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ZWEITER TEIL INCEPTION DIE WAHRHAFTIGKEIT DES MOMENTS

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Die Stille der Bänschstraße verlor sich, als Christoph in die Pros­kauer Straße einbog. Er wandte sich nach links und überquerte zwei Kreuzungen, bis er die Frankfurter Allee erreichte. Er hasste die Kreuzung, an der aus der Proskauer die Niederbarnimstraße wurde, die Kreuzung mit dieser unmöglichen Ampelschaltung, deren kurze Grünphasen Passanten nur erlaubte, die sechsspurige Straße in zwei Etappen zu überqueren. Die Hierarchien waren festgelegt, die Autofahrer siedelten höher in der Rangordnung.

Wie immer fluchte er leise, als er den Mittelstreifen erreichte und die Ampel auf Rot sprang. Während er wartete, beobachtete er kopfschüttelnd eine Fahrradfahrerin, die auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vorüberfuhr. Er verstand manche Leute nicht, die Frau trug zu einem Fahrradhelm eine dieser schrecklichen reflektierenden Westen, die man immer häufiger in der Stadt sah und in denen sie wirkten, als würden sie bei der Stadtreinigung arbeiten. Wenn sie wenigsten schneller gefahren wäre, dann hätte er es verstanden, aber ihr Fahrstil bot nicht einmal irgendeinen Ansatz von Risiko. Sie würde keinen Unfall vermeiden können, weil es keine Möglichkeit gab, einen Unfall zu verursachen. Sie hätte das Fahrrad auch schieben können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Er war auch schon Leuten in diesen Westen beim Einkaufen begegnet, sie schienen im Begriff zu sein, die Stadt zu übernehmen.

Der Wein wirkte. Er lief wie betäubt die belebte Niederbarnimstraße hinunter, als wäre er in einer anderen Zeitebene, in der ihn niemand wahrnahm. Er wusste nicht, was sein Ziel war, er hatte keinen Plan. Wenn er nach einer Empfehlung gefragt wurde, wo man in Friedrichshain ausging, wusste er nicht, was er antworten sollte. Er lebte hier, aber er ging in der Gegend nicht aus. Er ging ja generell kaum noch aus. Die Empfehlungen, die ihm einfielen, waren Touristenattraktionen, so wie der Simon-Dach-Kiez, der für Touristen entworfen zu sein schien. Leute, die seit einem Jahr in Berlin lebten, kannten die Stadt besser als er, Leute wie Erik, aber so war es ja immer, die Zugezogenen waren immer die begeistertsten Berliner.

In der Simon-Dach-Straße verlangsamte er seine Schritte und blickte in die großen Fenster der Restaurants, in denen Menschen zu sehen waren, die seine These bestätigten. Die Straße war voller Betrunkener. Er bog in die Grünberger Straße ein, um vor ihnen zu fliehen.

Ich werde nie Christophs Blick vergessen, als er mit mir zum ersten Mal über den Abend sprach, als er sagte, dass, wenn er sich später erinnerte, die Zeitabläufe rekonstruierte und die Zusammenhänge verstand, er diese Szene vor Augen gehabt habe: wie er an der belebten Kreuzung nach links abbog. Hätte er sich entschieden, nach rechts zu gehen oder eine Kreuzung weiter in die Krossener Straße einzubiegen, wäre er ihm nie begegnet, sein Leben wäre nicht derart aus den Fugen geraten, es würde ihm zwar nicht gut gehen, aber zumindest gut genug. Und nichts wünschte er sich mehr, als er nur einige Monate darauf auf die Trümmer seines zerfallenen Lebens blickte.

Christoph hätte das schlichte Schild, auf dessen rotem Grund in weißen Buchstaben das Wort »Bar« leuchtete, fast übersehen, und darum ging es wohl auch. Er zog an der Tür, die sich überraschend schwer öffnen ließ, und betrat einen langen, schmalen Raum, dessen linke Seite von einem langgezogenen Tresen eingenommen wurde, an dem sich die Gäste drängten. Der Raum war überfüllt und die Luft voller Zigarettenqualm. Unzählige Gespräche mischten sich zu einem breiten, unentwirrbaren Strom, überlagert von viel zu lauter elektronischer Musik.

