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GREIGE

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Andreas blinzelte träge, bevor er widerwillig in das schwache Licht blickte, das durch die notdürftig geschlossenen Vorhänge seines Schlafzimmers drang. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, irgendwie zu denken oder sich wenigstens zu erinnern, unter welchen Umständen er nach Hause gekommen war. Es gab nur Fetzen und Momentaufnahmen, die sich noch nicht zu einem plausiblen Ganzen zusammenfügten, dafür schien es noch zu früh zu sein. Er beobachtete die Staubteilchen, die durch das schwache Sonnenlicht schwebten, und spürte, wie sehr er diesen Zustand kurz nach dem Erwachen mochte, diesen angenehmen Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit, selbst in seiner Verfassung. Diese Momente, in denen er an nichts Bestimmtes dachte und in denen die Gedanken noch schemenhaft waren, versuchte er so lange wie möglich zu halten. Als die Gedanken klarer wurden, setzte er sich abrupt auf, blickte neben sich, auf die andere Seite des Bettes und atmete auf. Glücklicherweise lag da niemand. Auch wenn er abrundete, wie viel er gestern getrunken hatte, hätte da keine Frau gelegen, mit der er noch gern gefrühstückt oder einen Kaffee getrunken hätte. Er tastete auf der Kommode nach den Zigaretten, nach dem zweiten Zug schüttelte ihn das brüchige Husten eines alten Mannes. Er ahnte, dass wenn er später das erste Selbstgespräch des Tages führen würde, seine Stimme die eines Fremden sein würde. Bei der Vorstellung, wie er hier gerade vollkommen fertig im Bett rauchte, war er froh, dass es im Schlafzimmer keinen Spiegel gab.

Andreas griff nach seinem Handy. Es war sechzehn Uhr. Er blickte zu den Vorhängen und dachte daran, dass die Parks voller Menschen waren, die die Sonne genossen, die Zeit miteinander verbrachten, und er allein in seiner Wohnung lag, hinter zugezogenen Vorhängen, durch die nur wenige Lichtstrahlen ihren Weg fanden. Das Leben fand woanders statt, dachte er. Das war der Moment, der ihm deutlich machte, dass er jetzt einen Kaffee brauchte.

Neben dem Bett stehend spürte er, wie sehr er noch auf Rest­alkohol war. Er hatte noch keinen Kater, dafür ging es ihm allerdings schon ziemlich schlecht, wie er fand. Die Wohnung würde er heute nicht mehr verlassen. Er ging in die Küche, öffnete das Fenster und betrachtete den wolkenlosen Himmel, der mit seiner tiefblauen Farbe unwirklich aussah, was ihn aus irgendeinem Grund an Leonie erinnerte. Er fühlte sich unsauber, er musste jetzt dringend duschen. Nach dem Duschen stand er nackt vor dem Badezimmerspiegel und sah in sein in der letzten Nacht um zehn Jahre gealtertes Gesicht.

Er war achtunddreißig. Der Mann im Spiegel sah wie gelebte fünfundvierzig aus. Es war ein kurzer, beunruhigender Moment, in dem er sich so alt fühlte, wie er aussah. Eigentlich fühlte er sich jünger, als er war, obwohl es inzwischen auch immer häufiger vorkam, dass er von Gedanken überrascht wurde, die die Gedanken eines Mittdreißigers, eines fast Vierzigjährigen waren.

Er war gegen acht Uhr morgens in einen unruhigen Schlaf gefallen und immer wieder schweißgebadet aufgewacht. An seine Träume konnte er sich nicht erinnern, es mussten Albträume gewesen sein, zumindest fühlte er sich so. Er versuchte das erste Lächeln des Tages und warf seinem Spiegelbild einen aufmunternden Blick zu. Sein Gegenüber verzog gequält das Gesicht. Zumindest wusste er jetzt, wie seine aufmunternden Blicke am Morgen wirkten.

Er würde bis zum nächsten Tag brauchen, um sich wieder zu erholen. Seine Augen waren gerötet. Die Farbe seiner Haut mischte sich aus grau und beige. Es war ein Greige, wenn man das so sagen wollte.

