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UNTER FREUNDEN

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Christoph verschwand, als er mit einer langsamen und irgendwie auch endgültigen Bewegung die hohe Glastür zuschob, die auf die Terrasse führte und ihn nun mit einem leichten Ploppen von den Menschen in seinem hellerleuchteten Wohnzimmer trennte. Von seinen Geburtstagsgästen. Seinen Freunden gewissermaßen. Von Hauke und Melanie, Erik und Carina, und natürlich von Julia. Sie sahen ihn nicht mehr, die Sonne war ja schon vor Stunden untergegangen. Er war der Mann hinter Glas, dachte er, er existierte praktisch nicht mehr. Es fiel nicht auf, dass jemand fehlte.

Er zündete sich die erste Zigarette des Tages an und inhalierte genussvoll, bevor er sich abwandte und auf die Bänschstraße hinunterblickte. Sie war eine der wenigen schönen Straßen des Stadtteils, vielleicht sogar die schönste, was sicherlich auch daran lag, dass sie aussah, als hätte sie sich in der Gegend geirrt. Früher hatte er gedacht, Friedrichshain würde eine ähnliche Entwicklung wie Prenzlauer Berg nehmen, was ihm gefallen hätte, jetzt wo er hier wohnte, aber irgendwie hatte der Bezirk den Anschluss verpasst. Er war immer noch verstaubt und versifft und voller Hundekacke. Er hatte einige Monate nach ihrem Umzug festgestellt, dass man mit der Zeit einen natürlichen Hundekackeausweichinstinkt entwickelt, wenn man hier lebte. Man musste gar nicht mehr zu Boden sehen. Er dachte kurz darüber nach, dass Hauke vorhin behauptet hatte, in Berlin würden deswegen so viele Hunde halten, weil sie sich einsam fühlten.

»In dieser anonymen Stadt«, hatte Hauke gesagt, der vor drei Jahren aus Münster hierhergezogen war. Er war offensichtlich noch nicht angekommen.

Hauke war der Freund von Melanie, die Julia von der Arbeit kannte. Woher sie Carina kannte, war ihm gar nicht so klar, ihm war nur klar, dass es dem Abend gut getan hätte, wenn sie ohne Erik gekommen wäre, der jedes Gespräch an sich riss, sobald er einen Raum betrat.

Er blickte zu Erik, der eindringlich auf Hauke einredete, als würde er über die Lösung des Welthungers referieren. Christoph verstand nicht, was er sagte, er war ja der Mann hinter Glas, aber nach Haukes Gesichtsausdruck zu urteilen, schienen Eriks Worte an ihm vorbeizugleiten oder durch ihn hindurch, ohne Spuren zu hinterlassen, wie eine Adaption des Nachmittags im Büro mit Karnowski. Er hätte jetzt gern gewusst, wo Hauke mit seinen Gedanken war. Vielleicht sollten sie sich mal auf ein Bier treffen, ohne die anderen. Sie kannten sich eigentlich nur in der Gruppe.

Julia, Melanie und Carina sprachen offensichtlich über seine Geschenke, die Julia nach dem Auspacken kunstvoll auf dem Sideboard drapiert hatte. Hin und wieder warfen sie zufriedene Blicke dorthin, wie es Menschen tun, die sich gegenseitig bestätigen, alles richtig gemacht zu haben.

Seine Gedanken wanderten von Melanie zu Hauke und dann wieder zurück. Es überraschte ihn immer wieder, wie selbstverständlich die beiden miteinander umgingen, nach allem, was passiert war. Er glaubte nicht, dass sie Hauke verziehen hatte, es sah eher nach einem Arrangement aus. Vielleicht empfanden sie Berlin als den falschen Ort für eine Trennung, diese anonyme Stadt. Sie fürchteten sich, in ihrer allgegenwärtigen Anonymität allein zu sein.

