Читать книгу #EGOLAND - Michael Nast - Страница 18

POPULARITY GAMES

Оглавление

Annelie war noch nicht da, als Leonie das Spreegold betrat, aber sie waren ja auch erst in einer halben Stunde verabredet. Sie bestellte einen Cappuccino, setzte sich an einen der Tische am Fenster und beobachtete die vorbeieilenden Passanten auf der Schönhauser Allee. Ihr Blick blieb immer mal wieder an frisch verliebten Paaren haften, die vereinzelt vorüberschlenderten. Sie hatte nie die Entrüstung ihrer Freundinnen verstanden, denen sie vor allem an Frühlingstagen vermehrt auffielen. Letztlich war es doch nur Neid, der sich als Empörung tarnte. Leonie beobachtete die Verliebten gern. Sie bewegten sich langsamer als die anderen, sie fielen auf, weil sie, von einer gehetzten Menschenmenge umspült, die Rastlosigkeit durchbrachen. Sie wirkten, als würden sie etwas sehen, was die anderen nicht wahrnahmen. Sie dachte an das dünne Buch von diesem italienischen Schriftsteller, das Andreas ihr einmal empfohlen hatte, in dem eine der Figuren auf ihr Leben zurückblickt und sich mit dem Fahrer eines Wagens vergleicht, der immer weiter gefahren war, die Strecke eines ganzen Lebens zurücklegt hatte, und plötzlich versteht, dass er sich immer nur auf die Straße konzentriert und nie auf die Landschaft geachtet hatte. Vielleicht war es das, dachte sie. Vielleicht war das der Unterschied: Die Händchen haltenden Paare achteten in diesem Moment auf die Landschaft.

Während sich ihr Blick im Unbestimmten verlor, dachte sie an unterschiedliche Dinge, an ihre Kommilitonen und daran, dass sie seit Wochen keine Vorlesung mehr besucht hatte. Sie dachte an ihren Zensurendurchschnitt, ohne den sie nie einen Studienplatz in Berlin bekommen hätte, weil die Universitäten den Numerus clausus erhöht hatten, weil viel zu viele nach Berlin zogen, um hier zu studieren. Sie dachte, dass sie inzwischen ziemlich viel rauchte und daran, dass sie zu viel feiern ging, dass sie zu viel trank, und daran, dass sie zu viel nachdachte und dass es ihr nicht guttat, zu viel über die Dinge nachzudenken. Ihr Leben löste sich auf, davon war sie ganz plötzlich tief überzeugt, und sie erschrak über die Brutalität dieser Empfindung. Sie atmete dankbar auf, als sie Annelie mit suchendem Blick am Eingang stehen sah, weil deren Anwesenheit diesen tragischen Gedanken glücklicherweise schnell verschwinden lassen würde.

»Leonie«, rief Annelie quer durch den Raum, im gleichen Tonfall, in dem sie auch ständig »Oh mein Gott« rief, wie eine Figur aus Gossip Girl. Sie ging mit einem Gossip-Girl-Selbstverständnis durchs Leben, dachte Leonie, sie besaß ja auch alle Staffeln auf Blue-ray, vielleicht fühlte sie sich in der Serie wohler als im wirklichen Leben. Annelie durchquerte den hohen Raum, als würde ihr ein unsichtbares Filmteam folgen. Vielleicht wurde man so, wenn man eine Instagram-Berühmtheit war. Oder es war die Voraussetzung, so genau konnte Leonie das nicht beurteilen.

