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PSYCHO GIRLS

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Die Melodie schob sich in Andreas’ Träume und löste sie auf. Eine Melodie, die nicht hierher gehörte, nicht in seine Träume, nicht in seine Wohnung, nicht in sein Schlafzimmer. Es war die Melodie von Rebeccas Handy, die ihres Weckers. Sie hatte ihn auf zehn Uhr gestellt, daran erinnerte er sich jetzt wieder, leider auch, aus welchen Gründen sie ihn auf zehn Uhr gestellt hatte.

Sie hatte einen tieferen Schlaf als er. Er fühlte die Wärme ihres Körpers, der sich im gleichmäßigen Rhythmus ihres Atmens hob und senkte, die Bewegungen des Schlafes, die in die Bewegungen des Erwachens übergingen, bis sie nach dem Handy griff, um den Wecker auszuschalten. Während er sich schlafend stellte, spürte er ihren Blick. Als er hörte, wie sie behutsam die Schlafzimmertür schloss und ins Bad ging, öffnete er die Augen.

Es sollte ihr Abschied sein, inzwischen schon zum zweiten Mal, obwohl Rebecca davon natürlich keine Ahnung hatte, wie schon beim ersten Mal. Fast immer, wenn er neben einer Frau erwachte, dachte er darüber nach, wie er sie elegant dazu brachte, schnell seine Wohnung zu verlassen.

Natürlich sehnte er sich nach einer Frau, neben der er sich nach dem Erwachen nicht schlafend stellte. Eine Frau, neben der er gern aufwachte, um sich auf einen gemeinsamen Tag zu freuen. Rebecca war keine dieser Frauen. Sie hatten noch nie miteinander gefrühstückt, hatten noch keinen Tag miteinander verbracht, sie kannten sich nur aus den Nächten und den darauffolgenden von Restalkohol getränkten Morgen oder Mittagen, die sich in seinen Alltag schoben wie eine andere Wirklichkeit. Während er die Geräusche aus dem Bad hörte und sich Rebecca unter der Dusche vorstellte, lief ihre Geschichte, die ja jetzt zu Ende war, die zu Ende sein musste, noch einmal in seinem Kopf ab.

Sie hatten sich auf einer Dating-App namens Once kennengelernt, bei der er sich angemeldet hatte, nachdem er einen Artikel in der Welt darüber gelesen hatte. Eigentlich war er kein Freund von Dating-

Apps, aber die Idee hinter Once war ein Gegenentwurf zu den

Dating-App-Konzepten von Tinder, Lovoo oder wie sie alle hießen, bei denen es ausschließlich um Effizienz ging. Bei Once konnte man nach Frauen nicht suchen, sondern erhielt täglich einen Vorschlag. Innerhalb eines Tages mussten sich beide entscheiden, ob sie einander kennenlernen wollten, dann war die Person für immer weg. Es war ein bisschen wie im richtigen Leben, vielleicht gefiel es ihm deswegen. Rebecca war die erste Frau, die ihm vorgeschlagen worden war.

Auf ihrem Profilbild war eine schöne Frau zu sehen, aber das hieß ja inzwischen nichts mehr. Es war unglaublich, was man heutzutage mit Farbkorrekturen, Weichzeichnern und Verzerrungsfiltern alles machen konnte. Da saßen teilweise vollkommen andere Menschen. Alle Welt regte sich darüber auf, wie Werbekampagnen durch Retuschen die Wirklichkeit verzerrten, über die gnadenlose Diktatur von Photoshop, die ein unerreichbares Idealbild zeichnete, dem niemand gerecht wurde, aber die sozialen Netzwerke waren voller Retuscheure. Es entstand der Eindruck, die Welt wäre mit Models bevölkert.

