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Herzklopfen Am Beginn einer Reise zu durchaus Vertrautem
ОглавлениеNatürlich bin ich kein Schriftsteller. Ich berichte, was ich gesehen habe. In meinem ganzen Leben habe ich nichts anderes getan, als zu erzählen. Allerdings waren es ausgedachte Geschichten, phantastische Geschichten. Geschichten von oder über Charaktere, die als Symbole in einem größeren Zusammenhang zu lesen waren. Heute sind meine Texte real. Sie handeln von Begegnungen mit Menschen. Ich höre ihnen zu, ich sehe ihre Mimik, ihre Gesten. Ich betrachte sie. Wenn ich die Worte nicht verstehe, achte ich auf den Tonfall. Alle Geschichten haben denselben Ausgangspunkt: Ich schlüpfe in eine Welt, die nicht die meine ist. Ich lerne Neues und verliere mich in Situationen, in Lebensentwürfen, manchmal sogar in Menschen. Natürlich sind es immer nur Momentaufnahmen. Von Flüchtigem zu erzählen, kann spannend sein, es erhebt ja keinen Anspruch aufs Ganze. Herzenswärme und Humor zeichnen diese Begegnungen aus. Ich lerne Schicksale, Kuriositäten und Familiengeschichten kennen. Oft sind es Zufälle oder das Wahrnehmen einer Chance, die das Leben eines Menschen beeinflussen. Manchmal ist es das Entdecken des Augenblicks. Wie Prismen unterschiedlicher Farben und Formen fügt sich alles zu einem Ganzen und ergibt das Identitätsdiagramm einer Stadt, eines Landes. So befüllt sich ein Zettelkasten der besonderen Art: mit Unbekanntem, Überraschendem, Verborgenem.
Lehne ich mich zurück und lasse Vergangenes Revue passieren, ist es mir, als hätte das meiste nur einen Wimpernschlag lang gedauert. Dass dieser Moment in meiner Erinnerung fortbesteht, ist den Worten geschuldet, die ihn beschreiben.
Ich betrachte die Welt rund um mich wie ein Gemälde. Ich höre auf die Flüchtigkeit des ersten Gedankens, möchte die kleinen Geheimnisse entdecken, die sich hinter den großen verbergen, die Geschichten hinter den Geschichten. Wie ein Schmetterlingsjäger sammle ich Beiläufigkeiten, Worte und Gesten von Menschen, die ihre Welt beschreiben. Aus all dem setzen sich Bilder zusammen, die sich zu einer Welt des neuen Seins fügen. Als ob ich in einem Fesselballon über ein Land voller Mystizismen und Geheimnisse schwebte, nichts anderes im Sinn, als zu betrachten und zu beschreiben.
Ein Gutteil der Faszination des Reisens besteht darin, dass ich zumeist alleine reise. Die Anstrengung, dass kein Tag dem anderen gleicht, erhöht das risikoreiche Spiel. Es ist spannend, sich einer Welt zu stellen, die man täglich neu erobert. Der Erfolg des Wanderers beginnt damit, sich ein Ziel zu setzen. Wahrscheinlich reise ich, um mich zu verlieren. Und wahrscheinlich reise ich, um jenen lange schon verlorenen, jung gebliebenen Buben in mir aufzuspüren. Reisen schenkt mir die Balance zwischen Erfahren und Empathie, es schenkt mir so viele kostbare Augenblicke, die ich festhalten möchte. Der Unterschied zwischen Reisendem und Touristen ist der, dass der Reisende seine Überzeugungen zu Hause lässt, während der andere das Gegenteil tut. Für den Touristen ist nichts so, wie er es von zu Hause gewohnt ist, und der andere genießt, dass die Welt auf den Kopf gestellt ist.
