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DATING GAMES

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Während Leonies Blick auf dem unberührten Glas ruhte, dessen Inhalt das gedämpfte Licht der Odessa Bar reflektierte, entfernte sich seine Stimme immer weiter von ihr. Eine Stimme, die Dinge erzählte, die sie bereits unzählige Male gehört zu haben schien. Sie dachte an das abwesende Lächeln der attraktiven, blonden Kellnerin, die ausschließlich Englisch sprach, kein Wort Deutsch verstand und ihnen gerade ihr zweites und sein drittes Glas Moscow Mule serviert hatte, um dann doch noch an den Mann zu denken, der ihr gegenübersaß.

Ihre Leben hatten sich vor einer knappen Stunde berührt, es war ihr erstes Date, und so wie es aussah, auch ihr letztes. Schon nach den ersten Minuten war für sie klar, dass es nie zu einem zweiten Date kommen würde. Vielleicht redete er deshalb so viel, weil er ihre Begegnung mit möglichst viel Inhalt füllen wollte, in der verzweifelten Hoffnung, in ihrem Leben zumindest irgendeine Spur zu hinterlassen, bevor sie aus seinem verschwand. Ihm selbst fiel es aber wahrscheinlich nicht einmal auf, es war wohl eher eine Verzweiflungstat seines Unterbewusstseins, Leonie hatte ihm schließlich seit Minuten nicht mehr in die Augen gesehen.

Sie wünschte sich, hier jetzt mit dem Mann zu sitzen, der sich in den vergangenen Wochen aus seinen Fotos auf Instagram, seinen Nachrichten auf Facebook und den Google-Suchen nach seinem Namen in ihrem Kopf zusammengefügt hatte. Leider hatte das nichts mit dem Menschen zu tun, der ihr gerade gegenübersaß.

Leonie dachte an verschiedene Dinge auf einmal. Sie dachte daran, dass er sie vor zwei Wochen auf Instagram entdeckt und sofort begeistert hatte, und daran, wie sie sich jeden Abend stundenlang Nachrichten geschrieben hatten. Sie dachte an die Vertrautheit, die da war, bevor sie überhaupt ihre Stimmen kannten. Sie dachte daran, wie sie gegenseitig ihre Fotos geliket und kommentiert hatten, um dem anderen zu zeigen, dass sie gerade aneinander dachten. Sie dachte an ihr Lächeln, wenn sie einen Blick auf ihr Handy geworfen und eine Nachricht von ihm auf dem Display geleuchtet hatte, und sie dachte daran, dass er Teil ihres Leben geworden war, bevor sie sich überhaupt begegnet waren, und dann dachte sie noch, dass das alles eine Illusion war, dass diese makellose Version eines Mannes in ihren Gedanken viel mehr mit ihr zu tun hatte als mit ihm selbst. Das waren die Liebesgeschichten unserer Zeit, dachte sie, sie fanden in den Köpfen statt, aus der Ferne einer virtuellen Distanz, und sie endeten, wenn man sich in der Wirklichkeit begegnete, sie endeten, bevor sie überhaupt beginnen konnten.

Es lag wohl daran, dachte sie, dass man bei jedem Date aus der leuchtenden Projektion heraustrat, aus diesem künstlichen Zauber, den man so sorgfältig um sich selbst entworfen hatte. Wenn sie ihr morgendliches Spiegelbild mit den vorteilhaft fotografierten Porträtbildern verglich, die sie selbst auch postete, fragte sie sich, ob einen das Leuchten noch umgab, wenn man sich traf, ob es für den anderen überhaupt noch wahrnehmbar war oder ob derjenige sich plötzlich in der Gegenwart eines farblosen Menschen wiederfand, der nur noch aus blassen Resten dieser strahlenden Figur bestand. Wenn man sich zum ersten Mal in der Wirklichkeit begegnete, war das immer ein Kampf gegen das Bild, das man von sich gezeichnet hatte. Der Mann ihr gegenüber hatte diesen Kampf verloren, dachte Leonie.

Vielleicht lag es ja an der Odessa Bar, in der sie sich immer mit ihren Dates traf, dachte Leonie, oder an den Moscow Mules, die sie immer tranken, als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, bei Dates in der Odessa Bar Moscow Mule zu trinken.