Als sie sich einige Tage darauf im Krüger’s, einer Kneipe in der Lychener Straße, trafen, passte Rebeccas Aussehen zu ihrem Profilbild. Sie erzählte, dass sie sich wegen desselben Artikels bei Once angemeldet hatte. Eine erste Gemeinsamkeit, dachte er, was ihn daran erinnerte, dass er es eigentlich nicht mochte, die Treffen mit Frauen als Date zu bezeichnen. Dates empfand er als etwas Konstruiertes, etwas Künstliches, eine verspannte Suche nach dem Zusammentreffen von Übereinstimmungen, Gemeinsamkeiten und Verbindungen. Im Grunde genommen wollten die Leute eine Infrastruktur schaffen und verwechselten das mit Liebe. Die Bezeichnung »Begegnung« war ihm lieber. Ihm gefiel der naive Gedanke, dass sich zwei Menschen begegneten, die sich sympathisch waren, um herauszufinden, ob sie sich verstanden. Herausgehoben aus den Umständen, in einer Welt, in der es im besten Fall nur Namen gab, keine Berufe, keine Rollen, nichts, was dem Gegenüber etwas beweisen sollte, nur zwei Menschen, die sich sympathisch waren oder eben nicht.

Es war nicht klar, ob Rebecca ihre Begegnung als Date empfand. Sie beschäftigte sich unaufhörlich mit dem Display ihres Handys, es ging schon in Richtung Zwangsneurose.

Sie hatte eine behutsame Stimme, eine ausgeglichene Art, die den Dingen, die sie erzählte, etwas Harmloses gab. Und das war auch nötig, denn sie erzählte ausschließlich Dinge, die man bei einem ersten Date eigentlich nicht erzählen sollte.

Sie mochte Pornofilme, sagte sie. »Aber nur Schwulenpornos. Oder Lesbenpornos mit mindestens drei Frauen.«

Aha, hatte er gedacht.

Sie berichtete außerdem, dass sie sich seit der Trennung von ihrem Freund mit so vielen Männern traf wie nie zuvor und praktisch jede Nacht bei einem anderen Mann verbrachte. Dass sie ihre Liebschaften parallel nebeneinander herlaufen ließ, auch ein Mittel, um Verletzungen zu vermeiden, dachte er. Sie nannte ihre Liebschaften nie beim Namen. Es gab »den Alten«, »den Verrückten« und »den Kokser«. Namen, die Andreas an Kapitelüberschriften in einem Sexratgeber erinnerten. Als sie beim zweiten Bier waren, machte ihm Rebecca ein Geständnis, das zu diesem Bild passte.

»Ich hab ja den ganzen Rücken voller blauer Flecken.«

»Wie bitte?«, fragte er entsetzt. »Was ist denn passiert?«

»Na ja, ich hab letzte Woche mit einem Typen fünf Stunden lang Sex gehabt, voll auf Koks, und er hat mir immer auf den Rücken geschlagen, als er mich von hinten genommen hat. Und ich hab doch so empfindliche Haut.«

»Verstehe«, sagte er mit irritiertem Blick.

Gegen elf brachen sie auf. Es war eine laue Sommernacht, und er begleitete sie noch die Danziger Straße hinunter bis zur Greifswalder, wo sie abbiegen musste, weil sie dort seit ihrer Trennung mit ihrer Schwester in einer Einzimmerwohnung lebte. An der Kreuzung, an der die Danziger auf die Greifswalder traf, blieben sie stehen.

Sie umarmten sich, und als er sich aus ihrer Umarmung lösen wollte, spürte er ihren Widerstand. Sie schmiegte sich noch immer an ihn, er spürte ihr Abwarten, ob es die richtige Stimmung für den Moment des ersten Kusses war. Er fragte sich, aufgrund welcher Parameter ihm Once Rebecca wohl vorgeschlagen hatte. Es musste doch ein System geben, Auswahlkriterien, einen Sinn, dass gerade sie zueinander passen würden, eine tiefere Bedeutung. Er wusste nicht, ob es sich ihm heute Abend noch erschließen würde, vor allem nicht in seinem Zustand. Dann berührten sich ihre Gesichter, ihre Lippen, und er spürte, wie sich ihr Mund leicht öffnete.

»Komm doch noch mit«, sagte sie, als sie sich zehn Minuten später voneinander lösten.