»Greige«, sagte er in sein leeres Bad. Es war das erste Wort, das ihn heute verließ. Ein Wort, das passte, denn seine Stimme klang ja auch irgendwie greige.

Der Gedanke an seinen Roman, an dem er seit zwei Jahren arbeitete, ließ ihn tief ein- und ausatmen, und dann musste er wieder an Susanna denken, mit der er vier Jahre seines Lebens verbracht hatte. Mirko Schaffer, der Musikproduzent war, hatte mal erzählt, dass ihn jedes bedeutende Album, das er produziert hatte, eine Beziehung kostete. Andreas ging es ähnlich. Auch seine letzte Beziehung hatte seinen ersten Roman nicht überlebt. Rückblickend konnte man wohl sagen, dass Susanna drei Jahre gebraucht hatte, um sich von ihm zu trennen.

»Du hast dich verändert«, hatte sie gesagt, als die Diskussionen ihre Beziehung zu bestimmen begannen.

»Ich hab mich nicht verändert«, hatte er entgegnet. »Du hast mich nur besser kennengelernt.«

Eine Antwort, die seine Haltung in ihrer Beziehung gut beschrieb, wie er sich heute, aus der Ferne, eingestehen musste. Er war nie bereit gewesen, sich zu ändern, und so hatte er ihre dreijährige Trennungsphase eingeleitet.

Dabei war sie die erste Frau, die er geliebt hatte, wirklich geliebt. Als sie ihn dann verließ, traf ihn das hart, gerade weil sie es in der Überzeugung tat, dass er sie nie geliebt hätte. Sie warf ihm vor, dass er ihre Beziehung zum Material für seine Texte degradiert hatte, genauso wie ihre Freunde, die Familie und deren Leben. Es ginge ihm nur um die Geschichten und nicht um die Menschen dahinter. Dass er sie enttäuscht und sie ihn überschätzt habe, menschlich überschätzt, sagte sie damals, dass er offensichtlich seine innere Balance verloren habe und dringend zum Therapeuten müsse. Und sie hatte ja recht gehabt. Wenn man so wollte, dachte er in publizistischen Kategorien, wenn er Menschen kennenlernte oder ihm Schicksale erzählt wurden. Er war nicht an den Menschen interessiert, sondern an ihrer Verwertbarkeit, er passte sie in Texte ein, charakterisierte sie mit einem Satz oder entwarf aus Anekdoten zusammengeschobene Bilder von ihnen und verwendete sie in Gedanken bereits in einem Text, während er ihnen mit ergriffenem Gesichtsausdruck zuhörte. Genau genommen beschrieb das einen Soziopathen. Vielleicht sollte er wirklich mal mit einem Therapeuten sprechen, einfach so, ganz unverbindlich, um einen zweiten Blick auf sein Leben werfen zu lassen, einen professionellen Blick.

Und ja, Susanna hatte recht. Er befand sich auf Recherche. Sein Leben bestand aus Recherche, er war nicht mal mehr in der Lage, Bücher einfach nur zum Vergnügen zu lesen. Aus jedem guten Halbsatz, jeder Formulierung konnte eine Folge von Gedanken entstehen, Figuren, die er daraus entwickelte – er hatte viele Figuren, aber er scheiterte daran, ihre Geschichten zu Ende zu erzählen.

Die Trennung war hart gewesen, unglaublich, dass sie schon sechs Jahre her war. Sechs Jahre, eine Ewigkeit, die viel zu schnell vergangen war. Inzwischen war Susanna zweifache Mutter. Sie war mit diesem Markus zusammen gekommen, dem stillen Ex-Freund ihrer Kollegin Anna, deren Beziehung sie oft geringschätzig mit den Worten »Anna Berkowitz und ihr Hund« umschrieben hatte. Jetzt war dieser Hund der Vater ihrer Kinder. Andreas hatte oft darüber nachgedacht. Vielleicht hatten sich Susannas Prioritäten mit dem Alter verschoben, vielleicht passte Markus ja irgendwann zu dem Leben, das sie sich so wünschte. Vielleicht war auf ihn Verlass, zumindest mehr als auf ihn. Aber vielleicht gab er ihr auch einfach das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden, denn Hunde liebten schließlich bedingungslos, was immer man ihnen auch antat.