Fast wäre er wieder umgekehrt, aber dann fiel ihm etwas auf, das ihn zurückhielt. Dieser Raum wirkte, als habe er sich in der Gegend geirrt, er passte nicht nach Friedrichshain, und auch die Gäste unterschieden sich von den Leuten, die in den anderen Restaurants und Bars saßen. Er drängte sich durch die Menge, trat an den Tresen und versuchte, über die Köpfe der Gäste hinweg den Blick von einem der drei Barkeeper zu fangen. Niemand achtete auf ihn, als wäre er nicht da. Er begriff, dass er hier stehen konnte, so lange er wollte, seine Anwesenheit würde unbemerkt bleiben. Normalerweise hätte ihn das gestört, aber während sein Blick über die Gäste glitt, spürte er, wie er es genoss, in diesem überfüllten Raum allein zu sein, zu beobachten und sich vorzustellen, worüber die anderen sprachen.

Es gibt Menschen, die auf den ersten Blick unser ganzes Interesse wecken, ganz unvermittelt, bevor überhaupt ein Wort gewechselt wurde. Diesen Eindruck machte auf Christoph ein Gast an der Stirnseite des Tresens, der sich mit einem der Barkeeper unterhielt, einem großen, muskulösen Mann mit Glatze, der nebenbei Cocktails mischte und dessen schallendes Lachen gerade durch den langen Raum dröhnte. Der Mann im dunklen Jackett war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Sein blasses Gesicht mit der hohen Stirn unter dem kurz geschnittenen blonden Haar besaß eine eigenartige Anziehungskraft. Er trug ein dunkles Jackett zu einem schwarzen T-Shirt und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Christoph stellte sich neben sie und hörte ihnen ein bisschen zu, während er auf einen Drink wartete, den er noch gar nicht bestellt hatte. Wieder ein Gedanke, der ihm gefiel. Als er sich neben sie stellte, nickte ihm der Unbekannte zu, als würden sie sich kennen. Dann wandte er sich zum Barkeeper, um das unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen.

»Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal auf ’nem Konzert war«, sagte er.

»Ich war ja letztens bei einem Secret Gig von Prinz Pi, ziemlich cool, im Lido war das«, sagte der Barkeeper, während er sehr viel Russian Standard in ein Cocktailglas goss. Er drapierte ein Stück Limone an den Rand des Glases und stellte es auf eine der quadratischen Servietten, die vor einem Mann und einer Frau lagen, die wirkten, als hätten sie gerade ein Date. Sie wechselten ein paar Worte, die von dem dröhnenden Lachen des Barkeepers unterbrochen wurden.

»Ich find das ja immer so krass bei den Konzerten«, knüpfte der Barkeeper nahtlos an, als er zurückgekehrt war. »Wenn man mit seinem Bier so hinten an der Bar steht und zur Bühne guckt und alle ihre Handys hochhalten, um Fotos zu machen. Du hast nur die Handy-Displays gesehen, so ein leuchtendes Meer aus Handy-Displays. Das war unglaublich, das hab ich noch nie gesehen. So krass ist es mir jedenfalls vorher noch nie aufgefallen. Man hat Prinz Pi kaum noch gesehen, der war irgendwie nur noch im Hintergrund.«

»Hast du Das erstaunliche Leben des Walter Mitty gesehen?«, fragte der Unbekannte.

Der Barkeeper verzog schmerzvoll das Gesicht: »Mit Ben Stiller? Na ja, hab ich nach ’ner halben Stunde ausgeschaltet. Bin da irgendwie nicht reingekommen.«

»Aber«, sagte der Mann und hob die Hand, »da gibt’s diese Szene, die ist gut, die ist wirklich gut, die einzige Szene mit Sean Penn. Er ist ja dieser Fotograf, der das perfekte Foto machen will.«

»Soweit bin ich gar nicht gekommen.«

»Okay, ist ja auch egal. Jedenfalls will er den perfekten Moment festhalten, ja? Also er sitzt in dieser Gebirgslandschaft und wartet, und dann, als der Moment dann da ist, drückt er nicht auf den Auslöser.« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Und weißt du, warum? Weil er den Moment nicht versauen will. Er sagt, wenn ihm ein Moment gefällt, dann will er nicht, dass ihn die Kamera irgendwie ablenkt. Dann will er ihn einfach nur genießen.« Er überlegte kurz. »In ihm verweilen, sagt er. ›Dann will ich einfach nur in dem Moment verweilen.‹« Den letzten Satz sprach er mit einer gewissen Würde aus, er schien es zu genießen, diese Worte auszusprechen. »Eigentlich traurig, die Leute haben verlernt, die Momente zu genießen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, sie zu dokumentieren.«

»Ich muss das nicht filmen, ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Art«, hörte er den Barkeeper nach einer Pause sagen.

»Lost Highway«, sagte der Mann im dunklen Jackett.

Der Barkeeper nickte. »Cooler Film.«

»Stimmt, sollte man allerdings nicht bei ’nem Date gucken.«

Der Barkeeper lachte wieder dieses dröhnende, viel zu laute Lachen.