Er sah ihr in die Augen. »Wir können’s doch so machen«, sagte er. »Lass uns doch noch mal treffen, wenn deine blauen Flecken verheilt sind. Dann fühl ich mich nicht ganz so austauschbar.«

»Na gut«, sagte sie leichthin. »Aber das geht bei mir immer ganz schnell.«

»Schön«, sagte er ein wenig hilflos und begleitete sie noch zur Ampel.

Bevor die Ampel auf Grün schaltete, sagte sie: »Aber eins musst du mir noch sagen. Soll ich, wenn ich gleich zu Hause bin, einen Vibrator benutzen oder soll ich’s mir der Hand machen? Ich denk ja dabei an dich, darum kannst du’s entscheiden.«

Andreas sah sie einen Moment lang verständnislos an. Es gibt Informationen, die so unerwartet sind, dass sich etwas in einem erst darauf einstellen muss. Das war eine dieser Informationen. Es dauerte tatsächlich einige Sekunden, bis sie ihn erreichte.

Dann hörte er sich sagen: »Mit der Hand.« Das war dann doch das erotischere Bild.

»Gut«, sagte sie und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange, bevor sie die Kreuzung überquerte. Er sah ihr nach, und jetzt fiel ihm ihre Eleganz auf, ihre Bewegungen und ihr Trenchcoat, der in diesem Moment wirkte, als wäre er nur für Rebeccas Art zu gehen entworfen worden, um sie zu vervollkommnen. Es war beinahe so, als würde sich ihre Anmut erst erschließen, wenn sie sich von einem entfernte. Andreas war noch ein bisschen die Danziger Straße hinunter gelaufen, vielleicht auch weil er ein wenig Zeit gebraucht hatte, um die letzten Stunden zu verarbeiten. Nachdem er den Volkspark Friedrichshain passiert hatte, war er in ein Taxi gestiegen.

Aus irgendeinem Grund zog Andreas solche Frauen an, warum auch immer. Sie bevölkerten seine letzten vier Jahre, als wollte ihm eine übergeordnete Intelligenz mit seinen Liaisons deutlich machen, wie kaputt sie alle waren. Einschließlich ihm. Aber er hatte auch festgestellt, dass es eine gute Masche war, bei Dates von Frauen wie Rebecca zu erzählen.

»Oh Gott. Was lernst du denn für Psychopathinnen kennen?«, riefen die Frauen dann, in ihre Blicke mischten sich Anteilnahme und die Überzeugung, anders zu sein als sie. Bisher hätte er kein Glück mit Frauen gehabt, erzählte der Unterton in ihren Stimmen, mit ihnen würde es nun endlich anders sein.

Als Rebeccas blaue Flecke verheilt waren, hatten sie sich getroffen und miteinander geschlafen. Der Sex mit ihr war wirklich außergewöhnlich, so etwas hatte er noch nie erlebt, aber ihr erster Abend wirkte nach. Etwas in ihm entschied immer schon in den ersten Minuten einer Begegnung, ob er sich eine Perspektive mit einer Frau wünschte oder nicht. Ob es eine Frau war, die in einen Nachmittag passte. Rebecca war keine Nachmittagsfrau. Würde er ihr zufällig in seinem Alltag begegnen, wäre das mit dem Gefühl verbunden, sie in der falschen Welt zu treffen.

Er sah keine Perspektive mit ihr, und das sagte er ihr auch. Er schlug ihr vor, sich lieber nicht mehr zu sehen, bevor Gefühle entstanden und einer von beiden zu leiden begann. Rebecca stimmte zu, schrieb ihm aber schon eine Woche darauf, dass sie sich darauf eingestellt hatte und damit umgehen könnte. Sie wollte nicht auf ihren Sex verzichten, sie harmonierten ja so gut. Er stimmte zu, achtete aber darauf, dass sie sich nur alle drei Wochen trafen, kürzere Abstände wären mit der Gefahr verbunden gewesen, einander zu vertraut zu werden. Einmal trafen sie sich zwei Tage in einer Woche, und er spürte eine Verbundenheit, gegen die sich etwas in ihm stemmte, weil sie sich nicht richtig anfühlte. Eine Nähe, die ihn einengte.