Die Frauen tranken Weißweinschorle. Viel zu helle Weißweinschorlen. Sie hielten sich seit Stunden an einer Flasche Wein auf, zu dritt, und die Flasche war noch halbvoll. Das war keine Geburtstagsparty, dachte er, das war ein Pärchenabend. Genau genommen sogar ein Pärchen-Sit-in. Die Flasche Wodka kam ihm in den Sinn, die seit ihrem Einzug unangetastet im Eisfach lag. Wäre mehr Zeit gewesen, hätte er sie aufgemacht. Der Alkohol hätte diesen verspannten Abend gelockert. Sie hätten sich mal wieder so richtig schön besaufen können. Aus dem Sit-in wäre eine Party geworden. Er hätte gern mal wieder die knisternden Platten aufgelegt, die doch für eine bedeutende Zeit seines Lebens standen, für ihn gewissermaßen. Es waren seine Hymnen. Sie hätten getanzt und mitgesungen. Er hatte doch eine gute Stimme und er war immer noch textsicher. Sie besaßen immerhin diesen sündteuren Plattenspieler, den er nie benutzte. Seit dem Umzug war er zu einem gutaussehenden Accessoire geworden, das einmal pro Woche von Natascha abgestaubt wurde. Die Platten bewahrte er im Keller auf. In einer der vielen Kisten, in denen sie die Dinge lagerten, die es nicht in die Wohnung geschafft hatten. Eigentlich war er sich gar nicht sicher, ob sich sein Musikgeschmack mit dem der anderen deckte. Franzi hatte ja leider abgesagt. Und die Frauen mussten auch bald los.

»Mallorca«, sagte er leise in die Nacht.

Jedes Jahr machten Julia und ihren Freundinnen Urlaub am Meer, ohne die Männer, das war eine ihrer Traditionen. Sie stimmten ihren Urlaub auf die Osterferien ab, weil Julia als Lehrerin nur in den Ferienzeiten verreisen konnte. Diesmal reisten sie für eine Woche nach Mallorca. Julia hatte die Reise schon im August gebucht, vor acht Monaten, ihren roten Rollkoffer hatte sie am letzten Wochenende gepackt, das war jetzt eine Woche her, das Taxi zum Flughafen hatte sie am Vortag bestellt. Die Frauen hatten einen sehr billigen Flug bekommen, was ganz natürlich war, wenn man ihn eine knappe Schwangerschaftslänge früher buchte und er um drei Uhr morgens von Schönefeld ging. Seine Geburtstagsfeier würde noch eine knappe Stunde dauern.

Er hörte, wie sich die Terrassentür hinter ihm öffnete.

»Schahaatz?«, hörte er Julia rufen. Es war ihre Stimme, aber irgendwie war sie es auch wieder nicht. Sie klang zu schrill. Wenn sie Gäste hatten, änderte sich der Ton, in dem sie sprach. Sie klang dann immer ein bisschen zu durchdringend, zu schnell und zu affektiert. Viel zu überdreht. Als hätten ihre Freundinnen sie sozialisiert.

»Ja«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Was machst du denn hier draußen?«

Er hätte ihr jetzt gern gesagt, dass er auf einer Reise war, auf einer Art Kurzurlaub, aber dann dachte er an die anderen und sagte: »Nichts weiter, ich rauch eine.«

»Klar«, sagte sie, und es klang wie: »Darüber hatten wir doch gesprochen.«

»Du weißt doch, wenn ich Alkohol trinke«, sagte er mit einer entschuldigenden Geste. Er hatte vor einem Jahr aufgehört zu rauchen, eigentlich, außer wenn er Alkohol trank, oder Kaffee, oder wenn er gestresst war. »Ich komm gleich«, fügte er hinzu.

»Klar«, sagte Julia und schob die Terrassentür zu, und jetzt klang sogar das Ploppen wie ein Vorwurf.

Er warf die aufgerauchte Zigarette in die Nacht, sein Blick folgte dem glühenden Punkt, bis er funkenstiebend auf dem Kopfsteinpflaster der Bänschstraße aufschlug. Als er die Terrassentür öffnete und das Wohnzimmer betrat, verstummte das Gespräch an dem langen Tisch. Alle sahen ihn an, als hätten sie nicht mehr mit ihm gerechnet.

»So«, sagte er ein bisschen zu gutgelaunt, »da bin ich wieder.«

Er setzte sich zu Julia, Erik hustete auffällig und Julia flüsterte: »Du stinkst total nach Rauch.«

»Du weißt doch, wenn ich Alkohol trinke«, wiederholte er.

Julia erhob sich und verschwand auf der Toilette.

»Und, worüber habt ihr gerade gesprochen?«, fragte er, während sein Blick die Geschenke streifte, die sich so nahtlos in das Konzept des Abends fügten. Sie passten eher zu ihnen als zu ihm. Es gab ein sehr dickes, veganes Kochbuch, das er nach dem Auspacken unschlüssig in der Hand gehalten hatte.

