Um das Allsein zu verdrängen, bedarf es einer ungeheuren Kraft – einer ungeheuerlichen Kraft. Niemand verfügt über solch ungeheuerliche Kräfte – ... außer meiner Wenigkeit – Oh, oh – Verzeiht diese kleine Unbescheidenheit – außer euch selbstverständlich, selbstverständlich außer euch!“
Kishou stutzte. „Außer mir? Was ist das denn nun wieder – wie kommst du denn auf so was?!“
„Aber ihr habt eben nicht das Problem, das ich habe!“, Überhörte er die Frage Kishous. „Ihr seid viele, doch ich bin nur einer. ... nur einer! Da braucht es eben noch mindestens eines weiteren, der meine Kraft vom Allsein trennt! Nun ja ... Ohne so jemanden ... „sein Blick sprang wieder einen verstohlenen Moment zu Boorh hinüber ... „Ohne so einen angeberischen Kraftmeier ... Oh, oh – verzeiht die kleine Unbemessenheit meiner Verdrängung ... Also ich meine ... Also ich will es mal so bemessen: Ohne so einen Boorh ist meine Kraft eben ... nun ja ... eben nur eine Kraft. ... eine Kraft eben – nicht mehr! ... und eine Kraft ist nunmal Allsein. Es muss jemand da sein, der sie letztlich vom Allsein verdrängt. ... Meine Kraft! ... Und jeder meint dann aber zu bemessen, er wäre es gewesen! Er! Aber in Wirklichkeit ...”
„Ach so!“ In Kishous Gesicht ging ein großes Licht auf. „Jetzt verstehe ich!“, sagte sie, und ein breites Grinsen erschien in ihrem Gesicht. „Deswegen ...!“ Sie kicherte etwas vor sich hin. Endlich hatte sie verstanden, warum das Untere Squatsch immer so gegen Boorh stichelte ...
„Äh – deswegen? ... fragte das Untere Squatsch irritiert.
„Ist ja auch egal!“, wiegelte Kishou ab. Aber danke, dass du mir erklärt hast, was du da eigentlich machst. Dann verstehe ich jetzt dein Problem. Deswegen herrscht ihr hier eigentlich auch zu Zweit. Wenn du allein kommst, nimmt man dich wohl nicht so richtig ernst – oder?“
„Genau so ist es entschieden, und genau so verdrängt es das Allsein! Genau so ist es!“ Das Untere Squatsch machte einen ehrlich bemitleidungswürdigen Eindruck. „In meiner Wenigkeit verdrängt sich der Herrscher eines ganzes Volkes vom Allsein – eines ganzen Volkes – und das Volk bemisst keinen Respekt vor seinem Herrscher ... Nur weil der nicht ganz so dick ist ... Oh, oh – verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ...!“
„Schon gut!“, lächelte Kishou und strich tröstend über seinen Arm. „Setz dich doch auch noch ein bisschen. Es ist gerade so schön hier zu sitzen und sich vorzustellen, wie es wäre, wenn hier vor uns nichts als Wasser wäre, und hinter uns eine bis zum anderen Horizont reichende große Wolke aus grünen Blättern und Blüten in allen Farben!“
„Oh, oh – wenn Ihr gestattet!“ Die kleinen Kulleraugen des Unteren Squatsch leuchteten auf, und er beeilte sich, neben ihr Platz zu nehmen.
„Jetzt wo Boorh wieder da ist, wird das Volk sicherlich sehr bald erkennen, wer du bist, und man wird wieder Respekt vor dir haben!“, tröstete Kishou. „Es ist nun einmal so entschieden, dass ihr nur gemeinsam das Allsein verdrängen könnt!“
„So entscheidet Kishou, und wie Kishou vollkommen bemessen entschieden ist, so verdrängt es das Allsein!“, bestätigte das Untere Squatsch, und es war zum ersten Mal eine erstaunliche Ruhe und Zufriedenheit in ihm zu entdecken – und Kishou lächelte in sich hinein, als sie bemerkte, dass sie bereits anfing, sich in den seltsamen Worten der Chemuren auszudrücken. Dann aber verzog sich ihr Gesicht doch wieder zu einer nachdenklichen Mine. „Mmh – das ist dann aber auch wieder so eine komische Sache ... Ich dachte, ich hätte verstanden, dass Boorh seine Kraft von dir braucht, um etwas in die Tat umzusetzen ... so ist es doch gemeint – oder?!“
„ja, ja – genau so. Genau so verdrängt es das Allsein!“, beeilte sich das Untere Squatsch zu bestätigen, um gar nicht erst irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen.
„Aber im Ersten Drom warst du doch nicht da, und Boorh hat doch alles allein gemacht ...?