Nach einer kurzen Pause, in der sich der Unbekannte eine Zigarette anzündete, sagte er: »Es geht auch gar nicht um den Moment. Der Moment ist nur noch Nebensache, wie dieser Rapper im Lido.«

»Und worum geht’s dann?«

»Es geht um einen Beweis. Sie wollen beweisen, wie aufregend ihr Leben ist. Die wollen beweisen, dass sie glücklich sind. Das Konzert ist nur ein Mittel, um der Welt zu zeigen, wie aufregend ihr Leben gerade ist.«

»Muss ja schließlich auf Instagram gepostet werden«, sagte der Barkeeper. »Da haste nun auch wieder recht.«

Warum er etwas sagte, konnte Christoph sich, auch wenn er später daran zurückdachte, nicht erklären. Er hatte sich noch nie in die Unterhaltung Fremder eingemischt, aber er ging ja auch ungern allein in Bars oder Restaurants, und jetzt war er hier.

»Die Frage ist nur, ob man wirklich glücklich ist, wenn man unbedingt beweisen muss, wie glücklich man ist«, hörte er sich sagen.

Die beiden Männer wandten sich zu ihm, der Barkeeper lächelte ein unverbindliches Lächeln, als versuche er ihn zuzuordnen oder einzuschätzen. Der Unbekannte sah ihn aufmerksam an. Christoph spürte einen leichten, inneren Widerstand, bevor er weitersprach. »Wenn man postet, wie glücklich man ist, setzt es nicht voraus, dass man glücklich ist. Eher das Gegenteil.«

»Mit anderen Worten«, sagte der Unbekannte, »jeder, der sein Leben zur Schau stellt, kompensiert letztendlich, dass das nicht der Fall ist?«

»So gesehen, ja«, antwortete Christoph nach kurzem Zögern. Sein Gegenüber sah ihn an. »So gesehen sind wir also alle unglücklich.«

»Darüber denkt doch keiner nach, wenn er was postet«, sagte der Barkeeper.

»Vielleicht ist genau das das Problem«, gab er zurück. »Vielleicht sollten sie mal darüber nachdenken.«

Als er sich eine neue Zigarette angezündet hatte, hielt er die Schachtel in Christophs Richtung. Einen Moment lang wollte er ablehnen, es war die Routine eines Rauchers, der sich und anderen einreden wollte, ein Nichtraucher zu sein, aber heute war er ja offensichtlich dabei, seine Routinen hinter sich zu lassen. Er betrachtete den Schriftzug auf der Packung.

»Parisienne. Kenn ich gar nicht«, sagte er und fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel, nahm das Feuerzeug, das auf dem Tresen lag und zündete sie sich an. Sie war leichter als er erwartet hatte.

»Andreas«, sagte der Mann im dunklen Jackett und gab ihm die Hand.

»Christoph«, sagte Christoph.

»Was trinkst du?«, fragte der Barkeeper.

Sein Blick fiel auf Andreas’ Glas.

»Gin Tonic«, sagte Andreas, der seinem Blick gefolgt war.

»Ich nehm einen Gin Tonic.« Christoph zeigte auf das Glas. Der Barkeeper nickte, als hätte er die richtige Wahl getroffen, als wäre ein Gin Tonic genau der Drink, der zu ihm passte.

»Hier, setz dich doch.« Andreas wies auf den unbesetzten Barhocker neben ihm, der Christoph erst jetzt auffiel. Der Barkeeper legte eine dunkelblaue, quadratisch gefaltete Serviette auf den Tresen neben ein goldfarbenes Metallschild, auf das das Wort »Reserviert« graviert war.

Als Christoph sein Jackett an einen der Haken unter dem Tresen gehängt und sich gesetzt hatte, sagte Andreas: »Wusstest du, dass Brecht die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt hat.«

»Wer?«

»Bertolt Brecht.«

»Ah, Brecht«, sagte Christoph, als würden in seinem Alltag ständig Brecht-Zitate fallen. »Und in welche?«

»In die, mit denen er reden, und die, mit denen er nicht reden würde«, sagte Andreas.

Christoph lachte. »Klingt nach ’nem guten Ansatz.«

Der Barkeeper schien zustimmend zu nicken, als er den Gin Tonic servierte.

