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GENERATION BEZIEHUNGSFÄHIG

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Es war eine Phase, dachte Julia. Es war nur eine Phase.

Sie sank in die weichen Polster des Großraumtaxis, während ihr Blick über die vom Glas der abgedunkelten Scheiben gedämpfte Bänschstraße zog, als wäre es eine andere Wirklichkeit. Dasselbe behütete Gefühl verband sie mit ihrer Wohnung, eine gemütliche, beherrschbare Insel, abgeschottet von der unruhigen Welt, die sie umbrandete.

Sie saß auf der Rückbank und spürte den Druck, als der Wagen anfuhr. Sie mochte es, in die Rückenlehne gepresst zu werden, und freute sich schon auf den Start des Flugzeugs, den Druck, der sie davontrug, in eine andere Wirklichkeit, auch wenn es nur die mallorquinische Wirklichkeit eines Hotelkomplexes war, einer Gegend ohne Altbauten, in der sich deutsche Touristen darüber beschwerten, wenn Einwohner der Insel nicht deutsch sprachen.

Sie hätte gern eine kleine Pension im bergigen Westen der Insel gebucht, aber dem Argument ihrer Freundinnen, dass es zu weit zum Strand wäre, gab es nichts entgegenzusetzen. Sie sah es in ihren Blicken.

Sie mussten nach Schönefeld, fuhren aber über Charlottenburg, um Erik nach Hause zu fahren, ein dreißigminütiger Umweg, mindestens. Anfangs hatte sie seinen Vorschlag für einen Scherz gehalten, das konnte er nicht ernst meinen, aber so war Erik nun mal. Rücksicht war noch nie seine Stärke gewesen. Wahrscheinlich hatte er deshalb das höchste Einkommen ihres Bekanntenkreises, er achtete nicht so sehr auf andere. Hauke war nach Hause gelaufen, er wirkte nachdenklich in letzter Zeit, nachdenklicher als sonst, das hatte auch Melanie gesagt. Er war in seiner nachdenklichen Phase, wie Christoph.

Erik saß auf dem Beifahrersitz und beschrieb dem Fahrer detailliert, wie er genau zu fahren hätte.

»Sie werden’s nich glooben, aber ick kenn den Weg«, sagte der Mann.

»Dette hab ick schon oft jenuch jehört«, erwiderte Erik in diesem imitierten Berlinisch, dem man anhörte, dass er nicht aus Berlin kam. Es war einfach nur peinlich. Sie musste mal mit ihm darüber reden, oder mit Carina.

»Ick kann ooch dit Navi anmachen«, sagte der Fahrer.

Erik machte eine wegwerfende Geste. Er war vor zehn Jahren nach Berlin gezogen und das Leitthema seiner Berliner Jahre war es, jedem zu zeigen, wie gut er die Stadt kannte. Ein überassimilierter Niedersachse, der allen ungefragt beweisen wollte, dass er ein Berliner geworden war. Ein ewiger Kampf, obwohl Berliner in seinem Umfeld kaum vorkamen. Aber vielleicht wollte er seinen Freunden nur zeigen, dass er weiter war als sie.

Während draußen die leere Stadt vorbeizog, entfernte sich Eriks Stimme immer weiter von Julia. So ähnlich hatten die Stimmen ihrer Eltern geklungen, damals, auf den langen Autofahrten zu ihren Großeltern, wenn sie als Siebenjährige auf der Rückbank kurz davor war einzuschlafen. Sie befand sich in einer Blase, die Welt war gedimmt, eine andere Realität, in der gerade der Alexanderplatz vorbeiglitt.

Es waren immer nur Phasen, dachte sie, und sie würden auch diese überstehen. In schlechten Beziehungen trieben Probleme die Paare auseinander, in guten schweißten sie sie zusammen. Und ihre Beziehung war gut, da war sie sich sicher. Vor allem, wenn man sie mit den Phasen verglich, in denen sich Carina und Melanie mit ihren Freunden befanden.

»Jetzt links! Links!«, hörte sie Erik panisch rufen, als wäre er ein Fahrlehrer, der die Kontrolle über seinen Schüler verlor.

