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ERSTER TEIL DIE BESETZUNG BERLINICATION

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»Vielleicht solltest du mal wieder mit einer Frau schlafen, die du magst«, hatte Stephan gesagt, und dann, ungefähr einen Gin Tonic später: »Vielleicht würde es dir gut tun, mal wieder einer Frau gut zu tun.«

Ich stelle mir vor, wie Andreas‘ Gedanken durch die Unterhaltung mit Stephan treiben. Wenn man eine Geschichte erzählen will, stellt sich die Frage, wann sie beginnt, man sucht nach dem richtigen Moment, um in die Geschichte einzutauchen. Ich habe in den vergangenen Wochen, den Wochen des Sortierens, der Sichtung und Auswertung der unzähligen Dokumente, die sich auf Andreas‘ Laptop sammeln, oft darüber nachgedacht.

Jetzt, im Licht dieser Sätze, taucht vor meinen Augen eine Szene auf: Ich sehe Andreas klar vor mir, wie er an einem Freitagvormittag den Balkon seiner Wohnung betritt, strahlendes Sonnenlicht, eine Zigarette in der Hand. Er tritt aus dem vorgefertigten Bild heraus, das ich in Gedanken von ihm gezeichnet, mit dem ich ihn festgelegt hatte. Erst jetzt, als er sich die Zigarette anzündet, während die Wärme der Sonne unter seine Haut dringt, wird der Mensch sichtbar, und ich begreife, dass ich ihn gefunden habe. Den richtigen Moment. Den richtigen Ausschnitt aus einem Leben. Den Anfang der Geschichte.

Es war ein wundervoller Frühlingstag, an dem ein leichter Wind wehte und Berlin unter einem weiten, wolkenlosen Himmel strahlte, als wäre es eine andere Stadt. Eine Stadt, die am Meer liegt. Berlin am Meer, dachte Andreas. Es war ein Sehnsuchtsbild, das sich vor ihm ausbreitete und ihn daran erinnerte, wie oft er sich in letzter Zeit vorgenommen hatte zu reisen. Er wollte Italien sehen, diese Landschaften, die er nur aus Filmen kannte, und die alten Ortschaften, die George Clooney in dem Film The American besuchte, in denen eine Langsamkeit herrschte, nach der er sich so sehnte.

Sein Blick ging über die Passanten auf der Promenade sieben Stockwerke unter ihm. Das war es, was er am Berliner Frühling so mochte, sobald es warm wurde, wirkte die Stadt, als hätte jeder frei. Der Frühling veränderte die Gesichter der Leute. Sie wirkten, als würde in ihrem Leben alles genau so laufen, wie sie es sich immer erträumt hatten. Es war einer dieser Tage, an denen man sich wünschte, verliebt zu sein, dachte er mit einem Lächeln, als würde es dieses Gefühl nur geben, weil es solche schönen Frühlingstage gab.

In einem offenen Fenster des gegenüberliegenden Hauses fiel ihm die Silhouette eines Mannes auf. Aus irgendeinem Grund hob Andreas leicht die Hand, und der Mann hob ebenfalls die Hand, als wolle er ihm ein Zeichen geben. Zwei Männer, die sich am ersten schönen Frühlingstag des Jahres eine Auszeit nahmen, im Einverständnis miteinander. Dann fiel ihm auf, dass an dem Mann irgendetwas seltsam war. Er schien Andreas‘ Bewegungen nachzuahmen. Zunächst hielt er es für einen Irrtum, aber irgendwann begriff er, dass der Mann seine Gesten kopierte. Er ahmte sogar detailliert nach, wie er rauchte. Das war beunruhigend. Er dachte an Susanna, die immer wieder betont hatte, dass Berlin voller Freaks und Psychopathen war. Ihm selbst fielen sie nicht mehr auf, er hatte sich an sie gewöhnt. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen, in dem der Mann in einer Wohnung stand, die genauso eingerichtet war wie seine, bis ins kleinste Detail, dass er nicht nur seine Gesten nachahmte, sondern sein Leben, die Einrichtung seiner Wohnung und seinen Kleidungsstil. Er fixierte den Mann auf der anderen Seite und wünschte sich ein Fernglas, um seine Züge erkennen zu können, und erst jetzt sah er, dass er in einen Spiegel blickte, der in der anderen Wohnung angebracht war. Er atmete tief ein, während ihm wieder einmal auffiel, wie sehr er von den Filmen, die er gesehen hatte, sozialisiert war. Er blickte noch einmal zu seinem Spiegelbild. Es war ein seltsames Gefühl, es aus dieser Distanz zu sehen. Als würde er aus großer Entfernung auf sein Leben blicken.

Wie beschrieb man ein Leben?, fragte er sich plötzlich. Wie fasste man es zusammen? Wenn er sein Leben überblickte, es in die wichtigen Momente, Personen und Ereignisse zerlegte und dann nach Verbindungen suchte, nach dem Geheimnis, das alle Teile verband, entstand vielleicht nur eine Skizze, eine Andeutung davon, wie man sein Leben eigentlich beschreiben sollte. Eine Art Biografie. Aber was war seine wirkliche Biografie?

