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Warum ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik so wichtig?

Wesentlich ist nun folgendes: Leben verhält sich wie ein Strom, der aufwärts fließt. Das gilt für die gesamte Biosphäre, also auch für den Menschen.

Wie schafft es nun dieses filigrane, höchst geordnete, wacklige Gebilde am Leben zu bleiben, und das in einem Meer von Unordnung, Wandel und Tod? Denn wir dürfen nie vergessen, dass Unordnung für ein Lebewesen Tod bedeutet. Wie ist Leben überhaupt möglich in einer Welt, die eigentlich dem Untergang geweiht ist, weil Naturgesetze wie der „Zweite Hauptsatz der Thermodynamik“ das so vorschreiben?

Der Trick, den das Leben dabei anwendet, ist dieser: Zunächst begrenzt es sich räumlich, es schützt sich durch eine Grenze. Dabei handelt es sich um eine sehr raffinierte Grenze, denn sie ist halboffen: einerseits genügend geschlossen, um das Bestehende bewahren und schützen zu können, andererseits aber auch genügend offen für den überlebensnotwendigen Austausch mit der Welt. Denn es muss nicht nur informationsreiche Ordnung aufgenommen, sondern auch die ständig im System anfallende Unordnung ausgegrenzt werden. Dabei gibt es eine weitere Schwierigkeit: Es genügt nämlich nicht, die laufend anfallende Unordnung loszuwerden, denn auch dann gelingt es dem System nicht mehr, gegen den Strom zu schwimmen. Um aber nicht zurückzutreiben, wird es seine Ordnung weiter steigern und sie immer noch feiner und komplexer ausbauen. Darum muss das System haushalten und die immer begrenzte Information, die ihm zur Verfügung steht, so ökonomisch wie möglich einsetzen. Wir werden feststellen, dass diese ökonomische Enge auch dazu führt, dass das Lebewesen eine geniale Ordnung erfindet, seine ganz besondere Ordnung, die wir uns noch genauer anschauen werden. Doch zuvor erklären wir den „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“ etwas genauer.

„Thermodynamik ist eine Theorie, die makroskopische Phänomene beschreibt.“65 Sie enthält Gesetze, nach denen sich Energieumwandlungen vollziehen. Thermodynamik beruht auf Erfahrungstatsachen. Da alle Versuche, ihre Aussagen zu widerlegen, vergeblich gewesen sind, gelten sie unangefochten als „Grundgesetz des gesamten Naturgeschehens“.66

„Die Energie der Welt ist konstant“ (Aussage des „Ersten Hauptsatzes der Thermodynamik“).

„Die Entropie strebt einem Maximum zu“ (Zusammenfassung des „Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik“).67 Entropie ist – vereinfacht ausgedrückt – das naturwissenschaftliche Maß für „Unordnung“ oder besser, da es sich um Prozesse bzw. dynamische Systeme handelt, für die „Unfähigkeit zu geordneter Veränderung“.68

Etwas genauer: Bei allen Naturprozessen wird Energie übertragen. Dabei tritt immer ein Betrag nicht verwertbarer Energie auf, der meist in Form regelloser Wärme, der Energieform geringster Ordnung, abgegeben wird. Er macht den Vorgang unumkehrbar. Und diesen, bei allen Energieumwandlungen entstehenden Betrag an nicht mehr nutzbarer Energie nennen wir Entropie, weil er das Geschehen irreversibel macht und ihm damit eine eindeutige Richtung gibt (griech. „trepein“: „eine Richtung geben“). Folglich sind alle Naturprozesse unumkehrbar, alle haben sie eine bestimmte Richtung, alle verlaufen sie im Sinne einer Entropiezunahme. Sehr einfach beschrieben, sagt das der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik aus.69

Mit anderen Worten: Die Unordnung wächst. Das bedeutet, dass „geordnete, also entropiearme Zustände unwahrscheinlich sind und ungeordnete, entropiereiche Zustände wahrscheinlich. Demnach entwickeln sich alle Naturprozesse in Richtung auf wahrscheinlichere Zustände, in Richtung auf Zustände geringerer Ordnung. Zeit ist insoweit Wirklichkeit, als sie mit Entropiewachstum verbunden ist.“70