»Alles gut, Erik«, rief Julia hektisch. Sie musste unbedingt mit Carina reden.

Der Fahrer bog ab und machte die Musik ein bisschen lauter, noch ein Zeichen, das Erik nicht verstand.

Carina, die sich gerade in ihrer weißen Phase befand, wenn man von der Einrichtung ihrer Wohnung ausging, blickte zu ihrem Freund, als wäre er nicht da. Als würde sie eine leere Leinwand betrachten, um festzustellen, dass es nichts zu entdecken gab. So gesehen war auch Erik Teil ihrer weißen Phase, vielleicht sogar die personifizierte weiße Phase.

Julia folgte Carinas Blick und betrachtete Eriks Hinterkopf. Sie würde nicht so weit gehen zu sagen, dass er alles verkörperte, was sie hasste, aber sie fragte sich, wie Carina es mit ihm aushielt. Oder wie lange sie es noch mit ihm aushalten würde. Ihr wäre es nicht möglich, mit jemandem zusammen zu sein, dem es immer nur darum ging, andere von seiner Meinung zu überzeugen. Sie mochte ihn nicht besonders, aber durch Melanie war er nun mal da, und jetzt musste man das Beste daraus machen. Die Verwandtschaft und die Partner seiner Freundinnen konnte man sich schließlich nicht aussuchen. Wenn Carina sich nicht von ihm löste, würde sie sich irgendwann in eine dieser Frauen verwandeln, die ihren Mann nach zwanzig Ehejahren ohne einen von außen ersichtlichen Grund mit einem stumpfen Gegenstand erschlugen, um bei den anschließenden Vernehmungen mit ruhiger Stimme zu erklären, sie habe seinen Anblick und vor allem sein Gerede einfach nicht mehr ertragen.

Eriks Art machte es einem einfach, ihn nicht zu mögen, auch wenn sie sonst keinen Einblick hätte, wäre das so. Aber natürlich kannte sie die Geschichten. Bei Hauke war es anders, da wünschte sich Julia, nicht so viel über ihn zu wissen. Sie verstanden sich gut. Sie hätte ihn wirklich gemocht, wenn dieser Abend im vorletzten Sommer nicht gewesen wäre, der alles verdorben hatte. Der Abend, der seine Beziehung immer noch bestimmte, und natürlich auch ihr Bild von ihm. Sie war schließlich Melanies Vertraute. Es war der Abend, an dem er Melanie betrogen hatte. Es war ein Ausrutscher, das war ja inzwischen klar, obwohl das natürlich keine Rechtfertigung war.

Zwei Jahre, dachte sie. Das war jetzt schon fast zwei Jahre her. Es war unglaublich, wie die Zeit verging.

Das Sommerfest seiner Firma hatte für Hauke um drei Uhr morgens in einem Hauseingang der Palisadenstraße geendet, mit einer Kollegin, mit der er, wie er behauptete, in den drei Jahren, in denen er bisher dort gearbeitet hatte, kaum ein Wort gewechselt hatte. Beide mussten sehr betrunken gewesen sein. Ein Anwohner hatte die Polizei verständigt, weil er wegen der Lustschreie von Haukes Kollegin annahm, hier finde gerade ein Kapitalverbrechen statt. Sie schickten drei Wagen. Die Sirenen unterbrachen die beiden noch nicht, aber als die Wagen am Straßenrand hielten, um sie praktisch einzukesseln, ließen sie voneinander ab. Die Beamten trugen Kampfmontur, nahmen ihre Personalien auf und kündigten eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses an, bevor sie sie nach Hause schickten. Melanie fand es heraus, als der Brief einige Wochen darauf zugestellt wurde. Sie wohnten zusammen, seit Jahren schon, es war selbstverständlich für sie, dass sie seine Briefe öffnete.

»Wie Tiere müssen die übereinander hergefallen sein«, hatte Melanie verächtlich gefaucht, als sie Julia den Brief mit zitternden Händen überreicht hatte. »Gefickt müssen die haben, wie die räudigen Hunde.« Es war das erste Mal, dass sie das Wort »Ficken« aus Melanies Mund gehört hatte. Seit diesem Sommer war es zu einem festen Bestandteil ihres Wortschatzes geworden.