„Oh nein, nein – Boorh hat im Ersten Drom kein Allsein verdrängt!“
„Aber ich war doch immer dabei, und hab’ geseh’n ...!“
„Oh nein, oh nein – nichts hat Boorh verdrängt vom Allsein. Boorh hat kein Sein vom Allsein verdrängt. Niemand kann im ersten Drom das Sein vom Allsein verdrängen – nicht einmal ihr…!“ Er stockte und schluckte verlegen. „Verzeiht die kleine Unbemessenheit dieser Verdrängung vom Allsein ... aber sie ist eigentlich doch vollkommen bemessen – wenn ihr gestattet ...!“
„Häh ... „ In Kishous Gesicht stand ein großes Fragezeichen. „jetzt versteh' ich aber gar nichts mehr!“
„Nun – äh – das Erste Drom ist Allsein. Allsein! ... und niemand kann ein Sein vom Allsein verdrängen, bevor es entschieden und vom Allsein getrennt ist! Niemand kann das!“
„Wie ...?“
„Nun, so ist es. So ist es vom Allsein verdrängt. Boorh und Mo haben das Sein ,entschieden’ und vom Allsein ,getrennt’ im ersten Drom – doch um das entschiedene und vom Allsein ,getrennte‘ vom Allsein zu ,verdrängen‘, ... braucht es das Untere Squatsch – braucht es meine Wenigkeit!“ Er fing wieder sichtlich an, nervös zu werden. „Das ist ja gerade mein Problem, dass niemand es versteht. Das niemand es versteht und jeder zu bemessen meint, es wäre Boorh allein! ... Boorh allen!“, er wiegte verzweifelt seinen Kopf hin und her und seufzte tief auf.
Das Gedankenkarussel, das in Kishous Kopf mal wieder heftig im Kreise fuhr, war ihr hinlänglich bekannt, und sie hoffte entsprechend auf den Augenblick eines rettenden Widerstands. Tatsächlich dauerte es dieses Mal gar nicht so lange ... „Das würde ja bedeuten ... das Erste Drom ist gar nicht wirklich – also ich meine ... es wäre ja dann eigentlich nur irgendwie sowas ... wie ... wie eine Idee ... oder sowas wie eine Art Traum!?“
„Eine Entscheidung!“, wurde sie vom Unteren Squatsch korrigiert. „Nur erst eine Entscheidung! So verdrängt es vollkommen bemessen das Allsein. Es ist zunächst eine Entscheidung. Es trennt das Sein vom Allsein ...!“
Kishou kamen in dem Moment die Worte Trautel Melanchfuls in den Sinn, in denen sie einmal meinte, das Große Belfelland sei ein besonderer Ort, an dem nichts so wäre wie es scheint, und doch läge in allem das Wahre ... „Das heißt ... das Erste Drom war noch gar nicht Wirklich, sondern nur erst die Entscheidung für ein Sein, das hier im Zweiten Drom dann zur Wirklichkeit wird ...!“, grübelte sie laut nach ...
„Dank meiner Wenigkeit! So ist es. Eben Dank meiner Wenigkeit. Genau so ist es entschieden und verdrängt es das Allsein. Eure Entscheidung ist vollkommen bemessen und vom Allsein getrennt, und ebenso verdrängt es das Allsein ...!“ Die Augen des Unteren Squatsch leuchteten hell und er wiegte seinen kugeligen Körper aufgeregt hin und her. Endlich, so schien es ihm wohl, hatte ihn jemand verstanden.
„Deshalb war das auch so’n komisches Gefühl, als wir das Erste Drom mit dir durch’s Allsein verließen – und aus dem Allsein rauskamen … als wenn man aufwacht ... is’ ja verrückt alles ...”, staunte Kishou. Sie schüttelte etwas resignierend den Kopf. „Also so irgendwie hab’ ich’s wohl verstanden ... Jetzt wird mir immerhin einiges klarer – aber ich glaube, es ist im Moment noch ein bisschen viel auf einmal!“ Sie schaute einen Augenblick in die kleinen Murmelaugen des Unteren Squatsch und grinste plötzlich. „Danke, dass du mich aufgeweckt hast!“, sagte sie mit einem kleinen Anflug von Spitzfindigkeit.
Das Untere Squatsch überhörte die kleine Ironie in der Bemerkung Kishous und fühlte sich endlich einmal wieder angemessen wichtig – wie lange hatte er das nicht mehr erlebt.
Über die ausgiebige Unterhaltung war die Sonne nun endlich unter dem Horizont verschwunden und ein unbeschreibliches Farbenspiel überzog den sterbenden Himmel. Kishou gähnte herzhaft. „Wir werden die Nacht wohl hierbleiben!“, stellte sie mit einem Blick zu Mo und Boorh fest, die nebeneinander sitzend, mit eingefrorenen Gesichtern auf dem Boden hockten. „Also dann – Gute Nacht, Unteres Squatsch!“, verabschiedete sie sich von ihm, krabbelte auf allen Vieren zu Boorh hinüber und machte es sich in seinem Schoß bequem. Es war doch allemal immer wieder sicherer dort – man wusste ja nie ... und im Gegensatz zum ersten Drom, waren hier zudem doch immerhin schon Temperaturunterschiede spürbar, und die Nacht war kühler als der Tag.
Kishou kuschelte sich tief in Boorhs Schoß, als sich plötzlich eine wohlige Wärme um sie herum ausbreitete. Als sie die Augen verwundert noch einmal aufschlug, sah sie um sich herum ein mattes rötlich fluoreszierendes Licht – wie eine Glocke lag es über Boorh und ihr. Eine Art wabernder, stehender Blitz ging von ihrer Wandung ab – und als ihre Augen der Erscheinung folgten, fand sie dessen Ursprung in einer kleinen, flirrenden Kugel, wie aus tausend unsteten Insekten, in dessen Mitte sich ein leuchtender Kern befand. Er strahlte nicht so heftig, wie sie es schon einmal gesehen hatte – es war dagegen eher nur ein glimmen. Aber Kishou verstand nun, was die Ursache der Wärme war. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
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