Читать книгу Das Märchen von der Gleichheit - Michael Brand - Страница 9
ОглавлениеEinheit der Natur
Folgendes ist nun wichtig: alles, was wir wahrnehmen, ganz gleich, was es nun sein mag, ist aus den immer gleichen Bausteinen „gemacht“ und unterscheidet sich nur durch die Art, wie diese Bausteine zusammengesetzt sind, also durch den strukturellen Aufbau – mit anderen Worten: Das „Was“ steckt im „Wie“. Damit kommt der Struktur, der Ordnung die entscheidende Bedeutung zu. Nun etwas genauer:
Die Quantenmechanik bestätigt die Vorstellung von einer materiell einheitlichen Welt, die als ein einziger Zustand begriffen werden muss und nicht als Summe von Teilzuständen:40 Alles hängt mit allem zusammen. Ihre Entstehung verdankt die Welt – dieser Gedanke findet sich schon bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) – einer immer differenzierteren Formung der Materie.41 Alle ihre Schichten sind Organisationsformen der Materie. Sie haben sich im Laufe der Evolution des Universums eine aus der anderen entwickelt bis hin zu Gehirnleistung und Bewusstsein.42 Dabei kann man von einer konventionellen Schichteneinteilung der Natur ausgehen: Atome, Moleküle, Zellen, Organismen, Sozialsysteme.43
Materie muss als Satz von Prozessen auf dem Boden für uns zufälliger Elementarereignisse aufgefasst werden. Sie bedeutet Energie, mehr Kraft als Stoff. Struktur soll darum nicht nur räumlich verstanden werden, sondern vielmehr als Dynamik von Prozessen.44 So erscheint das Elektron als ein sich wellenartig verdichtendes Erwartungsfeld, ein Intensitätsfeld ohne feste Umrandung. Wenn Materie zerlegt wird, bleibt Potentialität übrig. In ihrer letzten Konsequenz zeigt sie sich als Form im Sinne von Beziehungsstrukturen.45 Substanz entpuppt sich als vielfältig überlagerte, gespeicherte Form.46 So liegt die Fähigkeit, Strukturen zu bilden, in der Materie begründet.47
Um es nochmal zu betonen: Alle phänomenalen Unterschiede, die wir wahrnehmen, leiten sich aus ihrer raum-zeitlichen Struktur ab, d.h. auch belebte und unbelebte Materie unterscheiden sich „nur“ durch ihre Struktur.48 Leben ist also Ausdruck einer hochkomplexen Struktur bzw. Ordnung. Damit liegt in der Form, Struktur, in der Ordnung des Bestehenden der Schlüssel zum Verständnis dieser Welt und das auf allen evolutionären Stufen, angefangen von der mikrokosmischen Welt bis hin zur geistigkulturellen Ebene. Das kann nicht oft genug betont werden.
Die Entwicklung des Universums vom sogenannten Urknall an entspricht einem Prozess fortwährender Ausdifferenzierung und Strukturierung: Das anfängliche energetische Möglichkeitsfeld gerinnt zum Faktischen, zu immer neuen Objekten höherer Ordnung und geringer raum-zeitlicher Symmetrie.49 Die zeitliche Abfolge dieser Realisierung von Möglichkeiten bezeichnen wir als Evolution.50 Dieser evolutionäre Prozess verbindet alle Entwicklungsstufen miteinander, vom Ursprung des Kosmos an über die Entstehung von Galaxien und Planetensystemen bis hin zur Bildung der Erde, der Biosphäre, des Menschen und seiner überindividuellen kulturellen Gemeinschaften.51 Vom Urknall („Quantenchaos“) an entwickelt sich ursprüngliche Potentialität hin zu immer höherer Differenzierung.
Als evolutionärer Motor erweist sich darum die Differenz. Aus dem anfänglich homogeneren Möglichkeitsfeld entstehen auf Grund von Dichteunterschieden schließlich Strukturen.52 Unterscheidungen, Grenzen liegen jeder Differenz und jeder Differenzierung zugrunde. Es entwickelt sich ein immer komplexeres und weiter verzweigtes „objekthaftes Skelett“, „das der Wirklichkeit im Verlauf ihrer Evolution“ eine „festere“ und „differenziertere“ Gestalt „verleiht“.53
Ganz entscheidend dabei ist die System-, ist die Gestaltbildung. Das kann ebenfalls nicht oft genug betont werden. Als kardinale Konstante bestimmt sie diese Entwicklung.54 Gestaltwachstum in all seinen Facetten prägt so nicht nur das organische Leben, obwohl es sich hier am großartigsten zeigt.55 Immer gilt, dass Gestalt als Formspeicher verstanden werden muss. Auf ursprünglicher natürlicher Gestalt wächst kulturelle Gestalt, von der Zelle über den Organismus, die Sippe bis hin zum Volk und zu viele Völker einenden Systemen. Wir werden im Folgenden Gestalt, System und Einheit, später auch Gemeinschaft synonym gebrauchen.