Drei Stunden später spürte Christoph, dass etwas in ihm aufgebrochen war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so viel geredet hatte. Er hatte Andreas sein Herz ausgeschüttet, was sicherlich auch daran lag, dass man sich Fremden ja am ehesten öffnete. In Gesprächen mit ihnen war man von den Konsequenzen seiner Aufrichtigkeit befreit, man würde sich nie rechtfertigen müssen, weil das Gegenüber keine Verbindungen zu dem erzählten Leben hatte. Man bewegte sich in einer Welt ohne Folgen. Und daran lag es wohl, dass er Andreas alles erzählt hatte. Andreas wusste nun von Julia, der Wohnung in der Bänschstraße, er wusste von Karnowski, Hauke und Erik. Christoph hatte ihm sogar von seiner Band erzählt, die sie aufgelöst hatten, als er Mitte zwanzig war, vielleicht weil es der erste Traum war, den er aufgegeben hatte.

Andreas hatte ebenfalls sehr viel geredet, allerdings auf eine Art, die nicht vereinnahmend war. Christoph mochte die Dinge, die er erzählte, und er mochte, wie er sie erzählte. Sie beschäftigten sich mit den gleichen Dingen, dachte er, auf verschiedene Weise beschäftigten sie sich mit den gleichen Dingen, die sie durch die Folien ihrer Leben betrachteten. Es gab sogar ganz kurze Momente, in denen er davon überzeugt war, dass ihre Seelen verwandt waren, was daran liegen konnte, dass er den Eindruck hatte, dass Andreas ihm zuhörte, also wirklich zuhörte, oder auch am Alkohol – er konnte sich schließlich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so viel getrunken hatte.

Er wusste jetzt, dass sie praktisch Nachbarn waren. Andreas lebte in der Karl-Marx-Allee, diesen mächtigen Gebäuden, die Christoph immer ein wenig einschüchterten. Und er wusste nun auch, dass Andreas einen Roman geschrieben hatte, dessen Name ihm sogar ein Begriff war, weil Erik bei einem ihrer Abendessen über das Buch referiert hatte, als hätte er den Autor entdeckt. Jetzt war Erik nur eine Person von dem Autor entfernt, der ihn so beeindruckt hatte, dachte er. Er war die Verbindung, dachte Christoph mit einem nicht unangenehmen Gefühl, ein Insider sozusagen.

Es kam immer mal wieder zu kurzen Unterhaltungen mit anderen Gästen, die Andreas darauf ansprachen, wie er mit seinem Buch vorankam, als wäre es eine Begrüßungsfloskel. Andreas antwortete mit einer gewissen Routine, wie gut sich die Dinge entwickelten, aber wenn sie wieder unter sich waren, begannen seine Augen zu leuchten, wenn ihr Gespräch den Roman berührte. Als würde er Christoph mehr erzählen wollen, als er den anderen bereit war preiszugeben. Es war angenehm, ihm zuzuhören, wie er über die Figuren des Buches sprach, als wären sie Teil seines Freundeskreises, wie er erzählte, dass von einer Figur nur das Allgemeine blieb, das, worin sich der Leser wiedererkannte. Es war ein Großstadtroman, eine Mischung aus einem psychologischen und natürlich einem Liebesroman, erzählte Andreas. Ein Buch über den Zustand der Gesellschaft, deren sittlicher Verfassung. »Der große Spiegel«, sagte Andreas mit einem Lächeln. »Natürlich nur, wenn ich es so hinkriege, wie ich mir das vorstelle.«

Ihr Gespräch glitt in immer neue Zusammenhänge, aber es gab ein Thema, dass stets aufkam, als wäre es der Fixpunkt ihrer Unterhaltung, das Zentrum gewissermaßen, der Ausgangspunkt, aus dem sich alle Themen ergaben: die Frauen. Er ahnte, dass Andreas eine unerfüllte Liebe noch nicht abgeschlossen hatte. Er hatte sie nicht erwähnt, nicht einmal angedeutet, aber wenn ein Gespräch die Liebe so oft berührte, setzte das praktisch unerfüllte Liebe voraus. Die Liebe war das Thema der unglücklich Verliebten, dachte er. Sie waren zwei Männer mit Liebeskummer, das verband sie, obwohl er ja eigentlich gar keinen Liebeskummer hatte, es war wohl nur ein Gedanke, der ihm gefiel.

»Der oder die Geliebte ist nicht das Entscheidende, wenn es um die wahre Liebe geht«, sagte der Barkeeper gerade.

»Klingt nach Kundera«, sagte Andreas.

»Ist es auch«, der Barkeeper nickte.

»Also ganz ehrlich, ich verstehe nicht, warum so viele Frauen Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins so toll finden. Genau genommen ist das Buch doch nichts anderes als ein Argument dafür, dass Männer fremdgehen dürfen.«

»Da hast du nun auch wieder recht«, lachte der Barkeeper. »Aber Weltliteratur.«

»Es ist manchmal besser, wenn die Dinge in der Unschärfe bleiben«, sagte Andreas.

