Читать книгу Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4) - Nadja Losbohm - Страница 11

9. Kapitel

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~ Ada ~

Erst zögerte er, aber er hatte mich bereits angefüttert, und er wusste, dass ich keine Ruhe geben würde, wenn er jetzt schwieg. Also begann er zu erzählen, wobei er nur leise in meinem Schlafzimmer zu hören war. Normalerweise sprach Pater Michael laut und seine Stimme war stark und gefestigt. Aber nun wirkte sie unsicher, ja, beinahe ängstlich. Mit meinem neuen Supergehör konnte ich den rasenden Schlag seines Herzens ganz deutlich hören. Er war furchtbar aufgeregt und nervös.

„Anfang des Jahres 1013 kamen wir in den Wald von Brocéliande. Noch heute ist er ein sagenhafter und fantastischer Ort. Die Bäume dort haben ihre ganz eigene Form. Sie sehen anders aus als all die anderen, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Als wir uns unseren Weg durch das Dickicht schlugen und ich mich umsah, kam es mir manchmal so vor, als steckten Gesichter in den Baumstämmen, die jede unserer Bewegungen beobachteten. Einige von diesen Gesichtern waren so grotesk geformt, es hätte auch sein können, ein Gnom oder ein anderer Waldgeist hockte in dem Baum und spähte durch die Rinde zu uns heraus. Wir kamen an zahlreichen Megalithen vorbei, alten Steingräbern, und sahen viele verfallene Steinhäuser. Wir gerieten immer tiefer in den Wald hinein. Es wurde dunkler; die Kronen der riesigen uralten Bäume ließen kaum Tageslicht zum Boden hindurch. Eines Nachts suchten Allistair und ich lange Zeit nach einem geeigneten Schlafplatz für uns. Als wir die halbverfallenen Mauern eines Steinhauses entdeckten, die mahnend in den dunklen Wald ragten, waren wir zunächst erleichtert und froh, dass unsere Suche ein Ende zu haben schien. Doch schnell bemerkten wir, dass sich dort offenbar schon jemand anderes eingerichtet hatte. Ein merkwürdiger orangefarbener Schein lag über der Ruine, und lautes Gelächter, das eindeutig zu Männern gehörte, drang durch die Bäume zu uns hindurch. Allistair und ich sahen uns fragend an. Ich glaube, wir dachten und fühlten in jenem Moment dasselbe. Wir konnten von unserer Position aus nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten, aber das war auch nicht nötig. Der Klang ihrer Stimmen verriet uns, dass es üble Gestalten sein mussten, vor denen wir auf der Hut sein sollten. Vorsichtig näherten wir uns den Steinresten. Die Dunkelheit der Nacht bot uns Schutz, und unsere geübten Füße machten kaum ein Geräusch, als sie auf den mit Bucheckern, Blättern und Eicheln bedeckten Waldboden aufsetzten. Hinter einer fast intakten Mauer des Hauses versteckten wir uns und spähten durch einen Spalt zwischen ein paar Steinen hindurch. Schnell fanden wir die Quelle des orangen Lichts. In der Mitte der Ruine flackerte und knisterte ein Lagerfeuer. Glühende Funken stoben in die Nachtluft, als der Wind über die Flammen hinwegfegte. An der Mauer uns gegenüber lehnten zwei Männer. Ihre Köpfe waren nach vorn gelehnt, das Kinn ruhte auf der Brust. Ihre Beine waren ausgestreckt, ihre Arme hingen schlaff zu ihren Seiten und in der Hand hielten sie noch die Krüge, die sie geleert hatten. Es war deutlich zu erkennen, dass die beiden Männer sturzbetrunken waren und schliefen. Ich richtete meinen Blick auf die drei Männer, die direkt am Feuer saßen. Sie hatten ihren Rücken zu uns gewandt und waren mit den Fischen beschäftigt, die, auf Holzstöcken aufgespießt, über dem Feuer brieten. Die Männer unterhielten sich über einen Überfall, den sie am Tage getan hatten. Sie zogen über ihre Opfer her und lachten dabei lauthals. Einer der Männer drehte seinen Kopf zur Seite, um seinen Nachbarn anzusehen, und ich konnte endlich eines der Gesichter erkennen. Der Schein des Feuers zeigte mir, wer dort vor mir saß, und mir stockte der Atem, als ich zu begreifen begann. Ich drückte meinen Kopf noch dichter an die kalten Steine der Ruine, damit ich besser sehen konnte. Ungläubig starrte ich das Profil des Mannes an, auf dem orangefarbenes Licht tanzte. Ich konnte einfach nicht den Blick abwenden, wollte sicher gehen, dass mir meine Augen und meine Erinnerungen keinen Streich spielten. Aber dann drehte auch der zweite Mann seinen Kopf herum und zeigte sich mir. In dem Moment war ich absolut sicher. Es bestand kein Zweifel mehr. Vor mir saßen die Mörder meiner Mutter.”

