Читать книгу #EGOLAND - Michael Nast - Страница 12
DIE TRISTESSE DER MITTELMÄSSIGKEIT
ОглавлениеDie Nacht machte den Frühlingstag zu einem milden Herbstabend, Leonie zog ihren Mantel enger. Sie spürte das Vibrieren ihres Handys in der Manteltasche, als sie die Pappelallee hinunterlief. Es war eine Facebook-Nachricht von Paul.
»Danke für den wirklich schönen Abend«, stand da. »So ein Gefühl hatte ich seit Jahren bei keiner Frau. Ich glaub, das kann etwas ganz Großes werden.«
Sie lachte ungläubig. Was stimmte mit den Leuten nicht? Offensichtlich hatten sie verschiedene Abende erlebt. Er hatte nichts verstanden. Ihr Blick flog noch ein paar Mal über die Sätze, mit einem warmen Gefühl. In den Zeilen entdeckte sie ihn wieder. Den Mann, den sie erwartet hatte, als sie sich mit ihm traf. Er existierte offensichtlich nur in einer überzeichneten Wirklichkeit, zusammengeschoben aus Nachrichten und Fotos.
Zwanzig Minuten später überquerte sie den Helmholtzplatz, bog in die Raumerstraße ein und stieg die Stufen hinauf, die zu der Wohnung führten, in die sie vor zwei Jahren mit Annelie gezogen war.
»Na du«, rief Annelie, die im Flur kniete und ihre Schuhe anzog. »Bin grad auf dem Sprung.«
Sie war immer auf dem Sprung, dachte Leonie. Sie musste immer von Menschen umgeben sein, immer rastlos, es gab keine Langsamkeit in ihrem Leben. Sie war zu sehr damit beschäftigt, nicht allein zu sein.
Leonie sah auf die Uhr, die über dem Türrahmen zum Wohnzimmer hing. Sie zeigte zehn Uhr. Sie hatte den Eindruck, es wäre viel später, kurz nach Mitternacht, aber jetzt fiel ihr ein, dass sie sich mit Paul schon um 19 Uhr getroffen hatte. Es war schon ein Wunder, dass sie es drei Stunden ausgehalten hatte. Die drei Stunden waren ihr offenbar wie ein Arbeitstag vorgekommen. Sie war einfach zu weich, sie saß die Dinge aus. Annelie brach Dates, bei denen klar war, dass sich nichts ergeben würde, nach zwanzig Minuten ab.
»Ein Date? Um die Uhrzeit?«, fragte Leonie, um einen Übergang zu diesem schrecklichen Paul zu schaffen, sie musste einfach jemandem davon erzählen.
»Nee, kein Date«, sagte Annelie. »Ist ’ne Party, irgendwas Illegales, komm doch mit? Haste Lust? Heute werden alle Klarheiten mal so richtig schön mit Sambuca beseitigt.« Sie lachte dieses erfrischende Lachen, um das Leonie sie manchmal beneidete, während sie ebenfalls zur Uhr über dem Türrahmen blickte. »Mist, das wird hier schon wieder alles viel zu knapp.« Sie stand auf, um Leonie zu umarmen.
»Wo ist denn das?«, fragte Leonie.
»Wedding.«
Oh, dachte sie, willkommen im sozialen Brennpunkt, und man sah es ihr wohl auch an.
»Wird bestimmt lustig«, sagte Annelie.
»Bestimmt«, lachte Leonie, »aber nee, lass mal. Ich komm gerade von einem Date. Mit Paul.« Sie sprach seinen Namen sehr akzentuiert aus. »Das muss ich erst mal noch verarbeiten.«
»Ach ja, stimmt, wie war’s denn?«, sagte Annelie.
»Wie immer.« Leonie lachte bitter.
»Wie immer. Na ja, nur Idioten in der Stadt hier, Berlin zieht solche Leute an. Meine letzte Beziehung hatte ich ja auch, bevor ich hergezogen bin.«
»Auf ’ner illegalen Party im Wedding wirst du um drei Uhr morgens aber auch nicht den Richtigen finden.«
»Wer sagt denn, dass ich auf ’ner illegalen Party im Wedding den Richtigen suche. Ich muss echt mal wieder vögeln.« Sie erhob sich, um ihren Mantel anzuziehen. »Guter Körper, aber nur definiert, nicht zu muskulös. Einer mit so ’nem leeren Blick, dann kann ich mir einreden, er ist ein trauriger, tiefsinniger Mensch, der unter seinem Schicksal leidet oder so. Das gibt ihnen so was Tragisch-Intellektuelles, da steh ich voll drauf.«
»Er darf nur nicht anfangen zu reden«, lachte Leonie.