Die verlorenen Tage auf Restalkohol verursachten in ihm oft einen melancholischen Wunsch nach den Varianten seines Lebens, die er hätte führen können. Nachher würde er möglicherweise in den alten Fotoalben blättern, die Susanna ihm nach der Trennung überlassen hatte, als hätte sie ihm die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit überlassen. Sie war an Anhaltspunkten nicht interessiert. Sie hatte einen Schlussstrich gezogen, ihn in ihre Vergangenheit einsortiert und die Verbindungen gekappt. Seit ihrer Trennung waren sie sich nie wieder begegnet. Keine seiner Ex-Freundinnen war noch Teil seines Lebens. Er kannte eigentlich nicht wenige Leute, die auch nach der Trennung ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Es mochte wohl daran liegen, dass in keiner seiner Beziehungen Freundschaft entstanden war.

Er hustete, und als er wieder in den Spiegel sah, waren seine Augen noch geröteter. Eigentlich wäre sich wieder ins Bett zu legen und den Tag zu ignorieren, bis es ihm besser ging, die beste Idee, aber er hörte sogar hier das gnadenlose Vogelgezwitscher, das durch die geöffneten Küchenfenster drang. Er putzte sich die Zähne, nahm Augentropfen und ging wieder in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Während der Kaffee durchlief, versuchte er noch einmal zusammenzuzählen, wie viel er gestern getrunken hatte, aber irgendwann gab er es auf.

Dann fiel ihm Christoph ein – den hatte er gestern kennengelernt, jetzt erinnerte er sich wieder. Er war ihm nicht unsympathisch gewesen, obwohl sein Leben eine komplizierte Verflechtung von Kompromissen war, eingestandenen und uneingestandenen. Vor allem aber uneingestandenen. Die unvollendeten Pläne, deren Umsetzung er immer wieder aufgeschoben hatte, bis sie immer unschärfer wurden, um sich langsam in den halbherzigen Rechtfertigungen aufzulösen, mit denen er anderen die Schuld für seine Lage gab. Vor allem seiner Freundin.

Andreas bemerkte, dass er von der Begegnung und Christophs Beschreibungen seines Alltags erstaunlich viel abgespeichert hatte, wahrscheinlich weil auch das ein erschreckend gutes Material war für eine irgendwie tragische Geschichte. Es gab keinen Müßiggang in Christophs Leben. Keine Unbeschwertheit. Sein Alltag war mit Erledigungen vollgepackt, als hätte er eine ungeschriebene To-do-Liste, die er täglich abarbeiten müsste, er hastete von einem Punkt zum anderen, hakte ihn ab und begann, die nächste Aufgabe zu erfüllen. Alles war minutiös geplant. Christoph war immer in Bewegung, wie auf der Flucht, so schien es Andreas. Er konnte nur nicht richtig einordnen, wovor. Wahrscheinlich flüchtete er davor, mit seinen Gedanken allein zu sein und es herauszufinden. Die Gedanken an diesen Typen erschöpften Andreas aus irgendeinem Grund. Wahrscheinlich war er ihm nur in seiner Tragik sympathisch gewesen, dachte er.

Mit seinem Kaffee setzte er sich ins Wohnzimmer an den großen Esszimmertisch, den er als Schreibtisch nutzte, und betrachtete den Laptop, auf dem sich zahllose Dokumente mit ausgearbeiteten, umgearbeiteten und wieder verworfenen Szenen sammelten, die er dann doch nicht gelöscht hatte. Er hatte sich in den Anfängen verfangen. Es gab viele vage Ideen, aber keine entsprach dieser einfallsreichen, interessanten und gut erzählten Geschichte, die er sich so wünschte. Eine Geschichte, die alles enthielt, was er erlebt, gesehen und begriffen hatte. Manchmal dachte er, es sei gar nicht so unwahrscheinlich, dass er nicht voran kam, weil er bisher einfach zu wenig erlebt, gesehen und begriffen hat – mit der Betonung auf begriffen.