Julia kannte die Geschichte inzwischen so gut, als wäre sie in dieser Nacht dabei gewesen, als hätte sie die beiden gefilmt, so oft hatte sie es in Gedanken durchgespielt. Sie musste sich immer, wenn sie Hauke sah, vorstellen, wie er in diesem Hauseingang diese Nina fickte. Sie wusste sogar, wie sie aussah, seitdem sie mit Melanie ihre Fotos auf Instagram gesichtet und natürlich ausgewertet hatte. Seitdem wusste sie auch, dass sie Nina hieß.

Sie hatte den Brief natürlich gelesen, alle ihre Freundinnen hatte ihn gelesen, und Melanies Kolleginnen. Sie wollte gar nicht wissen, wem Melanie den Brief noch gezeigt hatte. Hauke war zu einem Gesprächsthema geworden, öffentlich gedemütigt. Vogelfrei. Julia wusste nicht, ob das Hauke überhaupt bewusst war. Mit ihm hatte sie nie darüber gesprochen. In seiner Gegenwart wurde das Thema nicht berührt. Er ließ sich auch nichts anmerken. Sah man die beiden in der Öffentlichkeit, wirkte es, als wäre alles in Ordnung. Aber sie wusste natürlich, wie sehr die beiden immer noch litten. Sie wusste, dass Melanie von ihm verlangt hatte, dass er ihr die Straße zeigte, in der es passiert war. Sie hatte den Hauseingang besichtigt, ihm Fragen gestellt, jedes kleinste Detail wissen wollen. Es musste schrecklich gewesen sein, für beide. Sie wusste auch, dass Melanie danach noch zweimal allein dort gewesen war, und dann noch einmal mit ihm. Man sagt ja, dass man sein Leiden auch genießen konnte, vielleicht traf das auf Melanie zu. Es schien ihr selbstauferlegtes Martyrium zu sein.

Julia hatte ein schlechtes Gewissen, wenn Hauke ihr Bücher empfahl oder sie sich länger unterhielten. Sie war schließlich Melanies Freundin, Julia war auf ihrer Seite. Aber es ging doch darum, wieder in eine Normalität zu kommen. Auch wenn klar war, dass Melanie die Normalität nur spielte.

Manchmal fragte sie sich, warum sich die beiden das antaten. Die Wunde schloss sich nur langsam. Und es war nicht sicher, ob sie sich überhaupt schließen würde. Wie sollte Melanie es auch verarbeiten, wenn sie jeden Tag den Grund für ihr Leiden sah. Und dann waren da noch die Gedanken an Nina. Hauke sah sie schließlich jeden Tag, sie war praktisch Teil seiner Wirklichkeit. Eigentlich hätte er die Firma wechseln müssen, dann würde es vielleicht schneller gehen.

Aber sie konnte das alles natürlich nicht wirklich einschätzen, sie war noch nie betrogen worden. Es war ein Schmerz, den sie nicht kannte. Wahrscheinlich hätte sie sich getrennt. Sie hätte es nicht ausgehalten. Sie fragte sich, ob sie es wissen wollen würde, wenn Christoph sie betrog. Ja. Die Wahrheit war ihr lieber, obwohl sie durch Melanie und Hauke mitbekommen hatte, was die Wahrheit anrichten konnte.

Sie wusste, wie sehr Hauke Melanie monatelang in verzweifelten Gesprächen beteuerte, wie sehr er sie liebte. Was die beiden da kultivierten, wusste Julia nicht, aber mit Liebe hatte das ihrer Meinung nach inzwischen nichts mehr zu tun. Nicht mehr. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, dass Hauke mit Christoph mal ein Bier trinken ging.