Er hieß Paul und sah aus, wie sie gerade alle aussahen. Ein hübsches, unrasiertes Gesicht, dazu ein ausgewaschenes T-Shirt, dessen weiter Kragen eine unbehaarte Brust freilegte und auf dem das Cover des Joy-Division-Albums Unknown Pleasures abgebildet war, von dem Paul wahrscheinlich noch nie etwas gehört hatte; dazu Converse-Schuhe und diese unvorteilhaft geschnittenen Jeans, die jetzt alle trugen. Sein volles Haar wirkte störrisch und ungepflegt, aber so oft, wie er sich ein wenig zu bewusst durch sein Haar fuhr, war offenbar auch diese vermeintliche Nachlässigkeit Teil eines ästhetischen Gesamtkonzepts.

Paul fand alles »mega«, und er war in der Lage, das Wort in jedem zweiten Satz unterzubringen, was in seiner Konsequenz schon beeindruckend war. Das Wort wirbelte in Leonies Kopf, während Paul von Bars, Clubs und Partys erzählte und davon, auf welchen Gästelisten er stand. Es klang alles so bekannt, so austauschbar, als hätte er sich mit ihren Dates der letzten Wochen und Monate abgesprochen. So gesehen hätte Paul auch Frederick, Jakob oder Raphael heißen können, so hießen die Männer, mit denen sie sich vor ihm getroffen hatte. Sie wurden sich immer ähnlicher, ihr Aussehen, die Dinge, die sie erzählten, als wären sie geklont. Variationen desselben Themas. Abziehbilder. Sie musste an ihre Freundin Alena denken, die auf Facebook ihre Dates der letzten Zeit mit dem Post »tired of meeting the same people in different bodies« zusammengefasst hatte.

Sie hörte Pauls Gerede zu, wie man einem belanglosen Popsong im Radio zuhört. Ein harmloses Plätschern, dem man keine Aufmerksamkeit schenken musste, konturlos und nichtssagend – ein Hintergrund­rauschen, um das anhaltende Gefühl des Alleinseins zu betäuben. Da saß sie nun vor Pauls hübschem, leerem Gesicht Paul und stellte sich vor, jemand würde ihn einfach austauschen, während sie auf der Toi­lette war. Man nahm den einen einfach weg und setzte einen anderen dafür hin. Wahrscheinlich würde sie es nach ihrer Rückkehr nicht einmal bemerken, sie würde weiterhin an den richtigen Stellen nicken und weiterhin interessiert wirken.

»Alles gut?«, hörte sie Paul fragen, der auch Frederick, Jakob oder Raphael heißen konnte.

Alles gut! Eine Floskel, die sie hasste, vielleicht weil sie gerade alle benutzten, als hätten sie sich abgesprochen. Die neue deutsche Floskel, auf die sich alle einigen konnten. Eine Floskel, die oft in einem hastigen, abwesenden Tonfall ausgesprochen wurde, der erzählte, dass gar nichts gut war, und dass es auch nicht unbedingt so aussah, als würde sich das in nächster Zeit ändern, eher, dass es schlimmer werden würde. So gesehen war »Alles gut« die passende Metapher, sie fasste alles zusammen.

»Alles gut, alles gut«, sagte sie schnell und zwang sich zu einem Lächeln. Paul zündete sich eine Parisienne an, die Zigarettenmarke, die in Berlin jeder rauchte, der sich für kreativ oder intellektuell hielt. Sie war von Klischees umgeben, dachte sie, griff nach dem Glas und nahm einen großen Schluck, während Paul so bewusst an seiner Zigarette zog, wie er sich durchs Haar fuhr, und einen kurzen Moment lang war Leonie sich wirklich nicht sicher, ob er nicht doch Frederick, Jakob oder Raphael hieß. Alles gut, dachte sie dann noch einmal. Es war niemals alles gut. Leute wie dieser Paul waren das beste Beispiel.

Seine Geschichte hatte in seinen Nachrichten so schön geklungen, aber jetzt klang sie einfach nur belanglos und austauschbar. Er war ausgebrochen, aus der Enge eines vernünftigen Lebens, in dem man tat, was von einem erwartet wurde. Er war hierhergekommen, um sich neu zu erfinden und ein Leben auszuprobieren, das ihm näher war. Das war ein Gedanke, der ihr gefallen hatte, vielleicht weil sie Berlin ebenfalls mit diesem Gefühl verband, zumindest damals, ganz am Anfang. Auf den Rat seiner Eltern hin hatte er, weil er so gut mit Zahlen umgehen konnte, zuvor eine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen und auch abgeschlossen. Dann aber war er gegen den Willen der Eltern nach Berlin gezogen, um sich seiner Musik zu widmen. Dass das alles zum Klischee verkommt, könnte natürlich an Paul liegen, dachte sie, dem Einzelkind, und daran, dass ihm seine Eltern trotz ihrer Vorbehalte viel Geld überwiesen, damit er seinen Traum verwirklichen konnte, und sicherlich auch daran, wofür er ihr Geld ausgab, seitdem er sich in der Berliner Feierszene verfangen hatte. Ihm ging es wie vielen, die von dem hedonistischen Sog des Berliner Nachtlebens erfasst worden waren, die Ziele verschoben sich, reduzierten sich. Der Tag wurde zu der unbedeutenden Zeit zwischen den Nächten. Sie nahmen Speed, Ketamin oder Liquid Ecstasy, diesen ganzen Dreck, für jedes Jahr eines solchen Lebenswandels konnte man wohl gut fünf Jahre Lebenszeit abziehen. So gesehen würde ihre Generation nicht alt werden. Sie trugen das Geld ihrer Eltern in die Stadt, die keine Ahnung hatten, was für ein Leben sie da finanzierten. Die meisten wurden DJs, die nie auflegten, oder sie arbeiteten an den Bars, Kassen oder Garderoben irgendwelcher Clubs, um das Gefühl zu haben, irgendwie mitzumachen. Paul war einer dieser DJs.