»Oh, ein Buch«, hatte er gesagt.

»Freu dich doch mal«, hatte Carina gerufen, sie sang es fast.

»Ich freu mich doch«, sagte er und blätterte hilflos in dem Buch. Es waren sehr viele Rezepte. Sie reichten für ein Leben. Ein veganes Leben.

Julia hatte ihm einen Gutschein für ein Rauchentwöhnungsseminar geschenkt. Als er den Gutschein ausgepackt hatte, musste er sich praktisch zwingen, nicht zu sagen »Oh, ein Gutschein.« Stattdessen entschied er sich für ein überraschtes »Ah«, das wie ein Aufatmen klang.

Hauke und Melanie schenkten ihm ein kompliziert aussehendes Gerät, das er anfangs gar nicht zuordnen konnte. Darum fiel es ihm einen Moment lang schwer, sich für einen passenden Ausruf zu entscheiden. Ihm gelang ein Strahlen, wie er es von Julia in Gegenwart ihrer Freunde kannte, dann sagte er: »Das kann nur von Melanie und Hauke sein«, was auch immer er damit ausdrücken wollte.

»Eine Mühle«, rief Julia freudestrahlend.

»Eine Getreidemühle«, präzisierte Erik.

Was um Gottes willen sollte er denn mit einer Getreidemühle anfangen?, dachte Christoph hilflos, während er versuchte, sein Strahlen zu halten. Abgesehen von ihm, schien die Mühle ja alle glücklich zu machen.

»Die war nicht billig«, sagte Melanie, zu der es auch gepasst hätte, das Preisschild auf der Packung kleben zu lassen, um das zu veranschaulichen.

»Danke«, sagte er wie in Trance.

Letztlich, dachte er, als er den Blick vom Sideboard abwandte, ließen sich die Geschenkideen wohl folgendermaßen zusammenfassen: Sie waren für einen Menschen bestimmt, der er nicht war. Ein Gedanke, der ihn daran erinnerte, dass sein Glas leer war. Als er nach dem Wein griff, um sich nachzuschenken, sagte Melanie: »Über Cathrin Berger.« Er sah sie an, der Satz war offenbar an ihn gerichtet.

Er musste nachfragen, weil ihm nicht mehr einfallen wollte, auf welche seiner Fragen das die Antwort war.

»Wir haben über Cathrin Berger gesprochen«, sagte Melanie.

»Über die Schlagersängerin?«

»Über die tote Schlagersängerin«, präzisierte Erik gnadenlos.

»Oh«, sagte Christoph betroffen, der nun wirklich nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Sie unterhielten sich über eine Schlagersängerin. Da konnte man sich durchaus mal fragen, was hier passiert war.

»War ja auf allen Titelblättern.«

»Na ja«, Hauke lachte bitter. »So lange eine Schlagersängerin auf allen Titelbildern ist, ist mit unserer Welt alles in Ordnung.«

»Sei mal nicht so ein Arschloch.« Melanie sah ihn tadelnd an. »Die Frau ist gestorben.«

Sie schien mit den Tränen zu kämpfen, Bergers Tod schien ihr sichtlich nahe gegangen zu sein. Christoph war sich nicht einmal sicher, ob er ihr einen Song zuordnen konnte. Prominententode gingen ihm nicht nah, was ihn in Carinas Moralverständnis wahrscheinlich zu einem Monster machte. Ihm war nur aufgefallen, dass in den letzten Jahren auffallend viele gestorben waren.

»Tragisch«, sagte er.

Obwohl es alle wussten, weil die Nachrichten in den letzten Tagen voll davon waren, erklärte Erik noch einmal, dass Cathrin Berger vor einer Woche bei einem Autounfall gestorben war. Postum war ein Interview mit ihr erschienen, das letzte große Interview, in dem sie sich überraschend intellektuell geäußert hatte.

»Hochphilosophisch«, sagte Erik. »Auch was sie zur aktuellen politischen Lage gesagt hat, hochinteressanter Blickwinkel, sehr universell.« Carina und Melanie nickten ernsthaft, als hätten sie das Interview auswendig gelernt. »Das ist das Hemingway-Phänomen«, fügte Erik hinzu und blickte bedeutungsvoll in die Runde, um den Satz wirken zu lassen. Christoph sah ihn ratlos an. »Seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten war ja Der alte Mann und das Meer«, dozierte Erik. »Also eine Novelle, nicht mal ein Roman. Und nachdem die erschienen war, musste Hemingways gesamtes Werk neu bewertet werden.« Wieder eine Kunstpause. »Und so ähnlich ist es auch bei der Berger. Durch das Interview öffnen sich ganz neue Bedeutungsebenen. Auch in Bezug auf ihr Werk.«

Was redete der Mann da?, dachte Christoph. Es klang, als hätte er gerade den Verstand verloren.