Dieses Gesetz nun scheint für die Evolution nicht zu gelten; denn die schafft auf unserem Planeten einen hohen Grad an Ordnung. Das zeigt sich besonders in der organischen, also belebten Natur, deren Struktur ein Höchstmaß an Differenziertheit und Komplexität erreicht. „Alles, was war, ist und sein wird, ist das Produkt einer zeitlichen und hierarchischen Sequenz von Ereignissen, die wir eine evolutionäre Sequenz nennen, weil sie von der Gestaltlosigkeit zur Gestalt, vom Wahrscheinlichen zum Unwahrscheinlichen, vom Einfachen zum Komplexen führt. Jeder Schritt, der getan wird, ist abhängig von der Ereignisfolge der Vergangenheit bis hin zur Geburtsstunde des Universums: Kein Schritt geplant, jeder jedoch angesichts der offenen Zukunft möglich, nur nicht der zurück.“71 Folglich scheint Evolution dem „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“ zu widersprechen, der eine Zunahme der Unordnung prophezeit.

Doch das ist nicht der Fall, auch Evolution beruht auf Entropiewachstum, auf einer Zunahme der Unordnung. Wir müssen allerdings sehen, dass die Ordnung – E. Schrödinger nennt sie auch „Negentropie,“72 H.-P. Dürr, „Syntropie,“ – die das Leben schafft, immer nur lokal, d.h. räumlich begrenzt möglich ist, und zwar in Systemen besonderer Art, die wir „Offene Systeme “ nennen, weil sie ständig mit ihrer Umgebung Materie, Energie, Information austauschen und die dabei immer entstehende Entropie bedingungslos ausgrenzen.

Aber nicht nur Zellen und Organismen sind „Offene Systeme“, sondern auch soziale Systeme gehören dazu; auch sie stehen in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Es gibt auch einfachere „Offene Systeme“. „Streng genommen scheint es abgeschlossene Systeme überhaupt nicht zu geben oder zumindest könnten wir über sie mangels Wechselwirkung nichts aussagen.“73

Dennoch wollen wir uns hier ausschließlich den lebendigen Systemen zuwenden, also Organismen und kulturellen Systemen, weil sie auf die Zwänge des „Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik“ mit einer sich selbst organisierenden, immer komplexeren Ordnung antworten und damit dem Tod entgehen können. Diese Strategie ist einzigartig in der Evolution.

Die Zelle, Grundelement allen Lebens, gilt als Musterbeispiel für ein „Offenes System“. Die Komplexität ihres Aufbaus lässt sich kaum ermessen, was molekular dahintersteckt, kann man nur erahnen. Sie stellt ein höchst geordnetes, höchst unwahrscheinliches, also entropiearmes Gebilde dar. Dies wird möglich, weil sie als „Offenes System“ ihrer Umwelt „energiereiche und entropiearme Moleküle, nämlich Nährstoffe, entreißt, die in ihnen enthaltenen Beträge an freier Energie im Verlauf des Nährstoffabbaus entbindet und nutzt und das“, was sie nicht verwerten kann, „an die Umwelt abgibt“. Damit entledigt sie sich jener Energie, die bei allen Stoffumwandlungen zwangsläufig auftritt, nicht genutzt werden kann und nichts weiter bewirkt, „als regellose Wärmebewegung und damit Unordnung zu stiften.“ Auf diese Weise rettet sich die Zelle vor dem „Chaos einer Zufallsverteilung ihrer Moleküle“, also dem Tod, weil die Entropie, die sie unentwegt produzieren muss, ständig nach draußen abgegeben wird. Sie folgt aufs Genaueste dem „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik,“ ohne seinen tödlichen Folgen zum Opfer zu fallen.74 So verhält sich jedes lebendige System, gleich welcher Größe: Zellen, Organismen und kulturelle Systeme.