Einmal schrieb sie ihm, sie wäre auf einer langweiligen Party, und fragte, ob sie sich nicht sehen wollten. Als sie zwei Stunden später als zur verabredeten Zeit eintraf, sagte sie: »Tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich hab auf der Party noch geguckt, ob sich was Besseres ergibt.«

Danke, dachte er, aber zumindest war sie ehrlich.

»Du sagst tatsächlich, was du denkst«, sagte er.

»Machst du das nicht?«, fragte sie.

»Sagen wir’s mal so«, erwiderte er, »ich denke lieber leise.«

Als sie einmal an einem Spätsommerabend auf seinem Balkon saßen, fiel ihm auf, wie trocken und rissig ihre Hände waren.

»Was hast du denn mit deinen Händen gemacht?«

»Mein Dermatologe sagt, ich wasch sie zu oft«, sagte sie. »Ich putz mir auch die Zähne zu oft, mein Zahnarzt hat mir richtig befohlen, sie nicht länger als drei Minuten zu putzen, und nicht öfter als zwei Mal am Tag, weil ich mir sonst das ganze Zahnfleisch kaputt mache.«

Scheiße, dachte er. Er war offenbar gerade im Begriff, sie besser kennenzulernen, als er eigentlich wollte.

Im Herbst, dem Tag ihres ersten Abschieds, hatte Rebecca gesagt: »Ich bin ja jetzt für drei Monate weg.«

»Ach so.« Er setzte sich auf. »Wo fährst du denn hin?«

»Na ja, meine Psychologin hat aufgegeben«, sagte sie. »Ich muss in die Klapse.«

Klapse, dachte er hilflos. Was aus ihrem Mund wieder so unerbittlich harmlos klang, hieß dann wohl geschlossene Psychiatrie.

Es war der Abend, an dem sie ihm von den wiederkehrenden Albträumen erzählte, die sie nicht schlafen ließen, dass sie nur Schlaf fand, wenn jemand neben ihr lag. Und dann erzählte sie ihm, was ihr von ihrem Vater angetan wurde, als sie ein Kind war. Während er ihr immer fassungsloser zuhörte, spürte er, wie sich sein Blick auf ihren Sex veränderte. Wie das einzige, was sie zusammenhielt, verzerrt und entstellt wurde, weil er nun von den Vergewaltigungen wusste, zu denen er ihre sexuellen Vorlieben in direkten Zusammenhang setzen konnte. Er begriff, dass er nicht mehr in der Lage war, mit ihr zu schlafen, er würde immer an ihren Vater denken müssen, an dieses Schwein, der das Leben seiner Tochter zerstört hatte.

Sie war eine traurige, verwundete Seele, dachte er, und dann dachte er, dass er seit Monaten dabei war, sie noch mehr zu verwunden.

»Du kannst mich aber besuchen, wenn du willst«, sagte Rebecca.

Gott, dachte er. Das war der Abschied. Er sagte ihr, dass er heute lieber mit ihr zusammen einschlafen würde, und als sie am nächsten Morgen die Wohnung verließ, hatte er sich zuvor geschworen, dass sie sich nie wiedersehen würden. Er sagte es ihr nicht, es war ein unausgesprochener Abschied. Wieder eine Verwundung, die er ihr zufügen würde.

Das war ein halbes Jahr her, aber gestern, als er sich mit Stephan, dem Besitzer des Haus am See am Rosenthaler Platz, getroffen hatte, schickte Rebecca ihm eine Nachricht. Sie waren schon ziemlich betrunken, und darum beantwortete er sie wohl auch. Sie verabredeten sich im Muschi Obermaier und fuhren dann zu ihm.

»Warte, ich muss noch den Wecker stellen«, hatte Rebecca gesagt, bevor sie ins Bett gingen.