Leute wie er gingen am Freitagabend in irgendwelche Clubs, die sie am Dienstagmorgen wieder verließen. Sie hatte das nie verstanden. Keine zwei Nächte hielt sie durch, nicht mal in ihrem Alter, obwohl sie im Kater Blau schon eine Nacht erlebt hatte, in der sie beinahe in eine andere Zeitebene geglitten war. Am Sonntagnachmittag, der für sie gefühlt ja noch ein Samstagabend gewesen war, hatte sie das Gelände dann schnell verlassen. Grund war ein Mann, der sie mit weit aufgerissenen Augen gefragt hatte, ob heute Freitag sei. Auf ihre Antwort hin, dass es Sonntagnachmittag war, hatte er verzweifelt gelacht und war Richtung Spreeufer gerannt, hoffentlich nicht, um Selbstmord zu begehen, ein Gedanke, der gar nicht so abwegig war, wenn man seinen Zustand berücksichtigte.

Das war das Gefährliche an dieser Stadt, dachte sie dann. Man konnte jeden Tag ausgehen, jeden Tag feiern und seine Ziele aus den Augen verlieren. Sie alle kamen in die Stadt mit dem Gefühl, sie zu erobern, und irgendwann stellten sie fest, dass die Stadt sie erobert hatte.

»So«, sagte Paul und leerte sein Glas, bevor er aufstand. »Bin gleich wieder da. Wo ist denn hier die Toilette?«

»Ich glaub, in die Richtung«, sagte sie, obwohl sie es wusste.

»Okay, bis gleich.«

Leonie nickte lächelnd. Als er verschwunden war, hatte sie das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Sie griff nach ihrem Handy und wünschte sich mit einer Flasche Rotwein zu Annelie auf ihren gemeinsamen Balkon, von dem man diesen atemberaubenden Blick über den Helmholtzplatz hatte.

Vielleicht sollte sie die Drinks variieren, um zukünftigen Dates etwas mehr Besonderheit zu verleihen, um ihnen etwas hinzuzufügen, was sie voneinander unterschied. Sie spürte den Impuls, schon jetzt den nächsten Drink zu bestellen, gewissermaßen auf Vorrat, Alkohol konnte helfen, etwas in ihm zu sehen, was ihr Interesse weckte. Das hatte bei Frederick und Jakob ja auch funktioniert. Es war schon ernüchternd, Alkohol war das Fundament ihres Liebeslebens, dachte sie, aber irgendwie musste man sein Zärtlichkeitsdefizit doch ausgleichen. Bei Paul würde es allerdings nicht dazu kommen, da war sie sich sicher. Ihr Blick fiel auf die rauchende Zigarette, die er in den Aschenbecher gelegt hatte. Einen Moment lang dachte sie daran zu gehen, einfach einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch zu legen und abzuhauen.

Sie sah auf, als Paul mit zwei neuen Gläsern an den Tisch trat. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander und betrachtete sie.

»Du studierst also Psychologie«, sagte er, als hätte er sich die Frage zurechtgelegt.

»Stimmt«, sagte sie.

»Die meisten Psychologen sollen ja selbst persönlichkeitsgestört sein.« Er lachte, es war wohl seine Art Humor. Es war ein Humor, der nicht für ihn sprach, aber das war inzwischen auch nicht mehr wichtig.

»Nicht nur die meisten Psychologen«, sagte sie deutlich, aber die Spitze schien nicht durchzudringen.

