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EIN BLICK HINTER DIE FASSADE

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Als Christoph mit mäßiger Geschwindigkeit den asphaltierten Weg hinunterjoggte, der im Volkspark Friedrichshain am Schoenbrunn vorbeiführte, fragte er sich, wo er jetzt, genau in diesem Moment, sein würde, wenn sein Leben anders verlaufen wäre, wenn er andere Entscheidungen getroffen hätte. Weisere Entscheidungen. Es war eine Frage, die ihn anzog, in letzter Zeit immer häufiger. Eigentlich war sie müßig, weil sich ja jede winzige Entscheidung nachhaltig auf sein Leben auswirken konnte. Das wusste er, er hatte den Film Butterfly Effect schließlich vier Mal gesehen, obwohl er fand, dass Ashton Kutcher eine Fehlbesetzung war. Er hätte Julia nie kennengelernt, wenn er sich an diesem Nachmittag vor vier Jahren nicht durchgerungen hätte, joggen zu gehen. Oder wenn er sich zwei Minuten später dazu durchgerungen hätte. Oder wenn er die Strecke anders gewählt hätte. Oder wenn er in dem Moment, in dem er sie passierte, auf sein Handy gesehen hätte, um seine Werte zu überprüfen. Er hätte sie nicht wahrgenommen, ihre Leben hätten sich nie berührt. Die Dinge waren von so vielen Zufällen abhängig, von so vielen Verästelungen von Eventualitäten, dass ihm schwindlig wurde, wenn er sich zu sehr darauf konzentrierte.

Es war später Nachmittag, bleierne, bedrohlich aussehende Wolken türmten sich über dem Park, der in mattes Herbstlicht getaucht war, obwohl es Sommer war. Es war Joggingwetter, so wie der ganze Sommer fürs Joggen entworfen zu sein schien. Ein Sommer, der eher ein Frühherbst war. Im Biergarten des Schoenbrunn saßen vereinzelte Gäste, die tapfer Kleidung trugen, die eigentlich zu leicht für diese Temperaturen war, als wollten sie damit den Sommer überzeugen, ein richtiger Sommer zu werden.

Er warf einen Blick auf die Jogging-App seines Handys, mit der er jeden Lauf katalogisierte wie Julia ihr Essen. Im April hatte er wieder begonnen, regelmäßig zu joggen, der Park war ja nicht so weit. Durch den Sport fühlte er sich frischer und wacher, und er hatte drei Kilo abgenommen. Das war ein Anfang, ein Schritt in die richtige Richtung.

Er passierte ein junges Paar, das trotz des Wetters eng umschlungen auf der Wiese saß. Er versuchte sich vorzustellen, dass sie dieses Paar wären, Julia und er. Es klappte nicht. In der Öffentlichkeit gingen sie nicht vertraut miteinander um, manchmal hielten sie sich an den Händen, aber nur kurz, es schien immer irgendwie unpassend. Er fragte sich, was das über ihre Beziehung aussagte, und ob es überhaupt etwas darüber aussagte. Er war nicht sicher, ob er jetzt darüber nachdenken wollte, aber auch dieser Gedanke zog ihn an. Es sah nach Regen aus, aber er konnte noch nicht nach Hause, wo Julia sich mit Franzi, Carina und Melanie zu ihrem wöchentlichen Brunch traf, zu dem die Männer nicht eingeladen waren. Der Brunch fand jede Woche in einer anderen Wohnung statt, die Männer wurden vertrieben, und diesmal vertrieben sie ihn.

Einmal war er zu früh nach Hause gekommen. Die Gespräche waren erstorben, als er die Küche betreten hatte, alle hatten ihn vorwurfsvoll angesehen, so als hätten sie über Dinge gesprochen, die nicht für seine Ohren bestimmt waren, obwohl sie ihn betrafen. Über Wahrheiten seiner Beziehung, von denen er nichts wusste. Er war schnell ins Bad gegangen. Als er mit geschlossenen Augen unter der Dusche stand und das dampfende Wasser auf seinen Körper prasselte, formte sich zum ersten Mal der Gedanke, der alles ändern sollte. Er stellte sich die Frauen in der Küche vor und dann sich selbst als unsichtbaren Beobachter, der still in der Küchentür stand, während die Frauen offen und unbefangen ihre Beziehungen auswerteten. Es war ein reizvolles Bild, die Möglichkeit, den Blickwinkel zu ändern und ihre Beziehung mit den Augen seiner Freundin zu betrachten. Er musste an Mel Gibson denken, der in dem Film Was Frauen wollen die Gabe besaß, die geheimsten Gedanken von Frauen zu hören. Während das heiße Duschwasser über seinen Körper rann, war ihm Andreas wieder eingefallen, der ihm bei ihrer ersten Begegnung, an die er sich nur noch verschwommen erinnerte, erklärt hatte, dass es eine Beziehung kosten könne, wenn beide Partner wüssten, was sie wirklich voneinander dachten. Und die Geschichte, die Andreas ihm erzählt hatte, fiel ihm auch wieder ein: dass er mit einem Diktiergerät heimlich Gespräche mit Freunden aufgezeichnet hatte, um sie in seinem Roman zu verwenden, und plötzlich begriff Christoph, dass ein Diktiergerät seine Möglichkeit war, wie Mel Gibson herauszufinden, was die Frauen dachten. Dieser Gedanke war so verführerisch, dass er förmlich an ihm zerrte. Er schob ihn schnell weg, bevor er das Wasser abdrehte, denn er spürte auch, wie gefährlich er war. Zwei Wochen später aber hatte er sich dann in der Büroartikelabteilung des Media-Marktes in diesem schrecklichen Kaufhaus wieder gefunden, das vor einigen Jahren am Alexanderplatz gebaut worden war, im Gespräch mit einem Mitarbeiter, der ihm die Vorzüge des D1000 erläutert hatte.