Natürlich bin ich, wohin immer ich komme, fremd. Es ist dies keineswegs die Ausnahme, es ist der Normalfall. Sogar im eigenen Land. Touristen sind willkommen, man verdient an ihnen. Menschen vom Boot will man rasch wieder loswerden. Am besten man baut Zäune. Wo? Weit weg. Wer zahlt’s? Die anderen. Wie hoch? Bis über den Verstand. Selbst intelligente Menschen verfangen sich gerne im Maschendraht ihrer Vorurteile. Es steckt Scheu und Skepsis in der Begegnung mit dem Fremden. Humus für gut frisierte Populisten. Angst war immer schon ein probates Druckmittel. Imaginär und konkret. Imaginär, weil der kleine Mann mit Hut prinzipiell Neues ablehnt. Konkret, weil mit „fremd“ immer auch die Angst vor dem Verlust von Eigentum einhergeht. Ich bin kein Politiker. Ich muss keine Lösungen finden. Ich bin Reisender. Ich darf Visionen haben. Eine davon lautet: Fantasie. Eine andere: Neugier. Beides löst Ängste auf. Was übrigens auch Bildung und Kunst tun. Kunst kann durch Vermittlung von Kulturen Räume schaffen, die angstfrei sind. Bilder, Musik, Tanz, Geschichten überwinden Barrieren. Herz und Emotion sind oft die verständlichere Sprache als Worte.
Visionen sind dazu da, um den Verstand aus der Deckung zu locken. Respekt und Anerkennung könnten es möglich machen, dass wir den Schritt wagen und einander mit unseren Welten vertraut machen. Gelassenheit wäre das Zauberwort. Das hat nichts mit Trägheit oder Gleichgültigkeit zu tun, weniger noch mit Apathie oder Fatalismus. Es führt einfach zur Erkenntnis: Lebe in der Gegenwart. Und das wiederum bedeutet: Sei offen gegenüber Neuem und Unbekanntem. Wasche dein eigenes Geschirr, aber blicke gleichzeitig auch über dessen Rand.
Gelassenheit, Mut und Weisheit stehen in engem Verwandtschaftsverhältnis: Man braucht Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann. Man braucht Mut, Dinge zu ändern, die man ändern muss. Und man braucht Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Reisen ist die beste Möglichkeit, mein Leben neu zu ordnen, um mich vor der Müdigkeit zu bewahren. Diesmal bin ich in der Heimat unterwegs. Zumeist hatte ich fremde Länder bereist. Jetzt heißt es, innerhalb der eigenen Grenzen zu bleiben. Die Zeiten, sie sind halt so. Ein Schritt zurück? Nicht unbedingt. Vielmehr eine Chance. Kein Wegschauen, sondern Hinschauen. Erschien mir das Vertraute bislang nicht interessant genug? Sieh das Nahe, dann erkennst du das Fremde. Ich habe diesen Satz mehrfach gewendet und ihn von immer anderen Gesichtspunkten aus betrachtet. Nicht die Geografie entscheidet. Die Seelen der Menschen bestimmen Fremde. Oder Nähe. Nach ersten Ängsten wurde ich berührungsneugierig. Das Abenteuer begann vor der Haustüre. Ich habe Menschen kennengelernt, deren Sprache ich spreche, und die ich dennoch nicht verstehe. Ein Dialekt im Ländle bringt mich ebenso in Verlegenheit wie eine knarzig gebellte Begrüßung im Zillertal oder ein zermahlenes Wortstück eines Südburgenländers. Und erst die Kaugummi-Aussprache des Wieners! In Simmering spricht man anders als in Hernals, in Ottakring anders als in Meidling. Wie viele verschiedene Sprachen spricht dieses Land! Wie unterschiedlich sind die Wortgebirge, Gedankenflüsse, Lachanfälle.
Ich habe mich aufgemacht, um der Sprache von Menschen zuzuhören, ihre Geschichten, ihr Handwerk, ihre Kochrezepte kennenzulernen, über ihre Eigenheiten zu lächeln und von ihrer Weisheit zu lernen. Ein ganzes Jahr lang war ich unterwegs. Nun ist es an der Zeit, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen – und mich nochmal daran zu erfreuen. Beinahe ein Menschenleben lang habe ich mich in der Fremde herumgetrieben, nun ist es Zeit, mich der Nähe zu stellen. Neues erfahren. In meiner Heimat. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Das Alter ist ein Geschenk, wenn man nicht vergessen hat, was anfangen heißt. Wie immer am Beginn eines Weges bin ich aufgeregt und fühle mich jung. Wahrscheinlich ist es das, wonach ich mich sehne: das Herzklopfen.