Sie musste an ihren Therapeuten denken. Paul hatte unbeabsichtigt die Wahrheit berührt, aber das würde sie sich nicht anmerken lassen. Sie studierte Psychologie und ging zum Psychologen, dachte sie, manchmal passte ein Leben in einen Satz.

»Ich hab ja damals bei der Commerzbank gearbeitet, in Frankfurt«, sagte er in die entstandene Stille.

»Ich weiß, hast du mir geschrieben«, sagte sie dankbar dafür, nicht über sich reden zu müssen und versuchte, sich Paul in einem Anzug vorzustellen. Es funktionierte.

»Geschäftskundenbereich«, sagte er.

»Oh«, sagte sie und versuchte, so beeindruckt wie möglich auszusehen.

»Ich bin ja ein mega Zahlenmensch«, fuhr er fort. »Ich kann mir zum Beispiel nur ganz schlecht Namen merken. Wenn ich Kunden sehe, verbinde ich ihre Gesichter gar nicht mit einem Namen, sondern mit ihrer Kontonummer.«

»Oh«, sagte sie noch einmal, und jetzt war sie wirklich beeindruckt, auf eine groteske Art.

Zwei Gläser Moscow Mule später nahm Paul diesen Faden wieder auf und erzählte, dass sie die Nummer 84 wäre, wenn sie miteinander schlafen würden. Wie bitte?, dachte sie. Der Alkohol schien zu wirken. Es war eine Zumutung. Sie suchte den Blick der Kellnerin und wollte zahlen, wollte hier raus, weg von diesem Paul. Er hob sein Glas in ihre Richtung mit einem viel zu intimen Lächeln. Er war widerlich. Dieser Mensch würde sie nie berühren dürfen.

Es war so schwer, in Berlin einen zurechnungsfähigen Mann kennenzulernen, dachte sie, obwohl die Stadt voll von Männern war. Die Auswahl war da, zumindest theoretisch, praktisch war Berlin einfach nur voller Gestörter. Sie überschlug, wie viele Dates sie gehabt hatte, seitdem sie vor zwei Jahren hergezogen war. Es waren zu viele.

Am liebsten würde sie jetzt mit ihren Freundinnen im Volkspark Friedrichshain in der Sonne liegen, dachte sie, ihre letzten Dates auswerten und schlecht über Männer reden. Darüber, warum es mit ihnen nicht lief. Einfach, weil Männer grundsätzlich gestört waren. Eine neue Geschichte, um diese These zu veranschaulichen, hatte sie ja jetzt. Ihre Freundinnen würden sie erst mal mit ungläubigen Mienen ansehen, bevor sie gemeinsam alles detailliert auswerteten. Ein Gesprächsthema für eine Stunde, vielleicht auch für zwei. Sie würden sich versichern, dass man Männern nicht vertrauen konnte, würden das ewige Paradoxon ihrer Leben bearbeiten, dass sie schlecht über Männer dachten, sich aber doch nach ihnen sehnten. Sie waren wie eine Selbsthilfegruppe in fortdauernder Gruppentherapie. Das war ihre Gemeinsamkeit, die Erfahrungen mit Männern, seitdem sie nach Berlin gezogen waren. Vielleicht konnte man Freundschaft ja so definieren. Sie verband mehr als sie voneinander trennte. Eine simple Gleichung. Das war der Unterschied zu Paul. Sie trennte definitiv mehr als sie verband.

»Also, ich muss jetzt los, muss ja morgen früh raus«, sagte sie nach einem Blick auf ihr Handy.

»Ich zahl die Rechnung.« Paul hob die Hand, um der Kellnerin ein Zeichen zu geben. Dann sagte er: »Ausnahmsweise.«

»Bitte?« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Eigentlich lass ich ja immer die Frauen zahlen«, sagte er. »Die können schließlich froh sein, dass sie mit mir Zeit verbringen dürfen.«

Leonie wartete auf ein Lächeln, auf einen ironischen Blick, auf irgendeinen Anhaltspunkt, der diesen Satz auflöste, vielleicht war es ja wieder diese Art Humor, den man nicht verstand. Dann begriff sie, dass das Pauls Art war, Komplimente zu machen.

Gott, dachte sie, sie saß hier an einem Stammtisch. Wahrscheinlich fand dieser Typ sich selbst so unwiderstehlich, dass er eine Erektion bekam, wenn er nackt vor dem Spiegel stand. Sie würde ihrem Therapeuten von ihm erzählen. Das war hier alles Realsatire, als wären sie Figuren in einer dieser schrecklichen Doku-Soaps, die auf RTL 2 liefen.

»Klar«, sagte sie, weil es so einfacher war.

