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Stadtbilder Gedanken über Wien
ОглавлениеDer Bub soll raus in die Sonne. „Docka-Garten“ hat er das Stück Wiese genannt. Ein Lattenzaun, eine Hecke, ein Steinweg. Dazwischen Gras. Und Stufen, die zum unteren Ende des handtuchgroßen Paradieses führten. „Schrebergarten“ hieß das damals, im Nachkriegswien der Fünfziger. Kleingarten heißt es jetzt. Für den Bub war es der Himmel. Bienen summten, Spatzen badeten in der kleinen Lacke unter dem Wasserhahn, wo die verrostete Gießkanne stand. Am Kopf trug der Kleine ein weißes Sonnenhütchen, an den Füßen ein paar feste, hohe Schuhe. Barfuß sollte er nicht gehen, zu viele Gefahren lauerten auf den Wegen. Sonst war er nackig. Emsig arbeitete er daran, Kieselsteine in ein rotes Blechküberl zu schaufeln, um dieses dann zur großen Schwester zu tragen, die im Schatten des Spalierobstes patzig im Gras saß. Ungerührt schüttete sie die Steinchen auf einen Haufen und gab dem „Weißfischl“, wie die Omama das bleiche eineinhalbjährige Kind nannte, das Küberl zurück. Der machte sich stracks auf den Weg zur nächsten Ladung, denn es gab noch viel zu tun. Fünfundsechzig Jahre später hat der Kleine, der gar nicht mehr klein ist, den Geruch des Staubes, der beim Umleeren der Steinchen entstand, immer noch in der Nase.
Und erst der süßliche Geruch des von der Sonne beschienenen Teeranstriches am Bretterzaun, der rund um den Fuß-ballplatz des „Rekordmeisters“ stand. An wenigen Stellen gaben ein paar Gucklöcher den Blick ins Allerheiligste frei, wo die Götter Happel, Halla und Hanappi gaberlten. Der frischgebackene Volksschüler sehnte sich nach der großen Fußballwelt. Aber sie war ebenso unerreichbar wie der Wunsch, dem Universum der „Parkbuben“ anzugehören, drüben, jenseits der Winkelmannstraße, im Auer-Welsbach-Park. Was blieb, war der verstohlene Blick aus dem Fenster des Esszimmers hinüber zum Sehnsuchtsort, wo die Halbstarken Hof hielten und sich die Mädels in ihren feschen Karottenhosen um die Lederjacken-Bubis scharten.
Und wie oft erwachte der Kleine lange vor dem Weckruf der Omama, weil die Räder des 57ers in der Endstationsschleife Weiglgasse die Schienen singen ließen und die Elektrische ihre lange Reise durch die Vorstadt bis zum Burgring in Angriff nahm. Wie oft saß der Bub in ebendieser Bahn und starrte auf die abgegriffene Lederumhängetasche des missmutigen Schaffners, der sich mit den Worten „Tschuidigen, tschuidigen“ fahrkartenzwickend durch die Fahrgäste arbeitete, um dann zum Glockenstrang hoch über den Pritschenbänken zu greifen, worauf ein schrilles Bimmeln erklang und sich das nach Holz und Eisen duftende Ungetüm erneut in Bewegung setzte. Das gefürchtete „Endstation! Alles aussteigen, bitteeee!“ erklang und das Schicksal nahm unmittelbar nebenan, am Burgring, seinen Lauf: Die Richtstätte lag im ersten Stock. Genauer gesagt, gezählte einundsiebzig Stufen über Straßenniveau. Es war die Ordination des Zahnfacharztes, eines Vaterfreundes, dessen Hobby, anziehend wie abstoßend für den Buben, die Großwildjagd war. Die kindliche Glaubenswelt an das Gute im Menschen geriet hier ein ums andere Mal gehörig ins Wanken. Er entpuppte sich nämlich als der Teufel selbst, der nicht nur gerne Tiere tötete, sondern auch vor Angst zitternden Kindern, bewaffnet mit Zange und Bohrer, dessen mechanischer Antrieb per Fußhebel zu betätigen war, an die Backe rückte. Wie der Vater mit einem derartigen Folterknecht befreundet sein konnte, sollte dem Volksschüler für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.
Es sind die kleinen Dinge des täglichen Seins, die als wehmütige Reminiszenz im Gedächtnis haften bleiben, wie zum Beispiel jener prägnante Duft des Kaffeeröstbetriebes zwischen Jheringgasse und Anschützgasse, gegenüber dem Elternhaus. Bis auf jenen aber haben sich die meisten Geräusche und Gerüche der Kindheit für immer verflüchtigt. Die Welt von heute ist eine andere, eine erwachsene.
Wien hat sich längst zu einer modernen Metropole gemausert, deren angerosteter Charme zwischen Anspruch und Versagen feststeckt. Nichts ist perfekt, aber alles funktioniert. So sind sie, die Wiener: Sie sehnen sich nach Vergangenem und fürchten sich vor der Zukunft. Sie besingen den Tod und saufen sich das Leben schön. Sie bevorzugen die Beletage, landen aber doch nur im Mezzanin. Ein Leben, nicht oben, nicht unten. Dazwischen halt.
Wien ist weder Stadt noch Land. Es ist beides. Mal dies, mal das. Eine Personalunion von Schlendrian und Pfiffigkeit, Murks und Moder. Wien bleibt Wien. Fürchte ich. Hoffe ich.