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DIE VERSION EINES LEBENS

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Am späten Nachmittag dieses strahlenden Tages saß Christoph zurückgelehnt an seinem Schreibtisch in der siebzehnten Etage eines fünfundzwanziggeschossigen Plattenbaus in der Leipziger Straße. Die Aussicht war atemberaubend, man fühlte sich privilegiert, wenn man durch die hohen Fenster über die Stadt blickte. Er ließ den Ausblick noch einen Moment lang auf sich wirken, bevor sein Blick wieder auf den Tiefpunkt seiner Karriere fiel, der auf dem Bildschirm des iMac schimmerte; harmlos aussehende Entwürfe, die vor seinen Augen verschwammen, als würden sie ihm die Nutzlosigkeit, Tragik und Bedeutungslosigkeit seines neunjährigen Arbeitslebens vorwerfen. Seine eigene Arbeit lachte ihn aus, dachte er, wie ein Kind, das den Respekt vor seinen Eltern verloren hatte.

Er hob den Blick erneut zum Fenster und dachte daran, wie groß seine Pläne einmal gewesen waren, damals, während des Studiums, als ihm die Zukunft wie ein Abenteuer erschien, das sich aus Kampagnen für Adidas, Apple oder Universal zusammensetzte. Es hatte sich mit den Jahren in Kampagnen für Einkaufscenter, Broschüren für Autohäuser und Websites für Immobilienmakler aufgelöst, in viele kleine Kompromisse, die seinen Alltag zu einem großen Kompromiss gemacht hatten.

Mit diesem bedrückenden Gedanken tauchte er wieder in das Gespräch mit Karnowski ein, der seit zwanzig Minuten auf ihn einredete. Seitdem Karnowski das Büro betreten hatte, hatte Christoph nur drei Worte gesagt, inklusive Begrüßung. Seitdem umspülte ihn Karnowskis Redestrom, ohne ihn zu berühren, es hatte etwas Einschläferndes. Freitag war der Tag, an dem Karnowski seine Rolle als Geschäftsführer verließ, um seinen Mitarbeitern als Mensch zu begegnen, auch wenn er sie gestern noch zusammengeschrien hatte. Sein sozialer Tag gewissermaßen, vielleicht die Idee seines Analytikers. Er suchte Karnowskis Blick, doch der hatte die Angewohnheit, seinem Gegenüber nicht in die Augen zu sehen, weder in Gesprächen noch wenn er ihm die Hand gab.

Er atmete den süßlich stechenden Geruch ein, der Karnowski umgab. Der Mann benutzte so viel Parfum, dass sich ein Raum praktisch in eine andere Klimazone verwandelte, wenn er ihn betrat. In eine, in der schnell mit Kopfschmerzen zu rechnen ist. Er spürte bereits einen leichten Druck hinter den Augen, als Karnowski noch in der Tür stand. Heute trug er Boss Bottled. Christoph verstand nicht, wie man einen Duft tragen konnte, der sich schon seit zehn Jahren auf den oberen Plätzen der Herrenparfum-Verkaufscharts befand, und dann fragte er sich, wie es dazu kommen konnte, dass er sich in den oberen Plätzen der deutschen Herrenparfum-Verkaufscharts so gut auskannte. Es lag wohl daran, dass er das verhängnisvolle Talent hatte, sich überflüssige Dinge zu merken. Es überraschte ihn manchmal selbst, was er sich gelegentlich so erzählen hörte, als hätte er die Rubrik »Unnützes Wissen« aus der Neon auswendig gelernt. Manchmal dachte er, er sei wie diese Rubrik, wahrscheinlich beschrieb sie ihn am besten.

Während Karnowski sprach, fiel Christoph auf, dass er sich in einer ungewohnt melancholischen Stimmung befand, was vielleicht an diesem gerade heute so überwältigendem Ausblick lag oder daran, dass er morgen dreiunddreißig Jahre alt wurde.