Eine Biografie war eine Auswahl von Ereignissen, die man in seinem Leben für bedeutend hielt, dachte Andreas. Allerdings hielten die meisten Menschen Ereignisse ihres Lebens für bedeutend, weil sie von anderen für bedeutend gehalten wurden. Jeder Lebenslauf bewies das. Er hatte Lebensläufe immer als etwas dem Leben künstlich Hinzugefügtes empfunden. Eine Zusammenstellung von Geschehnissen, die mit dem Leben, dem wirklichen Leben, nichts zu tun hatten. Wahrscheinlich beruhte das Drama im modernen Menschen auf diesem großen Missverständnis, dachte er; den Unterschied zwischen beruflichem Erfolg und privatem Glück nicht zu erkennen oder genauer: beruflichen Erfolg mit Glück zu verwechseln. Es war das vermeintliche, das künstliche Glück der Angepassten, die sich nach den Regeln richteten, welche die Gesellschaft vorgab. Die meisten beurteilten ihr Leben nach ihren beruflichen Erfolgen, nach ihrer Karriere, und vielleicht war genau dieses Missverständnis das Fundament ihrer inneren Zerrissenheit.

Andreas selbst ging es nicht anders, wenn er sich über den Grund und die Art der Zerrissenheit auch bewusst war. Vor anderen sortierte er seine Vergangenheit nach beruflichen Abschnitten und Erfolgen, für sich selbst sortierte er es nach den Frauen, nach den erfüllten und den unerfüllten Lieben seines Lebens.

Sein Blick zog über das gegenüberliegende Gebäude, das das Licht dieses strahlenden Himmels reflektierte. Vielleicht gab es ja auch aus diesem Grund so schöne Frühlingstage, dachte er, damit man sich da­rauf besinnen konnte, worauf es im Leben ankam, also wirklich ankam.

Er vergegenwärtigte sich das Zimmer in seinem Rücken, den langgezogenen Schreibtisch, der eigentlich ein Esszimmertisch war, und die Sechzigerjahre-Deckenlampe, die eigentlich für ein Schlafzimmer gedacht war. Zweckentfremdung war sein Stilmittel. Er hatte den Großteil der letzten beiden Jahre in diesem Raum verbracht. Der Erfolg seines letzten Romans und die damit verbundene finanzielle Sorglosigkeit gaben ihm die Freiheit, die er sich so oft gewünscht hatte. Bereits nach der ersten Lizenzabrechnung des Romans hatte er ausgerechnet, dass er zehn Jahre seinen Lebensstil halten konnte, ohne irgendein Einkommen zu haben. Ihm war die Besonderheit dieser Umstände bewusst, die meisten Schriftsteller, die er kannte, waren Hartz-IV-Empfänger. Seit zwei Jahren arbeitete er an dem neuen Buch. Die Tage verbrachte er in seiner Wohnung, um zu schreiben. Er sah tagelang keinen Menschen, sein soziales Leben fand fast ausschließlich an den Abenden statt, auf Dates oder auf Partys, und war immer mit Alkohol verbunden.

Er hatte schon darüber nachgedacht, sich ein kleines Büro zu mieten, das ihn zwingen würde, die Wohnung zu verlassen, in der sich die Tage zu sehr ähnelten, in der sie ineinander übergingen wie die Songs in den langen Nächten einer dieser Electro-Partys, die klangen, als hätte der DJ die ganze Nacht dasselbe Lied gespielt. Manchmal hatte er den Eindruck, jeder Tag wäre derselbe, als wäre er in einer Art Zeitschleife gefangen, einer ständigen, aus Gewohnheiten zusammengesetzten Wiederholung, in der es keine Impulse gab, die das Alltägliche durchbrachen. Eine endlos kreisende Bewegung. Als wäre – diesen Eindruck hatte er tatsächlich – seine Existenz auf nahezu gar kein Leben reduziert. Das war aus dem Traum geworden, nach dessen Erfüllung er sich so gesehnt hatte. Bevor er sich umwandte, um wieder in die Wohnung zu gehen, warf er noch, mit dem Gefühl, als würde er sich an ein Leben erinnern, das er nie gelebt hatte, einen letzten Blick über die Stadt, die wirkte, als läge sie am Meer.

Im Wohnzimmer stellte er wieder einmal fest, wie sehr er seine Wohnung mochte, das Fischgrätparkett, die rohen Wände und natürlich die Flügeltüren, die den Räumen eine Weite gaben, die ihn immer noch beeindruckte, obwohl er schon vor vier Jahren eingezogen war. Er bewegte sich immer noch sehr bewusst durch die Zimmer. So hatte er es sich immer vorgestellt. Die Kulisse für sein Leben. Ein richtiges Leben. Ein Leben, in dem irgendwann eine Frau und Kinder vorkamen.