Sie dachte an die stundenlangen Spaziergänge, die sie mit Christoph unternommen hatte, als sie noch in Weißensee gewohnt hatte und er in der Greifswalder. Sie waren durch die Stadt und die Parks gelaufen, hatten sie neu entdeckt. Als wäre ihre Liebe nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, hatten sie sich nur verhalten berührt. Die Blicke anderer hätten den zerbrechlichen Zauber eines Kusses oder einer liebevollen Berührung womöglich verderben können. Auch heute noch fühlte sie sich beobachtet, wenn sie sich in der Öffentlichkeit küssten, als würde sie ihre Gefühle vor Voyeuren ausstellen, sie beweisen müssen und ihnen damit ihren Wert nehmen. Ihre Gefühle waren zu wertvoll, sie waren nur für sie beide bestimmt. Ein Publikum machte sie profan, banal und austauschbar. Sie spürte ein warmes Gefühl. Ihre Probleme, wenn man sie überhaupt Probleme nennen konnte, waren einfach zu unbedeutend, um das zu trüben. Auf jeden Fall waren es keine Probleme, die wie bei Erik und Carina mit einer Trennung zu lösen waren.

Christoph brauchte Luft zum Atmen, vielleicht mehr als andere, ihre Kurzurlaube mit Franzi, Carina und Melanie waren ihr Mittel, sie ihm zu verschaffen. Als Lehrerin konnte sie nur in den Ferien verreisen, darum hatte sie die Woche schon im Herbst gebucht, genauso wie die zwei Wochen im Sommer. Er sprach nun mal selten über seine Probleme. Er machte die Dinge mit sich selbst aus, auch in Bezug auf seine Arbeit. Sie war eine andere, unbekannte Welt, die ihre Wirklichkeit kaum berührte, aber sie vermutete, dass es der Job war, der ihn belastete, und das strahlte auf ihre Beziehung. Wenn er die Arbeit gar nicht mehr erwähnte, war das immer ein Zeichen. Er brauchte eine Veränderung, das spürte sie.

Der Geburtstag war ein guter Anfang, ein erster Schritt, auch wenn der Abend natürlich nicht optimal verlaufen war. Er war zu kurz gewesen und sie hätte gern mal jemanden von Christophs Freunden eingeladen. Ihr gemeinsamer Freundeskreis setzte sich mittlerweile nur noch aus Leuten zusammen, die sie einbrachte.

Aber auf die Geschenke war sie sogar ein bisschen stolz, sie hatten die Mängel des Abends ausgeglichen. Es waren Geschenke, bei denen sie mitgedacht hatte. Sie hatte darauf geachtet, was Christoph beschäftigte. Sie hatte auf Nebensätze geachtet, auf seinen Blick, wenn er sich im Restaurant gegen das Gericht entschied, was er eigentlich essen wollte. Er wollte sich gesünder ernähren, er wollte wieder Sport machen, und er wollte aufhören zu rauchen. Er ließe sich gehen, hatte er gesagt. Er brauchte nur einen Impuls. Ein gesünderes Leben war immer ein guter Impuls.

Carina und Melanie schwiegen wie sie. Ihr Schweigen würde sich lösen, wenn sie nachher mit den beiden im Flugzeug saß. Mit neuen Geschichten würden sie ihr Bild von Erik und Hauke zementierten. Sie war nicht mehr in der Lage, unvoreingenommen mit Erik und Hauke umzugehen. Aber Carina war der Auffassung, Freundinnen wären dazu da, dass man mit ihnen schlecht über ihre Männer reden konnte. Ihr kam der Gedanke, dass Erik vielleicht der Mann war, den sie verdiente. Franzi fiel ihr ein, die diesmal leider nicht dabei war, und Julia spürte schon jetzt, wie sehr sie sie vermisste, wie sehr sie ihr fehlte.

Ihr Blick traf noch einmal Eriks Hinterkopf und wanderte dann von Carina zu Melanie, die immer noch schweigend neben ihr saßen. Die hatten Probleme, wirkliche Probleme, nicht Christoph und sie.

Julia dachte an Christoph und an den Abstand zwischen ihnen, der immer größer wurde. Wenn sie wieder zurück war, mussten sie wieder einmal miteinander reden. Richtig miteinander reden. Sie könnten im Brot und Rosen einen Tisch reservieren, als hätten sie ihr erstes Date.

Sie würden es hinbekommen, dachte sie.

#EGOLAND

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