Plötzlich stellte Karnowski die erste Frage der Unterhaltung. Es war der erste Satz, der Christoph einbezog, und er war vollkommen ahnungslos, worum es ging. Er hatte ja schon vor Minuten den Faden verloren, einem Zeitraum, in dem das Gespräch in ganz andere Zusammenhänge geglitten sein konnte.

»Klar«, sagte er schnell und nickte mit einem zustimmenden Lächeln, bevor er begriff, dass das Wort »Führerprinzip« in der Frage vorgekommen war.

Scheiße, dachte er. Er hatte keine Ahnung, was er da gerade bestätigt hatte. Er hoffte, dass es nicht um Politik ging, vielleicht hatte Karnowski gefragt, ob er bei den letzten Wahlen rechts gewählt hatte. Er musste die Situation retten, er musste herausfinden, worum es ging.

»Das darf man jetzt natürlich nicht falsch verstehen«, sagte Karnowski. »Ich will die Company hier ja nicht mit dem Hitlerregime vergleichen. Wär jetzt auch zu weit hergeholt. Eine – ich sag mal – zu brachiale Assoziation.«

Die Frage, dachte Christoph verzweifelt, verdammt noch mal, was war die Frage.

»Also was ich eigentlich meine«, fuhr Karnowski fort, »Agenturen – oder Unternehmen im Allgemeinen – funktionieren ja schon wie Diktaturen. Nach dem Führerprinzip, sozusagen. Ich meine, wenn Unternehmen wie Demokratien funktionieren würden, dann könnten sie einpacken. Dann würden sie nicht aus dem Arsch kommen. Sieht man ja auch an den aktuellen politischen Entwicklungen.«

Christoph machte erleichtert eine Geste, die alles bedeuten konnte, auch eine abschließende Geste, weil er das Gefühl hatte, dass ihr Gespräch gerade in eine falsche Richtung lief.

»Aber wenn man das jetzt mal weiterspinnt«, fuhr Karnowski fort, »wären Sie auf der Gottbegnadetenliste der Company«, und brach in ein dröhnendes Lachen aus, das Christoph zusammenzucken ließ, bevor er sich zu einem Lächeln zwang. Christoph fragte sich, was Karnowski wohl wählte, aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. »Sie sind doch unser bester Mann«, dröhnte es.

Christoph wiederholte die Geste, die alles bedeuten konnte, und fügte der Liste von Menschen, mit denen er auf keinen Fall über Politik reden wollte, eine weitere Person hinzu. Jetzt gab es drei: Berliner Taxifahrer, Erik und Karnowski.

»So«, sagte Karnowski nach einem Blick auf die schwere, goldglänzende Uhr an seinem Handgelenk, die wahrscheinlich so viel gekostet hatte wie ein Kleinwagen, »ich muss dann mal, ich hab gleich noch ein Essen. Im Borchardt.«

»Wo sonst«, lachte Christoph, dem sein eigenes Lachen gerade viel zu meckernd und anbiedernd erschien.

Bevor er das Büro verließ, nickte ihm Karnowski zu und hob seine Faust – mit erhobenen Daumen. Die Schlagersängerautogrammkartengeste. Christoph erwiderte sie ungeschickt und kam sich jetzt wirklich wie der Arschkriecher der Agentur vor. Es brauchte eine Weile dieses Gefühl mit Karnowskis Parfum in der Nase, – dem Nachhall seiner Präsenz sozusagen, wieder loszuwerden.

Sein Blick fiel noch einmal auf das Projekt, das so harmlos auf seinem Monitor leuchtete und mit dem er endgültig das Gefühl verband, eine Grenze überschritten zu haben. Er entwarf die Kampagne für ein Altenheim, das im Umland von Berlin gebaut wurde. Ein Umstand, der an sich schon deprimierend genug war, noch deprimierender war allerdings, dass es bereits seine achte war.

Es war ein wachsender Markt. »Alt geworden wird immer«, vergaß Karnowski in den Montagsmeetings nie zu erwähnen. Er dachte an die Artikel, die schon lange vor der Überalterung warnten, in die die Gesellschaft hineintaumelte. In einigen Jahren würde die Hälfte der Berliner über fünfzig sein. So gesehen gab es für ihn noch viel zu tun.