»Musst du morgen arbeiten?«

»Nein, ich muss meine Medikamente nehmen. Immer um zehn. Ich vergess das sonst immer.«

Jetzt fiel ihm ein, dass Rebecca ihm einmal von dieser Partyreihe im Prince Charles erzählt hatte, von der auch Leonie oft gesprochen hatte. Engtanz. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich vorzustellen, dass sie sich im selben Raum aufhielten, aneinander vorbeiliefen oder einander registrierten, vielleicht sogar schon miteinander gesprochen hatten, ohne zu wissen, dass es zwischen ihnen durch ihn eine Verbindung gab.

Mit diesen Gedanken tauchte er wieder in die Gegenwart ein, in der er das Geräusch von Rebeccas nackten Füßen auf dem Parkettboden des Flurs hörte. Als sie behutsam die Schlafzimmertür öffnete, schloss er die Augen. Er hoffte kurz, sie würde sich anziehen, aber sie legte sich noch einmal zu ihm ins Bett. Er dachte noch einmal an die Frage, die er sich bei ihrem ersten Treffen gestellt hatte, als sie an der Ampel gewartet hatten, damals im Sommer. An die tiefere Bedeutung des Abends. Eine Frage, die er erst jetzt mit dem nötigen Abstand beantworten konnte. Jetzt hatte er die Antwort.

Rebecca stand für eine Phase, in der er sich seit der Trennung von Susanna befand, die nur durch Leonie unterbrochen worden war. Eine Phase, in der es zu viel Neues gab, was ihn fesselte, und zu wenig, was ihn hielt. Eine Phase, in der er jedem Impuls nachgab, was dazu führte, dass er zu keinem dauerhaften, tiefen Gefühl fähig war. Eine Phase, in der seine Liebschaften nie länger als einen Monat hielten, weil er Nachschub brauchte. Er hatte es sich in einer Gefühlskälte eingerichtet.

In dieser Phase gab es keine Dates, sondern nur Begegnungen. Und plötzlich begriff er, dass er Dates nicht, wie er sich einredete, Begegnungen nannte, um die Verspannung zu lösen, sondern dass die Bezeichnung eine Ausrede war. Der Begriff »Date« wog zu schwer, er erzeugte Druck, er war nicht von der Zukunft befreit. Jemand, der aus der Welt der Dates eine Welt der Begegnungen machte, richtete sich in einer Welt der Unverbindlichkeit ein. Auf seiner ewigen Suche nach der Frau, die besser zu ihm passte, war ihm nicht aufgefallen, dass die Suche nach Liebe durch die Suche nach Sex ersetzt worden war. Je mehr Dates man hatte, desto mehr wurden sie zur Routine, und in der Welt der Routinen gab es keine kostbaren Momente.

Vor ihm tauchten Szenen auf, in denen er mit Bekannten in Bars saß, damit sie sich gegenseitig auf ihren Handys die Fotos vergangener Liebschaften zeigen und detailliert den Sex mit ihnen auswerten konnten, als wären sie Trophäen. Er hatte festgestellt, dass er die Bedeutung, die er einer Frau gab, an seinem Schweigen über das Liebesleben mit ihr erkannte. Von dem Sex mit Rebecca wussten alle alles.

Er war ja auch Teil einer Phase, in der sich Rebecca gerade befand, dachte er. Einer Phase, in der nur Männer mit Artikel vorkamen. Er reihte sich ein neben den Alten, den Verrückten und den Kokser. Er fragte sie, wie sie ihn nannte, vielleicht war er »der Schriftsteller« oder »der, der zu viel spricht«. Er dachte noch einmal daran, dass Rebeccas Mutter wohl gesagt hatte, dass er nicht gut für sie wäre, und so wie es aussah, hatte sie recht. Rebecca hätte auf sie hören sollen.

Ihm kam der Gedanke, dass er vielleicht nur deshalb Frauen wie Rebecca anzog, weil sie am schnellsten Argumente lieferten, die gegen eine Perspektive mit ihnen sprachen. Sein Leben war wohl eher Tinder, weniger Once. Zusammengesetzt aus Lieblosigkeit, Beliebigkeit und Austauschbarkeit, dachte er, gleichzeitig schien es ihm schon fast beunruhigend, wie gnadenlos seine Selbstbeobachtung gerade war.