»Wer kein Instagram-Profil hat, existiert nicht«, hatte Annelie einmal sehr entschieden nach einigen Gläsern Wein zu ihr gesagt. Ein Satz, der aus ihrem Mund wie eine tiefe, unabänderliche Wahrheit klang und der sie schon ziemlich gut beschrieb, wie Leonie fand. Annelie hatte 127 000 Follower auf Instagram. Auf ihrem iPhone befanden sich 19 000 Fotos. Sie postete jeden Tag mindestens drei Bilder. Ein Fulltime-Job. Leonie hatte ein bisschen mehr als 2000 Follower, das war mit Annelies Zahlen natürlich nicht zu vergleichen, aber sie kannte das wohltuende Gefühl, wenn die Leute auf ein neues Foto reagierten, die Bestätigung, die ihr jedes Like gab. Jedes Like war ein Kompliment. Und genau genommen bekam Leonie sogar mehr Likes als Annelie, zumindest wenn man es im Verhältnis sah, auch ein Gedanke, der ein warmes Gefühl in ihr auslöste, obwohl sie ja gar nicht in Konkurrenz standen. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie Annelies Fotos mit ihren Bildern verglich, um herauszufinden, was das Geheimnis ihres Erfolges war, warum sich so viele Menschen auf ihre Bilder einigen konnten. Sie konnte kein Geheimnis entdecken, eigentlich gefielen Leonie ihre eigenen Bilder sogar besser, obwohl sie sonst gerade in Bezug auf sich eine unablässige Zweiflerin war. Wahrscheinlich lag es daran, dass Annelie von den vielen Teenagern, denen ihre Bilder gefielen, als Chance wahrgenommen wurde, als Beweis, dass sie es auch schaffen konnten, aus der Menge herauszutreten, um endlich wahrgenommen zu werden, endlich Popstarversionen ihrer selbst zu sein. Denn Models waren sie ja mittlerweile irgendwie alle. Leonie hatte selbst inzwischen alle paar Wochen Shootings, mit Fotografen oder Männern, die sich für Fotografen hielten und sie im Ritter Butzke oder im Prince Charles ansprachen. Sie hatte sogar zwei Anfragen, in Musikvideos ­mitzuspielen.

Als Annelie an den Tisch trat, begrüßten sie sich mit einer Umarmung, und Leonie umarmte sie besonders herzlich, möglicherweise als Entschuldigung für ihre Gedanken oder weil sie sich einfach nur nach einer warmen und herzlichen Umarmung sehnte oder vielleicht ein bisschen wegen beidem.

»Bin ich zu spät?«, sagte Annelie. »Vierzehn Uhr hatten wir doch gesagt.«

»Alles gut«, sagte Leonie. »Ich bin schon seit halb hier.«

»Zu früh ist auch unpünktlich«, sagte Annelie und lachte ein bisschen zu laut, wie Leonie fand. Sie hatte wohl registriert, dass sie jemand erkannt hatte. Man sah ihr an, wie sie die Blicke genoss, wenn andere sie erkannten.

Annelie sah sich um. »Komm, wir setzen uns dahin«, sagte sie entschieden und forderte Leonie mit einer Geste auf, sich an einen Tisch in der Mitte des hohen Raums zu setzen.

Annelie bestellte bei der vorbeieilenden Bedienung ein Glas Weißwein, obwohl sie ja wusste, dass hier eigentlich Selbstbedienung war, aber das war ihre Art, sich und anderen zu zeigen, dass sie sich von den anderen unterschied.

Sie schämte sich ein bisschen, dass sie so über Annelie dachte, sie war ja ihre beste Freundin, wenn ihre Freundschaft auch nur daraus bestand, sich gegenseitig zu bestätigen, dachte sie. Sie hatten sich in den zwei Jahren nicht einmal gestritten, und Leonie war überzeugt, dass ihre Freundschaft einen Streit nicht überleben würde. Aber vielleicht funktionierten Freundschaften heutzutage einfach so.

»Und, wie war die Party?«, hörte sie sich fragen.

»Die vorgestern? Hör bloß auf. Schlimm, ganz schrecklich. Da waren sechzig Männer und – ungelogen – acht Frauen. Ich hab das nachgezählt. Die standen dann beim Tanzen alle um uns herum. War wie beim Resteficken im Prince Charles, ganz schlimm. Aber ein Typ, der war wirklich heiß. Der kommt aus Freiburg oder so und studiert jetzt im Lette-Verein. Also überall abgelehnt, bis die Eltern die Privatschule bezahlen. Ein bisschen schlicht, aber wie gesagt, übelst süß.«

»Und dann?«

»Wir sind dann noch zu ihm gefahren, er hatte aber keine Kondome da und meinte doch tatsächlich, dass er seit seinem letzten Test nur drei Frauen gehabt hätte und ich ›sauber‹ aussehen würde.«

»Is ja ekelerregend«, sagte Leonie.