Leben, auf unserem Planeten seit ungefähr vier Milliarden Jahren, tritt immer systemisch in Erscheinung und verkörpert höchste Ordnung, die unerbittlich darum kämpft, die eigene Identität zu erhalten, sei es nun als Zelle, Individuum oder Population und das in einer ständig sich wandelnden Welt. Elemente und Beziehungen des Systems hängen nicht nur von dessen augenblicklichem Zustand ab, „sondern weit mehr von seiner Entwicklungskette bis zum Ursprung des Lebens, ja des Weltalls“.56
Da lebende Systeme nichts Festes darstellen, sondern als Prozess gesehen werden müssen, sind sie wie stehende Wellen. So setzt sich, zum Beispiel ein Organismus nicht von Beginn an bis zum Ende aus den gleichen Bestandteilen zusammen. Seine in der Zeit wachsende Form speichert eine ungeheure Fülle nicht mehr rekonstruierbarer Ereignisse. Denn keine Funktion hat das Leben so ausgebaut wie seine Lernfähigkeit. Konrad Lorenz (1903-1989) nennt das Leben und damit die Evolution darum auch „erkenntnisförmig“ – „gnoseomorph“. Erkenntnis oder Wissen bedeuten letztlich eine Anhäufung von Information und damit von Form, denn Information kann auch als eine Maßzahl für die Menge von Form, von Gestalt verstanden werden.57 Je mehr Form in einem System steckt, desto komplexer ist seine Ordnung und desto größer sein Informationsgehalt. Doch darauf werden wir noch genauer eingehen.
Dieses Wissen nun findet seinen Niederschlag im Genom, dem haploiden Chromosomensatz, und den in ihm lokalisierten Genen. Wie alle Lebewesen verfügt der Mensch über dieses Vorwissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ohne Weitergabe von Wissen, ohne Tradierung ist Leben nämlich nicht möglich. In chemischer Sprache, durch die Folge von vier Grundbausteinen verschlüsseln diese Moleküle die Information für den Aufbau und zum wesentlichen Teil auch für das Verhalten des Organismus; doch nicht bis ins letzte Detail. Nur das Thema wird vorgegeben, die genaue Ausgestaltung entwickelt der wachsende Organismus im Zusammenspiel mit seiner Umwelt.58 Der syntaktische Aspekt der genetischen Information beschreibt nur die Folge der einzelnen Bausteine eines Erbmoleküls; die Semantik jedoch, äußert sich gerade in ihrer besonderen Anordnung, so dass die Form die Funktion bestimmt.
Wie jeder Organismus wird auch der Mensch repräsentiert durch sein Genom. In ihm sind alle Erfahrungen gespeichert, die der Mensch und seine Vorfahren im Disput mit der Umwelt erworben haben. Es ist das System, das uns mit allem, was lebt, greifbar verbindet. Das Eins-Sein der Lebewesen hat einen dinglichen Grund. Das Genom enthält Informationen über Weltzusammenhänge und stützt – mit anderen Worten – eine erkenntnistheoretisch realistische Position: Die Welt reicht durch uns hindurch und wenn wir die Welt beurteilen, dann beurteilen wir unseresgleichen (s. Anhang: Erkenntnistheorie).
Dadurch, dass die Organismen mit den Dingen der Außenwelt in Berührung gebracht werden und sich an ihnen reiben, lassen sie sich von ihnen beeindrucken und nehmen sie so zur Kenntnis. Bei diesem Vorgang der Anpassung empfängt der Organismus Informationen über seine Umwelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Dies geschieht auch, wenn Signale unser Gehirn erreichen, doch darauf kommen wir noch zurück.