»Inwiefern?«

»Wenn mich meine Freundin betrügt, will ich das nicht wissen.«

»Ich auch nicht«, sagte der Barkeeper.

Andreas sah Christoph an: »Wenn dich deine Freundin betrügt, würdest du das wissen wollen?«

»Kommt drauf an«, sagte Christoph.

»Worauf?«

Christoph dachte an Hauke und stellte sich vor, wie Melanie den Brief in der Hand hielt, ihn öffnete, den Moment, in dem ihre Züge entgleisten, ein Moment, in dem sich ein Schatten auf ihre Beziehung legte, und ganz kurz hatte er das Gefühl, als würden sie über die beiden reden, obwohl sie sich ja gar nicht kannten.

»Wenn’s ein Ausrutscher ist, will ich das nicht wissen«, sagte er.

»Genau. So seh ich das auch«, sagte der Barkeeper. »Manche Dinge sollten lieber unausgesprochen bleiben.«

»Frauen haben Geheimnisse«, sagte Andreas. »Menschen haben Geheimnisse. Also jetzt mal ganz ehrlich. Ich meine, wen kennt man denn wirklich im Leben? Wenn du wüsstest, wie deine Julia über dich denkt, also wie sie wirklich über dich denkt, wärt ihr doch gar nicht mehr zusammen. Und umgekehrt wär’s genauso.«

»Na ja.« Christoph machte eine abwehrende Geste, obwohl er es schon erschreckend fand, dass Andreas’ Worte so viel Sinn ergaben.

»Das find ich ja auch so schlimm heutzutage«, wechselte Andreas das Thema. »Wenn man jemanden kennenlernt, durchforstet man erstmal das Internet nach ihm oder man befreundet sich bei Facebook oder folgt dem anderen bei Instagram oder was weiß ich, was es noch so alles gibt inzwischen. Man versucht, ein Geflecht vermeintlicher Verbindungen zu schaffen, die nur einen Nutzen haben: schnellstmöglich so viel wie möglich über den anderen herauszufinden. Als versuche man, ihm alle Geheimnisse zu entreißen.«

»Nimmt einem auf jeden Fall die Unvoreingenommenheit«, sagte Christoph.

»Genau, die Leute lernen sich doch nicht mehr unbefangen kennen. Ich meine, ich mach’s ja auch.«

»Jeder macht das.«

»Wir sind alle Voyeure«, sagte Andreas. »Wir sind Spanner, und wenn wir Gefühle entwickeln, werden wir zu Stalkern.«

»Aber so sind die Leute«, sagte der Barkeeper. »Darum gucken sich auch alle diese Reality-Formate an.«

»Du meinst die, die sich eigentlich niemand anguckt«, sagte ­Christoph.

»Genau.« Andreas grinste. »Die sich eigentlich niemand anguckt.«

Nachdem sie angestoßen und Andreas an seiner Zigarette gezogen hatte, sprach er davon, dass das Leben wie ein Gewebe war, dessen Fäden sich an unzähligen, unerwarteten Stellen kreuzten, die einem meistens verborgen blieben.

Er sagte, dass er sich manchmal wie jemand fühlte, der so nah vor einem impressionistischen Gemälde stand, dass er nichts sehen konnte, und dass er sich gelegentlich wünschte, er könnte einen Schritt zurückgehen, um das Bild zu erkennen, um zu verstehen, wie alles zusammenhing. Aber dann, sagte er, hätte er begriffen, dass er das doch gar nicht wollte. Es waren schließlich die Geheimnisse, die uns antrieben. Die Neugier. Wenn man alles wüsste, wenn es keine Neugier mehr geben müsste, wäre das das Ende.

»Es ist eine allgegenwärtige Transparenz, aus der eine Welt ohne Geheimnisse entsteht!«, rief Andreas eindringlich. »Absolute Transparenz ist die Apokalypse unserer Zeit.«

»Ganz ehrlich«, sagte Christoph, der inzwischen wirklich betrunken war, »ich kann dir nicht mehr folgen.«

»Ganz ehrlich«, lachte Andreas, »ich mir auch nicht.« Er dachte einen Moment lang nach, bevor er fortfuhr. »Aber kennst du diese Paare, die man manchmal im Restaurant sieht? Die sich gegenüber sitzen, ohne ein Wort zu wechseln?«

»Die haben’s verstanden«, lachte der Barkeeper. »Da wird nicht mehr diskutiert, da wird nur noch drüber geschwiegen.«