Fünfzig, dachte er. Bis dahin hatte er noch 17 Jahre und – er warf einen Blick auf die Uhr – gute sechs Stunden Zeit. Die Hälfte hatte er schon seit acht Jahren hinter sich. Vielleicht sollte er mit diesen Zahlenspielen aufhören.

Acht Altenheime, dachte er. Das klang wie der Titel einer Til-Schweiger-Komödie, in der Dieter Hallervorden vorkam. The Hateful Eight hätte besser gepasst. Es war das bisher zynischste Projekt seiner Karriere. Das Grundstück, auf dem das Gebäude entstand, grenzte direkt an einen Friedhof. Im Erdgeschoss gab es eine Blumenhandlung und ein Bestattungsinstitut. Man wartete praktisch auf die zukünftige Kundschaft, die in den oberen Etagen untergebracht wurde. Die Balkone der Appartements befanden sich an der Rückseite des Gebäudes, der Ausblick der alten Menschen bestand nur aus Gräbern. Ein Blick in die unmittelbare Zukunft gewissermaßen. Man könne auf den Balkonen die Ruhe genießen, so würde es in der Werbebroschüre zu lesen sein, die offensichtlich von Leuten geschrieben wurde, denen Menschen egal waren. Dann fiel ihm ein, dass es ja seine Firma war. Dass er einer dieser Leute war.

Als er aufsah, lehnte Malte im Türrahmen.

»Na, wie war’s?«, grinste Malte.

»Na ja.« Christoph zuckte mit den Schultern. »Er hatte leider keine Zeit, mir die ganze Welt zu erklären.«

»Verstehe«, lachte Malte.

Malte verstand sich als ironischer Spötter der Agentur und nutzte jede Gelegenheit, das auch zu beweisen. Einer dieser Beweise war seine WhatsApp-Gruppe, in die er auch Christoph aufgenommen hatte und über die er nahezu täglich Bilder oder Videos verschickte, die einen zum Lachen bringen sollten, die aber teilweise so sexuell grenz­wertig waren, teilweise ekelhaft sexuell grenzwertig, dass Christoph bei einigen den Impuls spürte, das Display seines Handys mit Sterilium zu säubern, von dem Julia immer ein Fläschchen in der Tasche hatte, bevor er sie schnell löschte.

»Alter«, hörte er Malte sagen, »was ist denn hier für eine Luft. Ich mach mal das Fenster auf.«

Er mochte Malte, aber er musste mal mit ihm reden, ihm auf behutsame Weise beibringen, dass er nicht unbedingt seine Zielgruppe war, wenn man das so sagen konnte. »Und, was geht am Wochenende?«, fragte Malte.

»Ach, das ist schnell erzählt«, erwiderte er. »Nichts.«

Im Büro wusste niemand von seinem Geburtstag, und ihm wäre es lieber gewesen, wenn auch außerhalb des Büros niemand davon gewusst hätte. Am liebsten hätte er den Abend nur mit Julia verbracht. Wenn sich das Wetter bis zum Abend hielt, vielleicht sogar schon auf der Terrasse. Ein harmonischer Abend, gefüllt mit Gesprächen und ein paar Gläsern Wein, der unaufgeregt in seinen Geburtstag mündete. Ein Abend, der ihnen gutgetan hätte. Aber Julia hatte eine Party geplant, die er so gern bereits hinter sich gehabt hätte. Es war schon merkwürdig, er dachte an seine Geburtstagsparty wie an eine Verpflichtung, als würde er Carina und Erik, Hauke und Melanie und natürlich Julia mit seiner Anwesenheit einen Gefallen tun, und genau genommen tat er das ja auch. Die Party, die Gäste und das Essen passten eher zu ihr als zu ihm. Zumindest war es so in den letzten Jahren gewesen, und es sah nicht unbedingt danach aus, als würde diesmal mit überraschenden Wendungen zu rechnen sein. Ganz kurz stellte er sich vor, Karnowski und Malte würden auch kommen, aber das hätte es auch nicht unbedingt besser gemacht. Eher schlimmer.