„Plötzlich fing mein Herz wie wild an zu schlagen. Es war so heftig. Ich war mir sicher, es pulsierte gegen die verfallenen Reste des Steinhauses und war für Jedermann zu hören. Ich zog meinen Kopf von dem Spalt, durch den ich geblickt hatte, und lehnte mich mit dem Rücken gegen die alte Mauer. Ich legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Meine Hand lag auf meiner Brust und versuchte, mein wild galoppierendes Herz in Schach zu halten, denn es fühlte sich an, als würde es versuchen, seinen Weg aus meinem Körper zu finden und sich auf diese abscheulichen Menschen stürzen zu wollen, die dort beisammen saßen und sich an ihren Schandtaten ergötzten. Allistair, neben mir hockend, fragte mich flüsternd, was mit mir sei. Ich schwieg und blickte hinauf zu den Wipfeln der Bäume, deren Blätter im Wind raschelten. Meine Augen suchten nach dem Himmel, von dem ich wusste, dass Gott von dort auf mich heruntersah. Er sah mich und wusste, was in mir vorging. Und ich bin mir sicher, dass er ebenso meine Gedanken kannte, die in jenen Momenten durch meinen Kopf schossen. Ich schämte mich dafür, dass ich so dachte und empfand. Tränen traten mir in die Augen. Brennend heiß liefen sie über die Haut meiner Wangen. Mit meinen Händen wischte ich mir über das Gesicht und sah ein letztes Mal zum Himmel empor.

„Verzeih mir, Herr,” flüsterte ich und bat darum, dass sich Gott für einen Moment abwenden möge, damit er nicht mit ansehen musste, was ich im Begriff war zu tun. Dann wandte ich meinen Kopf zu Allistair. Sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber ich spürte seine Verunsicherung, weil er keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und hoffte, es möge ihn beruhigen. Ich lehnte mich zu ihm vor und raunte ihm ins Ohr: „Was immer jetzt geschieht, du musst auf jeden Fall hierbleiben. Du darfst nicht hervorkommen, sodass dich jemand sieht. Bleib hier, rühre dich nicht und warte.“ An meiner Wange spürte ich, wie er mit dem Kopf nickte. Ich lehnte mich zurück und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Nur schwach konnte ich ihre Umrisse erkennen. Ich war mir sicher, es ging ihm nicht anders. Dennoch rührten wir uns nicht und betrachteten uns gegenseitig. Allistair nickte erneut. Da wusste ich, dass er verstanden hatte.

„Ich hoffe, du vergibst mir irgendwann das, was ich jetzt tun werde, mein Freund,” flüsterte ich und umfasste seine Wange. Dann erhob ich mich, legte meinen schweren Mantel ab, dessen Gewicht mir nur hinderlich gewesen wäre, und zog mein Schwert. Ich ignorierte das leise Keuchen zu meinen Füßen und das besorgte Flüstern meines Namens.

„Ich kann dir helfen,” raunte mir Allistair zu und machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. Ich packte ihn schnell an der Schulter und drückte ihn wieder hinunter, sodass er sitzen bleiben musste.

„Nein! Auf gar keinen Fall! Das hier hat nichts mit dir zu tun, Allistair. Es ist meine Angelegenheit. Ich muss es allein tun,” sagte ich entschlossen. Über meine Entscheidung war nicht zu verhandeln. Es stand fest, dass ich es tun würde, und ich würde es allein tun. Es war meine Rache, die ich nehmen würde. Ich stellte mich aufrecht hin, atmete tief durch und schaltete meinen Verstand ab. Auch meine Gefühle, die Reue und Schuld, die in meinem Inneren laut schrien, schaltete ich ab. All diese Dinge würden mir nur im Weg sein, und ich musste jetzt funktionieren. Es war wichtig, dass ich mich nur auf das konzentrierte, was ich vorhatte: die Hinrichtung der Männer, die meine Mutter getötet hatten.”

Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4)

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