»Aber wir reden hier immer noch über eine Schlagersängerin«, sagte er vorsichtig.

»Also ich kenn nur einen Song ihres ›Werks‹ – wie du sagen würdest«, sagte Hauke. »›Und morgen früh küss ich dich wach‹.« Er sprach den Titel des Liedes sehr akzentuiert aus.

»Wer küsst wen wach?«, fragte Julia, die gerade von der Toilette zurückkehrte.

»Morgen früh!«, rief Carina, als hätte Julia eine Blasphemie begangen. Offenbar war sie Cathrin-Berger-Fan.

»Was ist denn morgen früh?«, fragte Julia erschrocken.

»Ist doch egal«, sagte Hauke. »Worüber reden wir hier eigentlich?«

Bevor ihm Christoph einen dankbaren Blick zuwerfen konnte, zuckte er zusammen, als es an der Wohnungstür klingelte. Ein schneidender Ton, an den er sich immer noch nicht gewöhnt hatte, er war einfach zu schreckhaft.

»Oh«, rief Carina. »Das Taxi.«

»Jetzt schon?«, fragte Christoph. »Es ist noch nicht mal halb eins.«

»Jahaaa, wir sind gleich unten, zwei Minuten!«, rief Erik in die Gegensprechanlage, als wäre er hier zu Hause. Christoph leerte sein Glas in einem Zug.

Als sie sich verabschiedeten, umarmte ihn Julia abwesend, sie war in Gedanken schon weiter, auf der Treppe oder im Taxi, die Wohnungstür war innerlich bereits hinter ihr ins Schloss gefallen. Er war praktisch nicht mehr da, schon wieder.

»Schönen Urlaub«, sagte er.

»Danke, danke«, sagte Julia hastig und wandte sich zu den Frauen. »Okay, habt ihr alles?«

»Na dann«, sagte Hauke und gab ihm die Hand. »Schönen Geburtstag noch.«

»Danke, danke«, sagte er.

»Bis bald dann mal wieder«, sagte Erik, der leicht nach Allure Homme roch.

Christoph stand wie zurückgelassen in der Wohnungstür. Als ihre Schritte verhallt waren und die Haustür dumpf ins Schloss fiel, lauschte er noch ein bisschen in die sich ausbreitende Stille, bevor er ins Wohnzimmer zurückging, um sein Glas nachzufüllen. Er trank einen Schluck und stellte sich vor, wie er auf der Terrasse stand, das Glas in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Es war ein Bild, das passte. Er ging ins Schlafzimmer und zog sein Lieblingsjackett an, denn auch das passte irgendwie, ehe er zurück auf der Terrasse ein Großraumtaxi unten auf der Bänschstrasse anfahren sah. Er wusste nicht einmal, ob sie in dem Taxi saßen, trotzdem folgte er dem Wagen, bis er an der Ecke zur Proskauer abbog und verschwand. Er zog an der Zigarette, inhalierte den Rauch, blies ihn aus und trank einen Schluck Wein. Er war vor etwas mehr als zwanzig Minuten dreiunddreißig geworden. Eine Schnapszahl. Vielleicht war das ja ein Zeichen.

Sein Blick glitt über die liebevoll restaurierten Gründerzeitfassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur vereinzelte Fenster waren erleuchtet.

Die Nacht war mild und für einen Freitag in Friedrichshain ungewohnt ruhig, obwohl die Rigaer Straße nur einige hundert Meter Luftlinie entfernt war. Er setzte sich auf den Liegestuhl, auf dem sich Julia so gern sonnte, und während er rauchte und Wein trank, spürte er eine Ruhe, die sich langsam in ihm ausbreitete. Aus der Ferne waren undeutliche Geräusche zu hören, die er nicht einordnen konnte. Er nickte kurz ein und schreckte auf, als sein Kopf vornüberkippte. Dann betrachtete er das leere Glas, und plötzlich spürte er ein ungewohntes Gefühl. Das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn er jetzt nicht noch ausging.

Er musste hier raus.

#EGOLAND

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