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PROLOG

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Als Andreas Landwehr starb, saß ich neben meinem Bruder in der Dresdner Semperoper, genoss das Intermezzo in Pietro Mascagnis Oper Cavalleria rusticana und war glücklich. Es war der Abend des 16. Januars, ein Samstag, und ich ahnte nichts, aber als ich später die Zeiten verglich und die Geschehnisse rekonstruierte, schien es ein beinahe prophetischer Umstand, dass ich gerade diese Oper sah, in der Liebe, Leidenschaft und Tod so intensiv dargestellt werden, während Andreas als letzte Konsequenz seiner Taten auf dem Pflaster der Berliner Karl-Marx-Allee sein Leben beendete. In genau dieser Stunde erlebte ich einen wunderbaren Augenblick, eine Woge melancholisch-schönen Glücks, die mir beinahe die Tränen in die Augen trieb, vielleicht auch, weil ich an die Frau dachte, die ich mit dieser Melodie verbinde.

Ich hatte vor, eine Woche bei meinem Bruder zu verbringen, aber als ich am Nachmittag des folgenden Tages den Anruf erhielt, dass Andreas gestorben war, dass er Selbstmord begangen hatte, reiste ich sofort ab. Ich nahm den ersten Zug nach Berlin. Auf der zweistündigen Fahrt dachte ich über Andreas nach, über unsere eigentlich längst beendete Freundschaft. Ich machte uns Vorwürfe, dass wir unser Verhältnis nicht gepflegt, dass wir kaum telefoniert und uns nur selten gesehen hatten. Zuletzt waren wir uns zufällig im vergangenen Sommer im Berliner Pratergarten begegnet. Wir hatten kurz miteinander gesprochen, aber er schien merkwürdig abwesend. Er beteiligte sich mit höflicher Teilnahmslosigkeit an den Gesprächen, lächelte und nickte an den richtigen Stellen, aber sah seine Gesprächspartner nicht wirklich an. Er blickte durch sie hindurch, als wären sie kaum vorhanden und nur unscharfe Skizzen einer Person. Erst viel später, als ich seinen Nachlass sichtete, als ich die Zusammenhänge und damit das ganze Ausmaß seines Vorhabens verstand, begriff ich auch, wie tief er an diesem Sommertag schon in seine grauenvolle Idee verstrickt gewesen war.

Wir kannten uns aus Köpenick, wo wir beide aufgewachsen sind. Er war drei Jahre jünger als ich. Mit Anfang zwanzig wurden wir zu besten Freunden. In den Gesprächen, die wir auf unseren stundenlangen Spaziergängen führten, prägten wir einander, und es überraschte niemanden, als wir beide den Entschluss fassten, Schriftsteller zu werden. Es war eine Entscheidung, die letztlich aber auch das Ende unserer Freundschaft einleitete. Wenn man so will, löste sie sich proportional zu unseren Karrieren auf. Erfolg wird einem nur selten verziehen, dieser Gedanke ist nicht neu, er trifft allerdings unter Schriftstellern viel stärker zu, weil man sich in diesem Beruf sehr wichtig nehmen muss, um überhaupt produzieren zu können. Eine wirkliche Freundschaft kann es deswegen zwischen ihnen nicht geben. Man beobachtet sich eher aus der Ferne, kann sich einem Konkurrenzdenken nicht entziehen, vergleicht, freut sich insgeheim über die Misserfolge des anderen und versucht, sich dessen Erfolge so zu erklären, dass sie weniger mit Talent als mit glücklichen Zufällen zu tun haben. Ein ähnliches Prinzip griff auch zwischen Andreas und mir, ein Prinzip, das zwei Freunde im Laufe der Zeit zu entfernten Bekannten gemacht hatte.

