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Wider das Schweigen Kirche am Steinhof, Baumgartner Höhe 1, 1140 Wien
ОглавлениеIch stehe vor der Kirche St. Leopold. Weithin sichtbar thront sie über Wien, auf dem höchsten Punkt der Krankenanstalt „Am Steinhof“. Oft komme ich hierher. Trotzdem es ein trauriger Ort ist, zieht mich das Gebäude an wie kein anderes. Zu Zeiten ihrer Entstehung war die Heil- und Pflegeanstalt das größte „Irrenhaus“ Europas. Otto Wagner, der Architekt, bekam während der Planungszeit vom Ärzte- und Pflegepersonal jede Menge Auflagen, die zur Rücksichtnahme auf Patienten verpflichteten. Arztzimmer, Toiletten, Notausgänge waren in den Kirchenraum zu integrieren, Kanten und Ecken der Bänke mussten gerundet sein, und um das Risiko von Infektionen zu verringern, war das Weihwasserbecken als eine Art „Tröpferlbrunnen“ konzipiert. Die Fassade der Kirche gehört mit zum Prächtigsten: Marmor, goldene Lorbeerkränze, ornamentale Verzierungen. Vier große, geflügelte Engel bewachen das Portal. Die imposante goldene Kuppel erinnert an eine überdimensionale Zitrone, weshalb die Baumgartner Höhe von den Wienern seit jeher Limoniberg genannt wird.
Die Schlafplätze der Krähenvögel
Der Widerspruch zwischen der Reinheit eines der vollkommensten Bauwerke Wiens und den Verbrechen, die zu seinen Füßen geschahen, könnte nicht krasser sein. Während des „Dritten Reiches“ war hier, am Steinhof, eine Nervenheilanstalt für Kinder untergebracht, in der „kranke, behinderte, nicht erziehbare“ Kinder und Jugendliche medizinischen Versuchen ausgesetzt waren. Die Kirche, die zu den größten Meisterwerken des Jugendstils zählt, wacht über eine düstere Vergangenheit. Heute gilt der Name der einstigen Anstalt „Am Spiegelgrund“ als Synonym für die Verbrechen der nationalsozialistischen „Heil“-Pädagogik, die mit bestialischer Brutalität unschuldige Kinder zu Tode quälte. Knapp achthundert von ihnen wurden hier dem Dienste pervertierter Wissenschaft geopfert.
Engel bewachen die Kirche am Steinhof.
Die Geschichte vom Spiegelgrund aber endet nicht 1945, sondern reicht bis in unsere Gegenwart. Bei der Uraufführung des Theaterstückes Spiegelgrund, das ich anlässlich der Eröffnung meiner Direktionszeit am Volkstheater im Jahre 2005 in Auftrag gegeben hatte, ging es um verlorene Träume und Sehnsüchte der Opfer vom Spiegelgrund. Nicht nur das Leiden unschuldiger Kinder aber war unser Thema, sondern auch die mitleidlose Perversion der NS-Ärzte, und, das vor allem, die selbstverordnete Demenz eines Landes, das sich bis vor wenigen Jahren genau wie der Euthanasie-Arzt Heinrich Gross, der „Mörder vom Spiegelgrund“, nicht an die toten Kinder erinnern konnte (oder wollte). Gross ist längst verstorben, er hat sich der welt-lichen Justiz durch Vortäuschen von Krankheiten entzogen. Sein damaliger Anwalt saß in der Uraufführung, erste Reihe, fußfrei. Er drohte die Premiere zu stoppen, sollte auch nur ein einziges anklagendes Wort gegen seinen Mandanten fallen. Wir ließen uns nicht einschüchtern, die Mörder wurden als das benannt, was sie waren: Mörder. Bis heute hat der Herr Doktor nicht geklagt, die Behauptungen haben sich längst als wahr erwiesen.
Rund um die prachtvolle Kirche stehen riesige Föhren. In ihnen nisten Krähenvögel, die tagsüber im Schönbrunner Park auf Futtersuche sind und bei Dunkelheit auf den Steinhof zurückkehren, um sich in den Kronen der umliegenden Bäume ihr Nachtlager zu suchen. Vielkehliges Geschrei erhebt sich dann über den Pavillons. Als ob die Seelen der geschundenen Kreaturen ihr Wehklagen in den Nachthimmel senden wollten – die sterblichen Überreste der Euthanasie-Opfer nämlich wurden bis in die 1980er-Jahre für Forschungszwecke geschändet und entweiht. Erst im Jahr 2002 setzte man sie in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bei.
Am Fuße der breiten Treppe, die hinunter zur Krankenanstalt führt, befindet sich ein Mahnmal der besonderen Art. Siebenhundertzweiundsiebzig Lichtstelen stehen für jene Kinder und Jugendlichen, die zwischen 1940 und 1945 in der nationalsozialistischen „Forschungsanstalt“ gequält und ermordet wurden. Das Leuchten steht für ihr Leiden. Wir dürfen niemals vergessen.