»Fand ich ja auch. Aber er war richtig gut im Bett, das hat’s dann ausgeglichen.«

»Mann, Anni, du musst echt ein bisschen aufpassen.«

Einmal, als sie in ihrer Küche zu viel Wein getrunken hatten, hatte Annelie ihr gestanden, dass sie jeden Morgen vor dem Aufstehen fünfzehn Minuten in Gedanken auf sich einredete, dass es ein schöner Tag werden würde, und sie sich jeden Tag selbst überzeugen musste, dass es sich lohnen würde, überhaupt das Bett zu verlassen. Leonie wusste nicht, ob sich Annelie überhaupt noch an diese Nacht erinnerte, wahrscheinlich nicht, sie war sehr betrunken gewesen. Jedenfalls hatten sie nie mehr darüber gesprochen, obwohl sie sich niemals näher gewesen waren als in diesem Moment, in dem Annelie mit tränennassem Gesicht in Leonies Armen gelegen hatte. Es war ihr aufrichtigster, persönlichster und intimster Moment, der Höhepunkt ihrer Freundschaft. Sie hatte Leonie auch vom gelben Himmel erzählt, ihrer ersten Erinnerung, die immer da war und die für den Zauber stand, der auf ihrer Kindheit lag, bis sie erst vor drei Jahren, mit Anfang zwanzig, von ihrer Mutter erfahren hatte, dass dieser für sie so geheimnisumwobene goldgelbe Himmel nichts weiter als eine gelbe Decke war, die ihre Eltern über das Gitterbett geworfen hatten, damit sie ruhig wäre. »Wie bei einem Vogel im Käfig«, hatte Annelie schluchzend gesagt, während Leonie behutsam über ihren Kopf gestreichelt hatte. Und dann, am Ende des Abend, als sie schon fast eingeschlafen waren, hatte Annelie gestanden, dass sie geliebt werden wollte, von allen, das war ihr Antrieb, sie wollte einfach nur von allen geliebt werden. Ein Riss zog sich in diesen Momenten für Leonie über Annelies polierte Fassade, entlang der Bruchlinien leuchtete die Ahnung des Menschen durch, den sie mit ihrer überzogenen Künstlichkeit zu beschützen versuchte. Am nächsten Morgen war die Tragik dieser Nacht hinter Annelies gutgelaunter und energiereicher Fassade verschwunden. Sie war wieder in ihrer Rolle, was alles noch viel trauriger machte.

»Apropos Feierei«, unterbrach Annelie ihre Gedanken, »was machst du eigentlich heute Abend?«

»Am Wochenende? Da kann man in Berlin nicht weggehen, da sind doch nur Idioten unterwegs.«

»Ja, aber das wird cool, also diesmal wirklich. Ist ’ne Party von Spotify, nur geladene Gäste.«

Leonie bewegte zweifelnd den Kopf, obwohl sie sich schon entschieden hatte, sie zu begleiten. Es war ein Spiel, das sie spielten, warum auch immer.

»Hauptsache Gästeliste«, sagte Leonie und lachte. Darum schien ja irgendwie alles zu kreisen, seitdem sie in Berlin lebte, darum, auf den richtigen Gästelisten zu stehen. Aber sie musste auch zugeben, wie angenehm das Gefühl war, an der Schlange vorbeizugehen und von den Türstehern hereingebeten zu werden, als würden sie sich schon ewig kennen.

»Komm«, sagte Annelie wie ein Kind. »Willst du meine plus Eins sein?«

»Das klingt so romantisch«, lachte Leonie.

»Ich bin ja auch ’ne Romantikern«, sagte Annelie, während ihr Blick überprüfte, wer gerade das Spreegold betrat.

»Aber ’ne unverbesserliche«, ergänzte Leonie mit einem Lachen, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie hasste den ruhelosen Blick von Menschen, die sich mit einem unterhielten und in Gedanken woanders waren, bei Annelie konnte sie noch am ehesten darüber hinwegsehen, bei ihr war sie es längst gewohnt.

»Ach ja«, sagte Annelie, »weißt du, wen ich letztens bei Tinder getroffen habe?«

Getroffen?, dachte Leonie und hob ihren Blick, aber Annelie schien sich der Tragik ihrer Bemerkung nicht bewusst zu sein.

»Nee«, sagte sie dann. »Wen den?«

»Den Freund von Jule.« Annelie sah sie bedeutungsvoll an. »Diesen Wladimir.«

»Wladi? Die sind doch gerade erst zusammengezogen.«

»Vor nicht mal drei Monaten sind die zusammengezogen. Ich weiß gar nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn ich Jule mal sehe. Oder beide. Will ich mir gar nicht vorstellen.«

»Ich hab das ja schon öfter gehabt.« Leonie setzte sich auf. »Darum hab ich mich ja bei Tinder abgemeldet. Ständig sieht man die Fotos von Männern, deren Freundinnen man kennt. Robert hat mich sogar angeschrieben.«

»Josis Robert? Scheiße, das ist richtig übel. Die sind doch das absolute Vorzeigepaar. Und, was haste gemacht?«

»Ich hab’s ignoriert.«

»Hast du’s Josi gesagt?«

»Nein, dann bin ich am Ende schuld, wenn die sich trennen. So läuft das doch.«

»Robert sieht aber auch übelst süß aus«, sagte Annelie verträumt, bevor sie flehend hinzufügte: »Komm mal mit heute Abend. Ich brauch dich da. Dann kannst du auch auf mich aufpassen oder mich beschützen, vor allem vor mir selbst.« Sie lachte. »Das wird cool. Wirklich.«

»Ich komm mit«, sagte Leonie und lächelte.