Unsere Leben waren bereits auseinandergedriftet, aber als sein Roman erschien, der Andreas zu einer Art – ja, man kann schon sagen – literarischem Rockstar machte, brach unser Kontakt vollends ab. Ich weiß nicht, ob Neid ein zu starkes Wort ist, um zu beschreiben, was ich empfand, als sich sein Buch in den Buchhandlungen stapelte. Es war eher das Gefühl, aufschließen zu wollen. Wenn man selber schreibt, blättert man gerne mal in den aktuellen Bestsellern, allerdings nur um festzustellen, dass man es besser kann. Andreas’ Buch war angreifbar, wie ich fand, es war nicht schwer zu verreißen, aber es schien tatsächlich ein Lebensgefühl zu beschreiben, das dem vieler nahekam und seinen Erfolg ausmachte. Es war Andreas große Zeit.

Als bald darauf mein Buch erschien, stand Andreas dessen Erfolg vollkommen verständnislos gegenüber, wie ich später aus seinen Aufzeichnungen erfahren sollte. Auch weil die Sammlung meiner Kolumnen als Ratgeber missverstanden wurde und er diese Kultur, die sich in den letzten Jahren so stark etabliert hatte, ablehnte. Er war der Auffassung, dass man in einem guten Roman mehr über das Leben erfährt als in irgendwelchen Ratgebern.

Andreas’ Erfolg war jetzt vier Jahre her. Ein langer Zeitraum in einer Branche, in der man schnell vergisst. Man könnte annehmen, dass einem Autor das Schreiben im Laufe seiner Karriere und mit der Zeit leichter fällt, aber genau das Gegenteil ist der Fall, gerade wenn man ein so erfolgreiches Buch geschrieben hat wie er. Die Ansprüche, die man an sich selbst stellt, steigen, man verliert die Unbefangenheit, aus der heraus die frühen Texte entstanden sind. Ich wusste, dass Andreas an einem Roman geschrieben hatte, an seinem Opus magnum, wenn man den Zeitraum berücksichtigte und die vagen Geschichten, die man überall hörte. Er starb, bevor er es verwirklichen konnte.

Auf Andreas’ Beerdigung begegnete ich dann zum ersten Mal seit Jahren seinen Eltern. Sie freuten sich trotz der tragischen Umstände aufrichtig, mich wieder zu sehen, und luden mich ein, sie einige Tage darauf zu besuchen. Sie wollten mich um einen Gefallen bitten, sagten sie, aber die Beerdigung sei ein unangemessener Rahmen für ihre Bitte. Wir müssten uns unbedingt ungestört unterhalten. In ihrem Haus tauchten wir vier Stunden lang in Andreas’ Vergangenheit ein. In Anekdoten seiner Kindheit und Jugend, in denen sich seine Eltern wohler zu fühlen schienen als in den letzten Jahren, die unser Gespräch nur selten berührte. Bevor ich aufbrach, baten sie mich schließlich, die Arbeit ihres Sohnes zu sichten, er hatte doch jetzt schon seit Jahren an seinem Roman geschrieben und sie kannten niemanden außer mir, dessen Urteil sie vertrauen wollten. Niemanden, der ihrer Meinung nach geeigneter wäre, seine Arbeit einzuschätzen. Nach kurzem Zögern stimmte ich zu. Ich ahnte nicht, dass dieses Einverständnis die nächsten zwei Jahre meines Lebens bestimmen sollte.

Nur einige Tage darauf betrat ich zum ersten Mal die Wohnung, in die Andreas vor fünf Jahren eingezogen war. Sie wirkte leer, es gab nur wenige Möbel, schlichte Möbel, denen man ansah, dass sie nicht billig gewesen waren. Die Einrichtung war auf eine kühle Art elegant – keine Bilder, keine einzige Pflanze, nur diese Designklassiker, die ein Vermögen kosten. Ich ahnte, dass man sich in dieser Wohnung sehr einsam fühlen konnte. Es gab hier nichts, was ich mit Andreas verband. Es war die Wohnung eines Fremden.