Rebecca stand für eine Phase, die er hinter sich lassen musste. Er spürte, dass er sich wieder auf jemanden einlassen wollte, sich wieder verlieben, wirklich verlieben wollte. Es war Zeit für eine neue Phase, die nie endende, in der es tiefgehende Gefühle gab, die in die Substanz seiner Seele eingingen. Er musste nur der Frau begegnen, die diese Gefühle in ihm auslöste und in der er diese Empfindungen ebenfalls weckte.

Manchmal las er sich noch einmal die Nachrichten der Frauen durch, bei denen er sich nicht mehr gemeldet hatte, ihre Theorien, warum er sich verhielt, wie er sich verhielt, ihre Analyse, was er für ein Mensch war. Wenn es nach ihren Interpretationen ging, war sein Charakter von Ängsten und Neurosen durchsetzt. Eine These fand er besonders interessant: Eine der Frauen hatte ihm vorgeworfen, dass er, auch wenn er nichts empfand, die Gewissheit benötige, dass sein Gegenüber Gefühle für ihn hatte. Er brauche die Ahnung einer Perspektive, obwohl es keine für ihn gab, als würde er dessen Gefühle brauchen, um sie abzusaugen, um zu spüren, dass er lebte. Wenn sich die Frau dann in ihn verliebe, würde sie nutzlos werden und er sich auf die Suche nach der nächsten machen, nach frischen Gefühlen, die er verwerten konnte. Wie ein Vampir.

»Gott, seh ich durchgefickt aus«, rief Rebecca eine Stunde später vor dem Flurspiegel. »Was machst du denn immer mit meinen Haaren?«

Er erhob sich und griff lachend nach seinen Boxershorts, die neben dem Bett lagen. Als sie ihren Mantel angezogen hatte, öffnete er die Wohnungstür und warf einen prüfenden Blick in den Hausflur, ob keine Nachbarn zu sehen waren. Sie setzte eine große Sonnenbrille auf, bevor sie die Wohnung verließ.

Er sah ihr nach, bis sie nach einem kurzen Blick zurück die Treppe hinunter verschwand. Dann schloss er behutsam die Tür. Im Wohnzimmer schaltete er sein Handy ein. Wenn er Frauen zu Besuch hatte, stellte er es immer auf Flugmodus. Sein Handy vibrierte ein paar Mal, er hatte vier Nachrichten. Zwei waren Spontansexangebote, Booty Calls von Frauen, deren Nummern er offensichtlich schon gelöscht hatte, eine von seinen Eltern und eine von Christoph.

Bei Christophs Namen entfuhr ihm ein Seufzer.

Als er die Nachricht las, tauchte der Abend im Frühling wieder vor ihm auf. Sie hatten Nummern getauscht. Seitdem meldete sich Christoph in unregelmäßigen Abständen, um ihn um Rat zu fragen. Und auch jetzt schrieb er, dass er einen Rat bräuchte, ob sie sich treffen könnten.

Er stand am Fenster und blickte hinunter auf die Promenade vor seinem Haus, auf der gerade eine Joggerin vorbeilief, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Das hatte er so auch noch nicht gesehen. Er sah der Joggerin und ihrem Kinderwagen nach und dachte an die Erkenntnisse, die er eigentlich schon immer gefühlt, aber in der letzten Stunde in Gedanken zum ersten Mal ausformuliert hatte.

Vielleicht war es ja ein Zeichen, dass sich Christoph, dessen Leben wirklich ein Gegenentwurf war, genau jetzt meldete. Andreas nahm sein Handy und schrieb Christoph: »Klar, können wir gern machen. Morgen Nachmittag hab ich Zeit. So ab sechzehn Uhr?«

Dann beantwortete er noch schnell die Nachricht seiner Eltern, in der sie sich erkundigten, wie es ihm ging, weil sie sich immer gleich Sorgen machten, wenn er sich mal drei Tage nicht meldete.

»Alles gut«, schrieb er. Alles gut.

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