»Und diese Leute, das ist meine Theorie, das sind Leute, die alles besprochen haben. Die schweigen, weil alles gesagt ist. Sie haben das Interesse aneinander verloren, weil es nichts mehr am anderen gibt, was sie überrascht, weil es keine Geheimnisse mehr gibt, und wenn man alles über einen weiß, gibt es nichts mehr zu besprechen. Inzwischen können sie auf ihr Handy sehen, um das zu kaschieren, aber das ist eigentlich noch tragischer.«

»Keine Liebe überlebt die Sprachlosigkeit«, sagte der Barkeeper, wahrscheinlich mal wieder ein Kundera-Zitat, dachte Christoph und nahm sich vor, irgendwann mal etwas von ihm zu lesen. Dann wiederholte er den Satz noch einmal in Gedanken, bevor er mit einem Kopfnicken den nächsten Drink bestellte: Keine Liebe überlebt die Sprachlosigkeit.

Als Christoph vor der Morgendämmerung auf die Toilette flüchtete, waren er und Andreas keine Fremden mehr. Mit jedem neuen Drink kannten sie sich besser. Andreas’ Leben hatte sich in den letzten Stunden vor ihm aufgefächert, und Christoph blickte sehnsüchtig darauf wie auf das grünere Gras auf der anderen Seite des Gartenzauns. Er beschrieb das, was Christoph sich wünschte, kein Nine-to-five-Leben, ein Leben jenseits der Festanstellung. Er war niemandem verpflichtet, nur sich selbst. Er hatte natürlich das Glück, dass sich sein letztes Buch so gut verkaufte und damit das Glück, davon leben zu können.

»Die meisten Schriftsteller, die ich kenne, sind Hartz IV-Empfänger«, hatte Andreas gesagt.

Christoph wusste nun auch von dem Druck, der dadurch auf Andreas lastete, von den Ansprüchen, die er an sich selbst stellte, dass das Schreiben mit der Zeit nicht leichter wurde, sondern immer schwerer fiel. Ihre Leben schoben sich übereinander, bildeten Schnittmengen, jeder neue Drink legte neue, tiefere Schichten frei, so schien es Christoph. Andreas hatte über die Dinge nachgedacht, die er nur als Grundgefühl, als eine Ahnung, die er noch nicht in Worte gefasst hatte, wahrnahm. Als würde er Fragen beantworten, die Christoph noch nicht gestellt hatte. Das hatte er bisher nur in Songs von Bands erlebt, die ihm etwas bedeuteten, eher auf einer emotionalen als auf einer intellektuellen Ebene. Die letzten Stunden waren wie im Flug vergangen war. Der Lufthansa-Pilot, mit dem er sich kurz unterhalten hatte, als er zum ersten Mal auf der Toilette war, war gegen vier gegangen, nach dem elften Cuba Libre, weil er am nächsten Tag um zehn Uhr dreißig fliegen musste, also drei Stunden später. »Wenn ich mich mal irgendwo festgesoffen habe, bekommt mich da keiner mehr weg«, hatte er zum Abschied gesagt. Christoph hatte gelacht, obwohl er es eher beängstigend fand. Mit solchen Sätzen begannen Katastrophenfilme, hatte er gedacht, als er dem Piloten die Hand gab.

Als Christoph von der Toilette in den Barraum zurückkehrte, waren Andreas und er mittlerweile die letzten Gäste und Andreas und sein Freund hinter der Theke in ein Gespräch vertieft, für das seine Kondition nicht mehr reichte, um einzusteigen.

»Ich steh gar nicht so auf große Brüste«, sagte der Barkeeper gerade.

»Ich auch nicht«, sagte Andreas. »Frauen mit großen Brüsten sind auch meistens scheiße im Bett.

»Stimmt«, sagte der Barkeeper. »Hab ich auch schon festgestellt.«

»Und weißt du, was ich festgestellt habe?« Der Barkeeper machte eine Kunstpause. »Psychopatinnen sind am besten im Bett. Meine Ex-Freundin, also die war ja wirklich schwer psychotisch, du kennst ja die Storys … Aber: der beste Sex, den ich je hatte.«

Andreas nickte, als wüsste er genau, was er meinte.

»Hast du deine Irre mal wieder gesehen?«, fragte der Barkeeper. »Oder ist die immer noch in der Klinik?«

»Immer noch, sie ist doch drei Monate drin. Die hat mir vorgestern geschrieben, dass sie totale Lust auf Drogen hat, aber gleich wäre ja Tablettenausgabe.«

»Oh Mann«, sagte der Barkeeper.

»Ich weiß«, sagte Andreas. »Man hat ja immer diese Bilder im Kopf, aus diesen amerikanischen Horrorfilmen.«

»Also was du immer für Frauen kennenlernst.«

»Wer ist denn die Irre?«, fragte Christoph.