»Sehr schön«, sagte Annelie. »Wird ja auch Zeit, dass wir mal wieder zusammen rausgehen. Wir beide gegen den Rest der Welt.« Sie lachte wieder, und jetzt sah sie wirklich glücklich aus, unverstellt glücklich. Es war merkwürdig, dass der Mensch hinter Annelies Fassade immer in Augenblicken zu sehen war, in denen man ihn am wenigsten erwartete, dachte Leonie.

»Kannste mal ein Foto von mir machen?«, verdarb Annelie diesen schönen Gedanken und hielt ihr Handy in Leonies Richtung.

Leonie nahm das Handy und brauchte nicht einmal zehn Sekunden, um die sechzig Bilder zu machen. Ein neuer Rekord. Je mehr Bilder man machte, desto eher war das richtige dabei, das war die Regel. Annelie griff nach dem Handy und überprüfte konzentriert, welches der Fotos verwendbar war.

Leonie betrachtete sie, und jetzt fiel ihr auf, dass sie letztlich auch nichts anderes als Annelies Spiegel war, ein abgedämpftes Spiegelbild zwar, aber dennoch waren sie sich ähnlicher, als sie zugeben wollte. Beide stellten sich aus, dachte sie, Annelie im Großen und sie selbst im Kleinen. Es war ihr persönliches Eitelkeitsprojekt, das sie schrieben, inszenierten und in dem sie die Hauptrolle spielten. Alle machten das.

»Ja, das … das ist super«, sagte Annelie. »Jetzt noch ein Filter drauf, dann ist es perfekt.«

»Filter muss sein«, sagte Leonie lachend, aber der Satz erreichte Annelie nicht mehr, die konzentriert auf ihrem Handy herumtippte.

Die Filter hatten die Kontrolle übernommen, dachte Leonie. Sie wusste ja, wie ihre vom Make-up strapazierte Haut ungeschminkt aussah, und kannte auch den Zustand von Annelies abgeschminktem Gesicht. Das war der Preis, den sie zahlten. Sie wussten beide, dass sie zu viel Make-up benutzten. Sie wandten den Anspruch ihrer bearbeiteten Fotos auf sich selbst an und welkten hinter dem Make-up, das sie zu den Menschen machen sollte, als die sie sich darstellten. Wie Annelie verließ sie ihre Wohnung nie ungeschminkt, nicht einmal, wenn sie morgens zum Bäcker ging, der nur einige Hauseingänge von ihrer Wohnung entfernt war. Sie überprüften sich in jedem Spiegel, in Schaufensterscheiben oder mit der Selfiekamera ihres Handys.

Manchmal stellte sie sich ihre Haut als Metapher vor, das Make-up

war die Fassade, ihre vom Make-up strapazierte Haut ihre Seele. Wenn sie ihr Make-up nicht benutzten, ihre Fassaden nicht mehr pflegten und kultivierten, könnten sich auch ihre Seelen wieder erholen, aber die perfekte Ästhetik ihrer Fassade würde Annelie nie gegen die Unvollkommenheit ihrer Seele tauschen. Und Leonie wohl auch nicht.

So wie es aussah, hatte Annelie recht: Ohne Instagram-Profil existierte man nicht. Einen kurzen Moment lang wünschte sich Leonie, sie würde nicht zu viel nachdenken, dann wäre sie glücklicher.

»So, ich bin mal kurz im Separee«, sagte Annelie und erhob sich.

»Na dann viel Spaß dabei.« Leonie lächelte.

»Ich werd mich bemühen«, lachte Annelie und verschwand auf der Toilette.

Leonie senkte den Blick, betrachtete ihre Hände, die ihren Milchkaffee umschlossen, und empfand eine tiefe, wohltuende Ruhe, die sich in ihr ausbreitete. Ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken lösten sich darin auf und sie spürte vage, dass sie sich selbst wieder wahrnahm. Als wäre das Leben eingefroren, für einen kurzen ­Augenblick.

#EGOLAND

Подняться наверх