»24 Stunden können Se damit aufnehmen«, sagte der Mann. »Mindestens.«

Sein knallrotes Media-Markt-Hemd wirkte hypnotisierend, vielleicht eine Taktik der Konzernleitung, die Kunden willenlos zu machen, damit sie alles kauften. Christoph konnte sich gut vorstellen, dass sie Psychologen beschäftigten, die solche Dinge herausfanden. Möglich war es, möglich war schließlich alles.

»24 Stunden«, wiederholte er wie in Trance.

»Mindestens«, sagte der Mann mit Nachdruck. »Da wird dann ein mp3 jeschrieben, dit können Se dann janz einfach auf ihren Rechner überspielen.«

»Aha«, entgegnete Christoph abwesend, weil er langsam zu verstehen begann, dass er gerade im Begriff war, den ernstzunehmendsten Vertrauensbruch seiner Beziehung einzuleiten.

»Dit is dit beste, wat Se momentan kriejen können. Also im Consumerbereich.«

Zwei Mal »dit« in einem Halbsatz, hatte Christoph auf eine gewisse Weise beeindruckt gedacht, bevor er fragte, was es kosten sollte.

»158 Euro«, sagte der Mann mit einer Selbstverständlichkeit, die einem praktisch keine Chance gab, den Preis in Frage zu stellen.

»Verstehe«, Christoph wog das Diktiergerät in seiner Hand. Es war fast schon zu leicht, um 158 Euro wert zu sein.

Einen kurzen Moment lang hatte er sich gewünscht, dass Julia da wäre, was natürlich auch etwas zynisch war, wenn man die Zusammenhänge berücksichtigte. Sie hätte jetzt zu handeln begonnen, das war ihre Gabe. Er konnte das nicht, es war ihm unangenehm. Wenn sie auf dem Flohmarkt begann, sich mit den Verkäufern einen Schlagabtausch zu liefern, stellte er sich an den nächsten Stand, als würde er nicht dazugehören. Im Gegensatz zu ihr war er den Verkäufern und ihren Preisvorstellungen gnadenlos ausgeliefert. Bei ihm brauchten sie keine roten Hemden einzusetzen. Er war auch so gefügig. Der perfekte Konsument.

Langsam nickte er, als würde er den Kauf noch einmal abwägen, obwohl die Entscheidung ja schon gefallen war, dann sagte er: »Gut, ich nehm’s.«

»Jute Entscheidung«, sagte der Mann.

Christoph war sich nicht sicher gewesen, ob er damit richtig lag, ob es wirklich eine so gute Entscheidung war, aber der Verkäufer kannte ja nicht die ganze Geschichte. Einen Moment lang hatte Christoph den Impuls gespürt, ihm alles zu erzählen, aber er hatte sich schon dem nächsten Kunden zugewandt, einem älteren Herren in einer sandfarbenen Jacke, der während des Gesprächs ungeduldig neben ihnen gestanden und ihn ganz nervös gemacht hatte.

Das Blut pumpte durch seinen Körper, er spürte, wie ihm Schweiß über die rechte Schläfe rann. Wenn das salzige Rinnsal den Augenwinkel erreichte, brannte es. Er genoss dieses Brennen, weil es ihm zeigte, dass er seinen Körper an seine Grenzen führte. Er freute sich auf die Erschöpfung, wenn er nachher die Wohnung betreten würde, außer Atem und verschwitzt, mit angeklatschtem Haar, durch das seine Geheimratsecken schimmerten, die er sonst so sorgfältig kaschierte. Er sah die belustigten Blicke der Frauen schon vor sich.

Ein Blick auf sein Handy, das mit dem Pulsmesser an seinem Handgelenk verbunden war, sagte ihm, dass sein Puls bei 180 lag und er 923 Kalorien verbrannt hatte. 1000 hatte er sich vorgenommen. Wenn er jetzt nach Hause lief, hatte er sein Tagesziel erreicht.

Einen Moment lang wünschte er sich, er hätte das Diktiergerät nie gekauft. Oder es zumindest nicht auf dem Küchenbuffet platziert, oder vergessen, es einzuschalten. Er hatte auch gezögert, bevor er es hinter den Weinflaschen versteckte, aber seine Neugier hatte an ihm gezerrt. Er dachte an die Frauen, die in der Küche ihrer Altbauwohnung seine Beziehung auswerteten, während das Diktiergerät alles aufzeichnete, was sie sagten.

Als er schwer atmend vor ihrer Wohnungstür stand, hörte er das Lachen der Frauen. Ihm war schon oft aufgefallen, dass sich Julia viel gelöster, viel lockerer gab, wenn sie mit ihren Freundinnen sprach, sie wurde praktisch zu einem anderen Menschen. Ein Mensch, der ihr selbst näher zu sein schien und mit dem er viel lieber zusammen gewesen wäre. Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht war er der Grund für ihre verspannte Art, wie er sie nun mal empfand. Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam herum.

Bald würde er es wissen.

#EGOLAND

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