»Die ist nicht irre. Eher eine traurige, verwundete Seele«, sagte Andreas mit einem gewissen Pathos.

»So kann man’s natürlich auch sagen.« Der Barkeeper lachte. »Und was ist aus dieser Johanna geworden? Die war doch sympathisch.«

»Wer ist denn Johanna?«

»Oder wie hieß die? Oh Mann, bei dir blick ich inzwischen gar nicht mehr durch. Diese Halbchilenin mein ich.«

»Ach, Hannah hieß die.«

»Genau, Hannah, die war doch sympathisch.«

Andreas verzog schmerzvoll das Gesicht.

»Aber war mal wieder kompliziert, oder was?«, grinste der Barkeeper. »Nach zwei Wochen wird’s bei dir immer kompliziert. Ist dir das schon mal aufgefallen?«

»Die hat immer drei Tage gebraucht, um eine Nachricht zu beantworten.«

»Also das ist richtig nervig.« Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Diese Spielchen. Wenn das schon so anfängt. Manchmal frag ich mich wirklich, was mit den Leuten los ist.«

»Als hätten sie eine Gebrauchsanweisung gelesen, um interessanter zu wirken«, sagte Andreas. »Die falsche Gebrauchsanweisung.«

»Oder die richtige. Eigentlich musst du das in Gedanken nur umkehren. Wie reagierst du denn, wenn die Frau schon nach dem ersten Date schreibt, dass ihr Seelenverwandte seid.«

»Stimmt«, sagte Andreas.

»Wenn einem die Frau egal ist, macht man alles richtig. Du musst die Frauen, die dir etwas bedeuten, genauso behandeln wie die, die dir egal sind.«

»Ich weiß.«

»Du bist einfach immer zu schnell zu begeistert.«

»Verliebtheit ist Überhöhung«, sagte Andreas bestimmt, »und wenn ich mich verliebe, bin ich wieder ein unbeholfener Teenager, alle Erfahrungswerte zählen nicht mehr.«

»Die Frage ist, ob es Verliebtheit ist. Bei dir klingt das alles eher nach Projektion. Du suchst keine Liebe, du suchst ein Ebenbild.«

»Kannst du mal aufhören, mich zu analysieren?«, lachte Andreas.

»Ein guter Barkeeper ist auch ein Psychologe«, sagte der Barkeeper grinsend. »Wenn du mit einer Frau schreibst, musst du mit einer Antwort immer einen Tag länger brauchen als sie, das ist die Regel. Aber ich kannte mal eine, die hat sich nie von selbst gemeldet. Ich hab die Fragen gestellt, sie hat drei Tage später geantwortet. Das war unerträglich. Ständig habe ich mein Handy überprüft, ob sie geschrieben hat. Ich hab dann ihre Nummer gelöscht und unseren WhatsApp-Chat, um nicht in Versuchung zu geraten, mich doch zu melden oder betrunken irgendwelche Nachrichten zu schreiben.«

»Die du später bereust«, sagte Andreas. »Das kenn ich.«

Christoph betrachtete die beiden Männer, die sich unterhielten, als wäre er nicht mehr vorhanden, und die über Probleme sprachen, die ihn mit Anfang zwanzig beschäftigt hatten. Er stellte fest, wie froh er war, sich nicht mehr mit so etwas auseinandersetzen zu müssen.

»Männer und Frauen sind nun mal natürliche Feinde«, sagte der Barkeeper abschließend.

»Ja, manchmal hab ich tatsächlich den Eindruck«, erwiderte Andreas. »Aber bei Hannah hat das sowieso nicht gepasst. Die war so verspannt, die war so …« Er suchte nach den passenden Worten. »Die war so leidenschaftslos.«

»Leidenschaftlich sind eben nur Psychopatinnen«, sagte der Barkeeper. »Darum sind die ja auch am besten im Bett.«

Christoph lächelte, obwohl er schon fand, dass das eine erschreckend zynische Verallgemeinerung war, aber er nahm das Gespräch gar nicht mehr richtig wahr und war inzwischen auch zu erschöpft und zu müde, um sich mit diesem Gedanken noch in das Gespräch einzubringen. Eigentlich wollte er ja seit einer Stunde aufgestanden sein, um endlich mal wieder Joggen zu gehen. Er hatte es im Laufe des Abends immer weiter verschoben, nach jedem Blick auf die Uhr um eine weitere Stunde, bis er es irgendwann verworfen und auf Sonntag vertagt hatte, obwohl an den Sonntagen die Parks von den zahllosen Läufern praktisch kolonisiert wurden.