Weil aber alle lebendigen Systeme die Umwelt nötiger brauchen als jedes andere System, nennt man sie auch „Offene dissipative Systeme“. „Dissipation“ (lat.: Zerstreuung) bedeutet, dass sie ständig „durchflossen“ werden müssen von einem Strom an Energie bzw. Information aus ihrer Umwelt, um ihre Ordnung aufbauen und damit ihr Leben erhalten zu können. Dieses lokale Ordnungswachstum aber bezahlen sie immer mit einer Zunahme an Unordnung in ihrer Umwelt, weil sie diese unerbittlich ausgrenzen müssen.75 „Offene Systeme“ müssen also nicht nur ihre innere Ordnung aufrechterhalten, sondern diese auch steigern von Zuständen niederer Ordnung und geringer Komplexität hin zu Zuständen höherer Ordnung und größerer Komplexität.

Woher stammt nun die erstaunlich geringe Entropie unserer gesamten Biosphäre einschließlich unserer Nährstoffe, von denen alle lebenden Systeme in unserer Biosphäre leben? Auch wir Menschen sind Gebilde kleinster Entropie. In einer Welt, in der, laut dem „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“, die Unordnung wächst, stellen sie ein Rätsel dar. Was hat die Entropie unserer Welt in der Vergangenheit so vermindert?76

Nun, unsere niedrige Entropie stammt von der Sonne, genauer, von der Struktur ihres Lichtes. Die Sonne ist die mächtige Ordnungs-Quelle dieser Welt. Sie versorgt die Erde mit Energie von relativ niedriger Entropie (wenige hochenergetische Photonen des sichtbaren Lichts). Die Erde und all ihre Bewohner speichern diese Energie nicht, sondern strahlen sie – nach einiger Zeit – wieder vollständig in den Weltraum ab. Allerdings wird die Energie in Form hoher Entropie abgegeben, also ungeordnet, nämlich als sogenannte Wärmestrahlung (viele niederfrequente Infrarot-Photonen). Es ist also nicht so, dass unsere Erde und Biosphäre von der Sonne mit Energie versorgt wird, denn die wird vollständig wieder an das All abgegeben. Was die Erde und ihrer Biosphäre tatsächlich vom Sonnenlicht behalten, ist seine Ordnung, während sie die entstehende Unordnung wieder abgeben.77

Wir müssen einen permanenten Durchfluss entropiearmer Energie aufrechterhalten, der uns hilft, am Leben zu bleiben. Das bedeutet, dass wir im ständigen Kampf gegen die ununterbrochen wachsende Entropie nur bestehen können, wenn wir die anfallende Unordnung in uns ständig ausgrenzen und so viel wie möglich von der zugeführten, entropiearmen Energie nutzen, unsere Differenziertheit weiter zu steigern.

Die niedrige Entropie unserer Nahrung, der Pflanzen, die wir direkt oder indirekt über tierisches Fleisch zu uns nehmen, stammt ebenfalls von der Sonne. Pflanzen spalten nämlich das aus der Luft aufgenommene Kohlenstoffdioxid mit Hilfe des Sonnenlichts in Sauerstoff und Kohlenstoff und bauen mit Hilfe des Kohlenstoffs ihre eigene Substanz auf. Den Sauerstoff geben sie an die Umgebung ab. Pflanzen ernähren sich also von Kohlendioxid und je mehr Pflanzen, desto weniger Kohlendioxid. Eine Tatsache, die in der heutigen Klimadiskussion kaum Beachtung findet. Dieser Prozess, die Photosynthese, vermindert die Entropie deutlich. Durch Rekombination des Kohlenstoffs der Pflanzen mit dem eingeatmeten Sauerstoff profitieren wir selbst von dieser niedrigen Entropie. Die dabei entstehende Energie wird ungeordnet, also in Form hoher Entropie (Wärme, Kohlendioxid, Ausscheidungen) wieder abgegeben. So können wir die Entropie unseres Organismus klein halten und unsere komplexe Ordnung retten, ja sogar steigern.78 „Wir alle leben letztlich von der niedrigen Entropie der Sonne, die wir uns (über die Geschicklichkeit der Pflanzen) zunutze machen. Dabei verbrauchen wir nur einen sehr kleinen Teil dieser niedrigen Entropie und wandeln ihn in die komplexen Strukturen unserer Organismen um.“79

Der Frage, warum die Sonne eine Quelle niedriger Entropie ist, wollen wir nicht weiter nachgehen. Doch hängt dieser Umstand damit zusammen, dass sich der „Himmel in einem Zustand des Temperatur-Ungleichgewichts befindet und eine kleine Himmelsregion, die der Sonne, sehr viel heißer ist als der Rest.“80 „Auf diese Weise wird sie zur Quelle der von uns benötigten niedrigen Entropie.“81