Er hatte den Fehler gemacht, in den letzten Jahren einfach zu viel über den Roman gesprochen zu haben, mit jedem hatte er sich darüber unterhalten, ihre interessierten Blicke genossen, die seine Eitelkeit befriedigten. Das hatte ihm den Schwung genommen, denn das Projekt, über den Roman zu reden, hatte das Projekt, den Roman zu schreiben, ersetzt. Es war ein Berliner Prinzip, dass ja auch auf Martin zutraf, der an der UdK Bildende Kunst studiert hatte und eigentlich Gemälde malte, aber seit acht Jahren vorübergehend als Barkeeper arbeitete. Eine Zwischenlösung, die zu einem Dauerzustand geworden war. Inzwischen hatte er sich in diesem Übergang eingerichtet. Er hatte die Karriere gewechselt, ohne dass es ihm aufgefallen war. Wenn ein Übergang acht Jahre dauert, ist er zu einem Leben geworden. Manchmal hatte Andreas den Eindruck, dass Martin die Metapher für sie alle war. Adaptiert traf es ja auf sie alle in allem zu, in der Liebe, im Job, im Leben. Sie hatten sich auf dem Weg zu einer perfekten Idee eines Lebens verfangen und die Dinge aus den Augen verloren, die ihnen einmal wichtig waren. Indem sie über sie redeten, klammerten sie sich an ihre Illusionen, doch in Wirklichkeit waren sie ihnen längst entglitten.

Sein Blick fiel auf die iTunes-Wiedergabeliste, die Leonies Namen trug, auf das Mixtape, dass er begonnen hatte, für sie zusammenzustellen. Sie war eine dieser Frauen, der man ein Mixtape zusammenstellen wollte, so banal das auch klingen mochte, aber letztlich ließ sich seine tiefempfundene, rauschhafte Begeisterung für eine Frau nicht treffender zusammenfassen. Solchen Frauen begegnete man nur ein paar Mal im Leben. Oder nur einmal. Dieses Mixtape mit Songs, die ihm wichtig waren, war eine unvollendete Liebeserklärung, ein nie zu Ende geführter Entwurf. Er hatte ihn nie gelöscht, weil es sich irgendwie nie ergeben hatte, obwohl es schon drei lange Jahre her war.

Plötzlich spürte er, wie sehr er Leonie vermisste, Leonie und das Leben, dass sie hätten führen können. Noch eine Illusion, die er später ein wenig pflegen würde, streicheln, liebkosen und vielleicht sogar beweinen. Seine Stimmung kippte langsam ins Selbstmitleid, wie er bemerkte, aber auch das konnte man genießen. Weinen kam ja nicht mehr so oft vor, und er genoss es schon sehr, als würde man loslassen, die Kontrolle abgeben, sich in sich selbst auflösen, was auch immer. Er wusste, dass die Sehnsucht und das Selbstmitleid mit dem schwindenden Kater ebenfalls schwinden würden, aber in dem Zustand, in dem er gerade war, kam alles wieder hoch. Er versuchte abzuwägen, ob es seine Verfassung zuließ, am Abend noch ins Kino zu gehen. Er ging in letzter Zeit oft ins Kino, vielleicht, weil die Bilder auf der Leinwand den Gedanken in seinem Kopf glichen, vielleicht auch, weil er die emotionalsten Momente seines Lebens erlebte, wenn er Kinofilme sah.

Der Kaffeeduft füllte den Raum, der Geruch eines Sonntagmorgenfrühstücks an einem Samstagnachmittag. Er befand sich praktisch in einer anderen Zeitebene.

Er überlegte kurz, joggen zu gehen, um den Alkohol auszuschwitzen, ging dann aber ins Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett fallen ließ. Als er auf dem Rücken lag, mit leerem Blick zur Zimmerdecke starrte, begriff er erst wirklich, wie erschöpft er eigentlich war. Seine Hand suchte nach der Fernbedienung. Er wollte Stimmen hören, es war ihm egal, was sie sagten, es war nur wichtig, das unbestimmte Gefühl zu haben, nicht allein zu sein. Bevor er einschlief, versuchte er sich zu erinnern, mit wie vielen Frauen er in den letzten zwei Monaten geschlafen hatte. Es waren zehn. Nur einer konnte er noch einen Namen zuordnen.

Dann fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

#EGOLAND

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