Er dachte noch einmal an die Diktiergerätgeschichte, die Andreas irgendwann zwischen drei und fünf Uhr morgens erzählt hatte. Als er an seinem letzten Roman gearbeitet hatte, hatte er heimlich Gespräche mit Freunden oder auch Dates mitgeschnitten, um authentische Dialoge für das Buch verwerten zu können. An einem Abend war er mit zwei Freunden ausgegangen, das Diktiergerät in der Tasche seiner Jeans, das externe Mikrofon am Gürtel, gleich neben der Gürtelschnalle, weil es so am wenigsten auffiel. In seiner Erinnerung war es ein entspannter Abend unter Freunden. Sie hatten über die Arbeit gesprochen, über gemeinsame Freunde und über Frauen. Am nächsten Nachmittag rief ihn einer der beiden trotz seines Katers an, um ihm zu versichern, wie gelungen der gestrige Abend gewesen war. Sie nahmen sich vor, das bald zu wiederholen. In Wirklichkeit konnte sich Andreas ab einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr viel erinnern. Das Diktiergerät hatte aber auch seine verlorenen Stunden dokumentiert. Als er nach dem Gespräch die Aufnahme auf seinen Laptop kopierte, war sie fast zehn Stunden lang. Eine Nacht, lang wie ein Arbeitstag, inklusive zweier Überstunden. Als er sich einige Tage darauf den Mitschnitt anhörte, um die Abschrift zu machen, habe er immer wieder den Kopf geschüttelt, als wäre der Abend einem anderen passiert. Der Mann, der auf dem Mitschnitt zu hören war, der Mann, der mit seiner Stimme sprach, war ihm nicht sympathisch, er fand ihn sogar ziemlich unsympathisch, hatte Andreas gestanden. Und er berlinerte auch ziemlich stark. Er hatte sich vorgenommen, unbedingt an seinem Hochdeutsch zu arbeiten, man müsse sich ja nicht so gehen lassen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie kultivierter wirken würden. Aber sie waren Mitte dreißig und klangen wie Jugendliche aus der brandenburgischen Provinz, deren Abendgestaltung an Tankstellen im Umland von Berlin stattfand. Eigentlich fehlten nur noch die falschen Komparative. Man erwarte sie praktisch in jedem Satz. Es sei erschreckend gewesen, hatte Andreas gesagt. Er habe die Abschrift abgebrochen. Für seine Texte sei kein Satz, der in den zehn Stunden gefallen war, verwendbar gewesen.

Es konnte ziemlich aufschlussreich sein, einmal bewusst neben sich zu treten und mit einem objektiven Blick, gewissermaßen als Unbeteiligter, auf sich selbst zu blicken, war Andreas fortgefahren. Wenn man die Perspektive ändere, könne man Dinge sehen, die einem nicht gefallen, aber man fände Wahrheiten über sich heraus, die einem gar nicht bewusst waren. Unangenehme Wahrheiten, aber sie seien eine Chance, sich zu verbessern. »Es ist immer gut, die Perspektive zu ändern«, hatte Andreas mit einem merkwürdigen Unterton abschließend gesagt, als würde in diesem Satz eine tiefere Bedeutung liegen, dessen Sinn sich aus einem Zusammenhang ergab, der sich Christoph nicht erschloss.

Sie schwiegen jetzt schon seit einigen Minuten. Der Barkeeper säuberte den Tresen, blickte hin und wieder zu ihnen hinüber, wirkte aber nicht ungeduldig.

»Was ist von der Liebe zu halten, wenn man sie nach ihren Konsequenzen beurteilt?«, hörte Christoph Andreas fragen.

»Gute Frage«, sagte der Barkeeper.

Andreas schwieg, als hätte er sie sich schon oft gestellt, ohne eine zufriedenstellende Antwort gefunden zu haben.

»Stimmt«, lachte er dann bitter. »Eigentlich zu gut, um sie mit einer Antwort zu verderben.«

Es war ein abschließender Satz. Sie mussten nach Hause. Schlafen.

Als sie gingen, bestand Andreas darauf, die Rechnung zu bezahlen. Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung und tauschten Telefonnummern, bevor sie sich trennten, um wieder in ihre Leben zu verschwinden. Christoph sah Andreas noch lange nach, als der sich entfernte. Zwischen die Häuser fiel das Licht der aufgehenden Sonne, als Christoph in die Bänschstraße bog, und er dachte daran, wie der Barkeeper zum Abschied die Hand gehoben hatte, bevor er die Tür hinter ihnen verriegelte.

Er hieß Martin, das wusste er jetzt.

#EGOLAND

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