Vorsichtshalber hatte er schon vergangene Woche eine Kiste Rotwein gekauft, im La Tienda del Toro, dem kleinen spanischen Weinladen, der nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt lag. Der Wein würde ihm helfen, den Abend durchzustehen, zumindest hoffte er das.

Ihm kam der Gedanke, dass er seinen Geburtstag nur ungern feierte, weil es ja eigentlich nichts zu feiern gab. Jahrelang hatte er sich vorgestellt, an welcher Stelle im Leben er an seinem nächsten Geburtstag stehen würde, wie viel sich im zurückliegenden Jahr verändert hätte. Allerdings war er immer wieder enttäuscht, denn nichts veränderte sich, alles blieb, wie es war. Es gab keine erwähnenswerten Brüche. Sogar den Umzug in die Wohnung in der Bänschstraße, nach der sie ein Jahr lang gesucht hatten, hatte er nur kurz mit dem Gefühl verbunden, das er erwartet hatte.

Sein Blick fiel auf seinen Bauch, der sich an der Tischplatte staute.

Er musste gerade sitzen, auf seine Haltung achten, und er musste unbedingt etwas für seinen Körper tun. Vielleicht sollte er wieder anfangen zu joggen, das nahm er sich inzwischen schon seit ihrem Einzug vor. Mittlerweile war das ein Jahr her. Ein langer Anlauf für eine kleine Änderung in seinem Leben. Und Christoph brauchte eigentlich eine große Veränderung, das spürte er. Er musste eine radikale Entscheidung treffen, oder zumindest einen spontanen Entschluss. Mit einer energischen Bewegung schloss er das Dokument auf seinem Bildschirm, dachte einen kurzen Moment lang ernsthaft darüber nach zu kündigen, verwarf den Gedanken erst einmal, bevor sein Blick auf die Uhr am rechten, oberen Rand des Bildschirms fiel. Es war 16:37 Uhr. Knappe zwei Stunden musste er noch durchhalten, bis er nach Hause fahren konnte, um dort dann weitere fünf oder sechs Stunden durchzuhalten. Aber nachher konnte er sich zumindest an den Rotwein halten.

»Na dann«, sagte Malte. »Ein geruhsames Wochenende. Ich geh heute ins King Size.«

»Ja, danke, und viel Spaß«, sagte Christoph.

»Den werd ich haben«, sagte Malte bedeutungsschwanger und zog die Tür hinter sich zu.

»Danke«, flüsterte Christoph und betrachtete dankbar die geschlossene Tür, bevor er das Wort »Gottbegnadetenliste« in die Suchmaske eingab. Bei Wikipedia las er, dass die Liste die wichtigsten Künstler des »Dritten Reichs« umfasste, von Hitler und Goebbels persönlich zusammengestellt. Personen, an die er in seiner empfindlichen Stimmungslage eigentlich nicht denken wollte. Zumindest war es wieder eine Information, die sein unnützes Wissen vollständiger machte. Vielleicht sollte er sich bei einer dieser Quizshows bewerben, die im Vorabendprogramm liefen und die seine Mutter so gern sah, oder bei Wer wird Millionär?.

Er erhob sich und trat an das geöffnete Fenster. Sein Blick zog über das Häusermeer, das weit hinten in einem Dunstschleier versank. Ein Moloch, wäre ihm normalerweise in den Sinn gekommen, aber jetzt dachte er, dass der Verkehr tief unten auf der sechsspurigen Straße mit nur etwas Fantasie wie eine Brandung klingen könnte. Er schloss die Augen, lauschte und wartete ab. Nach einer knappen Minute gab er es auf. Es funktionierte nicht, die Verkehrsgeräusche der Leipziger Straße wurden einfach kein Meeresrauschen.

#EGOLAND

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