Sehr wichtig ist noch, dass „Offene Systeme“ Nicht-Gleichgewichtssysteme sind. Da sie immer einen Zufluss und einen Abfluss besitzen, bilden sich in ihnen stationäre Zustände weitab vom Gleichgewicht aus. „Solche Zustände sind immer gestaltreich: denken wir nur an die beiden schönen Springbrunnen vor Sankt Peter in Rom. Für sie gilt: die Entropiemenge, die pro Zeiteinheit im System erzeugt wird, also die Entropieproduktion, hat einen Minimalwert.“82

„Entropieschwankungen beeinflussen dieses System. Steigt die Entropieproduktion, also die Unordnung innerhalb des Systems, fällt es nach ihrem Abklingen wieder in seinen bisherigen stationären Zustand zurück. Sinkt aber die innersystemische Entropieproduktion, zerstört das den gegenwärtigen stationären Zustand; das System organisiert sich neu und erreicht einen anderen stationären Zustand. Dieser kann immer nur ein komplexerer sein von geringerer Entropie.“83 „Evolution bildet so eine ununterbrochene Folge von Instabilitäten, Fluktuationen, die letztlich von der quantenmechanischen Unschärfe herrühren.“84

Das Entscheidende wollen wir zusammenfassen: Alle lebendigen Systeme, die selbst höchste Ordnung verkörpern, leben von Ordnung,85 wobei sie höherkomplexe (entropiearme) aufnehmen und weniger komplexe (entropiereiche) ausgrenzen. Innerhalb der Biosphäre kann die Entropie des einen Systems einem anderen als Zufuhr dienen, weil die Ordnungszustände der einzelnen Systeme unterschiedlich sind.

Darum muss – und das ist nun entscheidend – jedes lebendige System das bewerten, was es aufnimmt, denn diese Zufuhr muss es in die Lage versetzen, seine eigene Ordnung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch zu steigern. Folglich darf der Ordnungs- bzw. Informationsinput niemals beliebig sein. Er zeigt sich dem Menschen als Sonnenlicht, als Sauerstoff, als Wasser, Nahrung und als Nähe zu Pflanzen, zu Tieren und anderen Menschen. Doch braucht er ihn nicht nur als physische Nahrung, sondern auch als geistige; doch darauf kommen wir noch zurück.

Die Bedingungen der Entropie zwingen demnach jedes „Offene dissipative System“, also auch den Menschen, zu weiterer Differenzierung, um sich selbst zu erhalten. Das bedeutet, dass er eine immer komplexere Ordnung schaffen und sein Wissen vermehren muss, um das Chaos, das dieser Lebens-Prozess als Abfall produzieren muss, ausgrenzen zu können.86 Lokale Ordnung eines lebendigen Systems bildet so das Gegengewicht zur wachsenden Entropie außerhalb des Systems.

Im Folgenden gehen wir auf die Ordnung des Lebens etwas genauer ein. Sie ist ein genialer Wurf der Evolution, ohne sie kein Leben.

65 Wehrt, H. 1974, 117

66 Wehrt, H. 1974, 117

67 Wehrt, H. 1974, 117

68 Weizsäcker, E. v. 1974, 13

69 Wehrt, H. 1974, 118; Schriefers, H. 1982, 91

70 Schriefers, H. 1982, 91, 92

71 Simpson, G. G. 1968, 21:425

72 Schrödinger, E. 1951, 101

73 Weizsäcker, E. v. 1974, 10

74 Schriefers, H. 1982, 95

75 Schriefers, H. 1982, 96

76 Penrose, R. 1991, 310

77 Penrose, R. 1991, 311, 312

78 Penrose, R. 1991, 311

79 Penrose, R. 1991, 312

80 Penrose, R. 1991, 313

81 Penrose, R. 1991, 313

82 Schriefers, H. 1982, 96

83 Schriefers, H. 1982, 96

84 Schriefers, H. 1982, 96

85 Schrödinger, E. 1951

86 Riedl, R. 1994, 301

Das Märchen von der Gleichheit

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