Plötzlich entstand in ihr ein Bild. Sie fühlte sich wie in einem Casting für eine Daily Soap, in der immer wieder dieselbe Szene durchgespielt wurde. Immer wieder, schlecht gespielt, durchschaubar und nichtssagend.

»Hier sind gute Schwingungen«, sagte Paul, als sie die Torstraße betraten. Er sah das offensichtlich anders.

»Wie bitte?«

»Zwischen uns, das fühlt sich gut an.«

»Klar«, sagte sie. Es schien ihre Standardantwort zu sein.

»Wir schreiben«, sagte Paul und umarmte sie unangemessen vertraut. Hoffentlich hielt er diesen Moment nicht für den Moment vor dem ersten Kuss. Vorsichtshalber klopfte sie ihm während der Umarmung ein paar Mal leicht auf die Schulter. Das war die Kumpelgeste, sie hoffte, dass er sie verstand. Leider verstand er sie nicht. Als er sie auf den Hals küsste und dann auf das Haar, entwand sie sich unbeholfen seiner Umarmung.

»Hey«, sagte er erstaunt. »Diese Spannung zwischen uns, die hast du doch auch gespürt.«

Wieder eine Floskel. Sie fragte sich, wie oft er das schon zu einer Frau gesagt und wie oft es funktioniert hatte. Und dann fragte sie sich noch, wie vielen Frauen er die wohlformulierten Nachrichten schon geschrieben hatte, die er ihr geschrieben hatte. Er sammelte sie vermutlich in einem Word-Dokument.

»Da ist doch was zwischen uns«, hörte sie Paul sagen, »was Besonderes.«

Sie wich einige Schritte zurück. Er machte es immer schlimmer, aber das war jetzt wohl auch egal, er war inzwischen sowieso an einem Punkt, an dem er es nur noch schlimmer machen konnte.

»Was auch immer das zwischen uns ist«, erwiderte sie deutlich. »Es ist auf jeden Fall nichts Besonderes.«

»Aber spürst du’s nicht, dass da was ist zwischen uns. Wie kostbar dieser Moment ist.«

»Oh, ich bitte dich«, sagte sie. Es war unglaublich, und es war so würdelos. Sie spürte, dass sich jetzt auch noch seine sexuelle Attraktivität verlor, was tragisch war, sie war schließlich alles, was er hatte.

»Wie war dein Name nochmal?«, fragte sie, um diese Farce abzukürzen, dieses armselige Spiel, das sich aus durchschaubaren Routinen zusammensetzte, um eine Frau auf dem schnellsten Weg ins Bett zu kriegen. Das schien eine weitere Konstante ihrer Dates, neben der Odessa Bar und den Moscow Mules natürlich.

»Paul?«, sagte er und sah gerade wirklich so betroffen aus, dass er ihr sogar ein bisschen leidtat.

»Stimmt«, sagte sie. »Paul. Also, wir schreiben, ja?« Es klang wie das »Wir melden uns« nach einem gescheiterten Bewerbungsgespräch, und so sollte es auch klingen. Sie hoffte, dass er es verstand.

Paul schien es zu verstehen, er wandte sich ab und ging zielstrebig die Torstraße Richtung Rosa-Luxemburg-Platz hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wartete kurz, bevor sie die Torstraße langsam in die entgegengesetzte Richtung hinunterging. Ganz kurz fiel ihr Andreas Landwehr ein, den sie sogar in Gedanken immer beim Vor- und Zunamen nannte. Bei ihm war es anders gewesen war, bei ihm war es kein Spiel. Doch sie hatten nicht einmal einen Monat miteinander verbracht, bevor sie spürte, dass sie sich nicht auf ihn einlassen konnte. Aus Gründen, die auch damit zusammenhingen, dass sie an ihn nur mit Vor- und Zunamen dachte, dass aus Andreas Landwehr nie Andreas geworden war, aus dem Schriftsteller nie der Mensch. Ihr fiel ein, dass auch er Parisienne geraucht hatte.

Die Torstraße leuchtete. Sie passierte die überfüllten Bars, vor denen sich die Menschen sammelten, sie blickte in die leeren, hübschen Gesichter, die ihr entgegenkamen, und merkte, wie egal ihr diese Menschen waren, dass sie nichts mit ihnen verband, dass sie nichts mit ihnen verbinden durfte, gleichzeitig ergriff sie das Gefühl, dass sie ihnen viel ähnlicher war, als sie immer angenommen hatte. Ganz plötzlich spürte sie die grausame Gewissheit, dass sie sich nicht von ihnen unterschied, dass sie in derselben Leere und Seelenlosigkeit gefangen war wie die anderen.

#EGOLAND

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