Er ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Die geöffnete Kühlschranktür gab den Blick auf einen Obstsalat, eine Flasche Eistee und drei Packungen Milch frei. Der Kühlschrank war von Bosch und hatte ihn 1 600 Euro gekostet. Er dachte an den Eames Lounge Chair in seinem Wohnzimmer, der ihn 6 900 Euro gekostet hatte, eine Castiglioni-Bogenleuchte für 1 700 Euro, deren schweren Marmorfuß er manchmal behutsam berührte wie einen Schatz. Er besaß teure Möbel und lebte in einer Wohnung, die seine gelegentlichen Gäste beeindruckte. Wenn ihn seine Eltern besuchten und wieder einmal feststellten, dass es hier aussah wie in einem dieser Möbelkataloge, deren Preise sie nicht verstanden, hatte er das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Die Kulisse stimmte. Da übersah man schnell, dass er eigentlich ein asoziales Leben führte, dachte er. Dass sein Kühlschrank immer leer war und dass er manche Küchengeräte nur gekauft hatte, weil sie gut aussahen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie man sie benutzte. Aber teure Möbel und schöne Wohnungen waren wie beruflicher Erfolg ein guter Halt, ein Argument, um sich der Illusion hinzugeben, im Leben alles richtig gemacht zu haben.

Er nahm die angebrochene Packung Milch aus dem Kühlschrank und leerte sie in die gleiche Kaffeetasse, aus der auch Kiefer Sutherland in der Serie 24 seinen Kaffee trinkt. Er nahm einen Schluck, bevor er durch seine Wohnung ging, als würde er sie besichtigen. Es waren diese Momente, in denen er spürte, dass etwas fehlte, dass sein Leben unvollständig war. Eine Unvollständigkeit, die sich nicht mit Dingen füllen ließ, die man kaufen konnte. Vielleicht hatte Stephan recht, dachte er. Vielleicht war eine Frau die Antwort. Vielleicht war die Liebe zu einer Frau die Chance, auszubrechen, seinem Leben endlich wieder einen neuen Impuls zu geben.

Im Badezimmer blickte er in den Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Der Mann, den er sah, gefiel ihm. Er passte ins Bild. Er passte zu dem Menschen, für den ihn die anderen halten wollten. Sie setzten praktisch voraus, dass jede seiner Lesungen mit einer Orgie im Hotelzimmer endete. Ein Leben, das von maßlosem, unverbindlichem Sex bestimmt und mit einer nicht unsympathischen Tragik gewürzt war. Dass es auf Tour vor allem darum ging, genug Schlaf zu bekommen und mit dem Alkohol aufzupassen, gehörte nicht in das Bild. Ihre Klischees hatten nichts mit ihm zu tun, das wusste er natürlich, aber er hatte auch festgestellt, dass er dieser vorgefertigten Figur immer ähnlicher wurde. Dass er immer mehr dem Bild entsprach, das die anderen von ihm entworfen hatten. Dass er inzwischen das Schriftstellerleben einer amerikanischen Serie führte. Er war zu einer Art Hank Moody geworden, dem Protagonisten der Serie Californication, der in jeder der zwanzigminütigen Folgen mit mindestens drei Frauen schlief, er war die Hauptfigur von Berlinication, wie sein Freund Mirko Schaffer sein Leben einmal zusammengefasst hatte.

»Berlinication«, sagte er in das leere Bad. Das Wort war verführerisch und schmeichelnd. Ein Wort, in dem er sich wohl fühlte.

Er dachte an die Momente, in denen sein flüchtiger Blick unvorbereitet auf sein Spiegelbild fiel, in einem Schaufenster zum Beispiel, und für einen kurzen Moment jemanden sichtbar machte, der seinem Bild nicht gerecht wurde, bevor er wieder den Blick aufsetzte, mit dem er immer in den Spiegel sah, den Ausdruck, der ihn so aussehen ließ, wie er sich gern sah und wie er gesehen werden wollte.

Er betrachtete sein Spiegelbild, sein Gesicht, seine Augen, und empfand nichts. Als würde er einen Fremden ansehen. Einen Fremden, den er nicht einschätzen konnte. Schnell verließ er das Bad, um sich von diesem Gefühl abzulenken.

Auf dem Balkon nahm er sich Zeit für zwei Zigaretten. Danach sah er auf sein Handy, die Uhr zeigte zehn nach zwölf. Er drückte hastig die Zigarette aus. In zwanzig Minuten war er mit Stephan verabredet, mit dem er gelegentlich zu Mittag aß. Er musste in fünf Minuten los, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Als er die Balkontür hinter sich schloss, war er in Gedanken bereits damit beschäftigt, welches Jackett zu diesem Tag und zu seiner Stimmung passte.

Es war der neunte April, ein Freitag, kurz vor vierzehn Uhr, und Berlin leuchtete unter einem weiten, wolkenlosen Himmel, als wäre es eine andere Stadt.

#EGOLAND

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