Ich fand keine Notizen oder beschriebenen Blätter, seine Arbeit schien sich ausschließlich auf seinem Rechner zu befinden, auf den ich nicht zugreifen konnte, weil er passwortgeschützt war. Ich rief einen Freund an, den ich immer anrufe, wenn ich Probleme mit technischen Geräten habe. Der war allerdings verreist. Weil vor seiner Rückkehr meine Lesetour begann, dauerte es drei Monate, bis ich auf Andreas‘ Dateien Zugriff hatte. Rückblickend war das ein glücklicher Umstand, er verlängerte die Zeit, in der ich mich an Andreas erinnern konnte, wie ich mich an ihn erinnern wollte.

Es fällt schwer, mir einzugestehen, dass Andreas ein schlechter Mensch gewesen ist. Trotz des abgebrochenen Kontakts hatte ich immer noch angenommen, ihn zu kennen, aber als ich seine Notizen las, begriff ich, wie groß der Abstand zwischen uns war, wie wenig ich von dem Menschen wusste, zu dem er geworden war. Er hatte sich zwar nie an die üblichen Normen gebunden gefühlt, dessen war ich mir auch vorher bewusst gewesen, in seiner Obsession war er jedoch noch weiter gegangen: Er hatte sich seine eigenen Werte geschaffen, seine eigene Moral, die ausschließlich seiner Idee verpflichtet war.

Die unzähligen Textfragmente, in denen sich lose und unzusammenhängende Charakterisierungen, tagebuchartige Aufzeichnungen und fragmentarische Szenen abwechselten, als Rohfassung eines Romans zu bezeichnen, wäre zu weit gegriffen. Es waren Recherchen, Anfänge, Vorbereitungen. Es gab überhaupt keine Struktur. Mit der eigentlichen Umsetzung hatte er noch nicht begonnen. Als ich dann einen Ordner mit Audio­dateien offensichtlich heimlich aufgenommener Mittschnitte von Gesprächen entdeckte, wurde mir klar, was ich bisher nur vage geahnt hatte, dass sich hier nicht – wie in den meisten fiktiven Werken – Dichtung und Wahrheit unauflöslich durchdrangen, sondern dass die dargestellten Ereignisse wirklich passiert und die Figuren real existierende Menschen waren.

Alles war Realität. Das war der Moment, der alles änderte.

In den folgenden Monaten habe ich oft daran gedacht, abzubrechen und Andreas‘ Arbeit zu vernichten, aber letzten Endes konnte und wollte ich mich wohl ihrem verführerischen Sog nicht entziehen. Vielleicht weil mir die dargestellten Ereignisse viel mehr über mich und meine eigenen Abgründe erzählten, als ich mir eingestehen wollte. Das Schreiben dieses Buches gab mir die Möglichkeit, in Andreas Landwehrs tiefste Gedanken vorzudringen, in seine Abgründe zu sehen. Er ist kein Mensch, mit dem ich gerne Zeit verbracht hätte. – Dieser kalte Blick, mit dem er alles und jeden bewertete. Doch in gewisser Weise war er ein Spiegel, der mich zwang, mir bisher ungestellte Fragen zu stellen. Fragen, die mir halfen, auch Neues, Unerwartetes und sogar Beunruhigendes über mich herauszufinden. Wir haben alle etwas zu verbergen. Hinter einer Maske verstecken wir sorgfältig unsere dunklen Seiten, oft sogar vor uns selbst. Andreas‘ Aufzeichnungen halfen mir, hinter diese Maske zu blicken.

Ich habe Andreas also kennengelernt, besser, als ich es erwartet und wohl auch gehofft hatte. Er hatte als Schriftsteller eine Grenze überschritten, die ich nie zu übertreten gewagt hätte. Vielleicht löste genau das den unwiderstehlichen Reiz aus, den die Idee, von der er besessen war, auch auf mich ausübte. Ich beschloss, seine Arbeit zu vollenden. Ich beschloss, den Roman zu schreiben, den Sie jetzt in Ihren Händen halten. Diesen vergifteten Text, aus einer Idee entstanden, der drei Leben zum Opfer fielen, einschließlich jenes seines auf so grausame Weise fehlgeleiteten Schöpfers.

#EGOLAND

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