»Stimmt, aber nach dem vierten Moscow Mule ist das dann auch egal. So, ich hau ab. Machst du noch was?«
»Ja«, Leonie lächelte, »ich mach mir noch ’ne Flasche Wein auf.«
»Sehr gut, na dann. Entspann dich.« Annelie umarmte sie und küsste Leonie über die Schulter ins Leere. Als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, fiel auch die ganze Ruhelosigkeit, die Annelie produziert hatte, von Leonie ab. Annelie war so energiegeladen, es war anstrengend, als würde sie einem mit ihrer Energie alle eigene Energie entziehen. Annelie war ein Phänomen, dachte sie. Dieser ganze obligatorische Optimismus, den sie ausstrahlte. Sie sah immer alles so positiv, genau das hasste Leonie an ihr, obwohl sie sie auch darum beneidete. Manchmal hörte man um 8 Uhr morgens ihr lautes Lachen in der Küche, eine Uhrzeit, zu der Leonie mit guter Laune noch nicht umgehen konnte. Sie musste nach dem Aufwachen sanft in den Tag gleiten, sie brauchte keine abrupten Brüche, und Annelie war die personifizierte Aneinanderreihung abrupter Brüche. Es war so wohltuend, jetzt allein zu sein. Es war fast so, als wäre man von allem befreit.
Leonie zündete die dicken Kerzen an, die auf Fensterbrett standen. Sie stellte ein Rotweinglas auf den Wohnzimmertisch, nahm die angebrochene Flasche Wein aus dem Kühlschrank und setzte sich in den weichen Sessel, in dem man fast versank. Die Kerzen verbreiteten ein warmes Licht. Sie schenkte sich ein, trank einen Schluck Wein und schloss die Augen. Eine angenehme Müdigkeit breitete sich in ihr aus, sie nickte fast ein.
In diesem Moment hörte sie Musik. Es war eine sanfte und melancholische Musik. Jemand spielte in einer der Nachbarwohnungen Klavier. Die Melodie war ihr vertraut, sie konnte sie aber nur vage zuordnen. In dieser Variante gefiel sie ihr in jedem Fall besser. Sie schloss die Augen und stellte sich eine junge Frau vor, die in dieser Frühlingsnacht bei weit aufgerissenen Fenstern Klavier spielte, sie stellte sich Vorhänge vor, die sich im Wind bewegten, und dann stellte sie sich vor, wie vereinzelte Bewohner der Nachbarwohnungen jetzt genauso lauschten wie sie, ganz ruhig und mit geschlossenen Augen. Die Musik verband sie, sie waren ein unsichtbares Publikum, jeder für sich und doch in stillem Einverständnis miteinander. All das malte sie sich aus, versank mit der Musik in ihren Gedanken und dachte, dass sie sich seit langer Zeit nicht mehr so zu Hause gefühlt hatte, dass dies einer jener seltenen Momente war, in denen man spürte, nicht nur die Illusion eines Lebens zu leben, und jetzt fühlte sie, wie dringend sie jemanden brauchte, der sie verstand, der sie wirklich verstand.
Plötzlich brach eine Stimme in ihre Gedanken, eine schroffe Männerstimme, deren Grobheit in Sekundenbruchteilen die kostbare Stimmung zerriss.
»Ruhe da drüben!«, pöbelte der Mann. »Haste mal jekiekt, wie spät es is? Jibt ooch noch Leute, die morgen arbeiten müssen.«
Die Musik verstummte erschrocken, und auch Leonie saß ganz still und erstarrt, als wäre sie ertappt worden. Das war Berlin. Ein kleinstädtisches Provinznest, das von Proleten bevölkert war. Darum wurde Berlin nie wie Paris, London oder New York, wie es sich ja so viele wünschten. Sie war von Bauern umgeben, dachte sie verächtlich, von Bauern in der Stadt, und sie erschrak über ihren Hass.
Eine Weile war es ganz still. Während sie in die Dunkelheit lauschte, stellte sie sich den Mann vor, zu dem die Stimme gehörte. Sie sah einen fettleibigen, ungepflegten Menschen, jemand, der einem in Unterwäsche die Wohnungstür öffnete, jemand mit teigiger Haut, der Kette rauchte, Schlagermusik hörte und Probleme mit Ausländern hatte. Es war ein Klischee, und wahrscheinlich wäre sie überrascht, wenn sie den Mann wirklich sähe. Vielleicht war er ein großer und schlanker junger Mann in einem hellen Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, aber das andere Bild gefiel ihr besser, es hielt ihre Welt geordneter.
Ganz unerwartet begann die Musik wieder zu spielen, anfangs ganz zaghaft, und dann immer eindringlicher und hingebungsvoller. Sie schwoll an, war schön und klar. Man hörte, dass da jemand seine ganze Auflehnung hineinlegte, als wäre jeder Anschlag ein Rebellieren gegen die Mittelmäßigkeit, gegen die fürchterliche Tristesse der Mittelmäßigkeit.
Niemand unterbrach die Musik mehr. Sie schloss wieder die Augen und hörte zu, bis sie einnickte und sich die Musik in einem Traum verlor, an den sie sich später nicht mehr erinnerte.