Von allen tastenden Versuchen, der Welt zu genügen, müssen solche erhalten werden, die Erfolg haben. Da aber das Leben auf jeder Stufe der Evolution nur so viel Information über seine Umwelt in sich aufgenommen hat, wie es zum Überleben braucht, ist es nicht imstande, die ganze Wirklichkeit zu erfassen. Unser Weltbild enthält keine Information über Zusammenhänge, die für uns nicht überlebensnotwendig gewesen sind. Diese bleiben uns entweder verborgen oder unanschaulich, wie zum Beispiel der Welle-Korpuskel-Dualismus. Alle unsere Vorfahren sind in einem Mesokosmos, an einer Welt mittlerer Größe, ausgebildet worden.59 Die uns angeborenen Formen der Anschauung haben sich stets an jenen mittleren Dimensionen bewähren müssen, die eben näherungsweise wie eine lineare Zeit und ein davon unabhängiger dreidimensionaler euklidischer Raum erscheinen. Das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, dessen wirkliches Vorhandensein wir auf Grund von Berechnungen annehmen müssen, ist in seiner kosmischen Dimension kein Lebensproblem irgendeines unseres Vorfahren gewesen. Das für uns unerreichbare „Ding an sich“ steht darum nicht hinter unserer Wirklichkeit, sondern wäre eher eine allwissende Rundumsicht der Wirklichkeit, die unsere Beschränktheit nicht zulässt. Doch der uns zugängliche Teil, mag er auch klein, oberflächlich, einseitig und oft falsch sein, ist wirklich (s. Anhang: Erkenntnistheorie).
Dem genetischen Wissen der Lebewesen gesellt sich schließlich das synaptische Gedächtnis eines zentralisierten Nervensystems (Gehirn) hinzu. Der Mensch kann so Augenblicksinformationen verarbeiten und speichern, aus den heute gemachten Erfahrungen lernen und sie bei der Problemlösung von morgen nutzen.60 Durch das Zusammenspiel von Genom und Gehirn gelingt es dem Organismus, immer mehr Information zu sammeln und sich weiter zu formen, zu differenzieren. „In zunehmend rascherer Folge schafft Komplexität“ „neue, höhere Komplexität“.61 Schließlich entwickelt sich durch immer weitere Reflexion eines Individuums sein Bewusstsein.
Es wird deutlich, dass Evolution Schritt für Schritt, Stufe um Stufe radikal Neues schafft, das auf die Eigenschaften der darunterliegenden Schichten nicht rückführbar ist, obwohl es sich aus bekannten Elementen und im Rahmen der bestehenden Naturgesetze entwickelt hat. Wir sprechen von Emergenz. Für Chemiker stellt dieses Phänomen nichts Ungewöhnliches dar. Verschmelzen beispielsweise drei Heliumatome stufenweise miteinander, wie das in Sternen passiert, so entsteht dabei nicht etwa ein Superhelium im Sinne eines additiven Effektes. Es entsteht vielmehr etwas völlig anderes: Das Kohlenstoffatom. Obwohl es keine anderen Bauelemente enthält als die Heliumatome, aus denen es hervorgegangen ist, bringt die spezifische Kombination dieser Bauelemente etwas hervor, das nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem Edelgas Helium zu tun hat: Eine neue Form höherer Komplexität mit ganz neuen Eigenschaften.62
Als wichtige emergente Ereignisse in der Geschichte des Universums können sicher die Entstehung der Elemente, des Lebens, des Gehirns, des Bewusstseins und der Sprache gesehen werden.63 Alle mentalen Zustände und Prozesse sind emergent in Bezug auf die Zustände und Prozesse der zellulären Komponenten des Zentralnervensystems.64
Wir haben einige wichtige Grundlagen natürlicher Prozesse beschrieben. Doch interessiert uns vor allem die Biosphäre, die Ordnung des Lebens als die komplexeste Spielart der Natur. Will man sie verstehen, ist das nicht möglich ohne den „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.“
40 Dürr, H.-P. 1989, 38
41 Aster, E. v. Bd. 108 1954, 97
42 Vollmer, G. 1994, 86; vgl. Schriefers, H. 1982
43 Weizsäcker, E. v. 1974, 10
44 Schriefers, H. 1982, 129
45 vgl. Dürr, H.-P. 1989 28-46; Vortrag 1996
46 Weizsäcker, C. F. v. 1992, 343
47 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Vortrag 1996
48 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Vortrag 1996
49 Dürr, H.-P. 1989, 39, 41; Vortrag 1996
50 Dürr, H.-P. 1989,39
51 Schriefers, H. 1982, 132
52 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Krieger, D. J. 1998, 11; vgl. Fritzsch, H. 1994
53 Dürr, H.-P. 1989, 40
54 Weizsäcker, C. F. v. 1994, 34
55 Weizsäcker, C. F. v. 1994, 34
56 vgl. Schriefers, H. 1982
57 Weizsäcker, C. F. v. 1989, 24
58 Haken, H. 1995, 10
59 Vollmer, G. 1994, 161, 162
60 Schriefers, H. 1982, 134, 135
61 Schriefers, H. 1982, 135
62 Schriefers, H. 1982, 49
63 Popper, R. K.; Eccles, J. C. 1977, 383-385
64 Schriefers, H. 1982, 139