Читать книгу Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4) - Nadja Losbohm - Страница 7
5. Kapitel
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Als er mir sagte, wann er geboren worden war, verschlug es mir die Sprache. Ich hatte mit vielem gerechnet. Aber nicht damit! Mit vierhundert oder fünfhundert wäre ich noch klargekommen. Aber eintausend Jahre? Das war eindeutig zu viel für mich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und als Pater Michael mich fragend ansah, wollte ich im ersten Moment rufen: „Nein, sprich nicht weiter! Ich will es nicht hören! Ich komme damit nicht zurecht!“ Aber wenn ich es getan hätte, wäre er sicher enttäuscht gewesen. Ich wollte ihm nicht wehtun. Er hatte so viel für mich getan, und es bedeutete ihm viel, mir von sich zu erzählen. Also schluckte ich mein Unbehagen hinunter und forderte ihn auf, weiterzusprechen.
„Geboren wurde ich im Jahre 982. Meine Mutter war Bretonin, mein Vater Ire. Er kam zwei Jahre vor meiner Geburt an der Nordküste Frankreichs an und lernte meine Mutter kennen und lieben. Wie ich in das Kloster kam, weißt du bereits. Und auch was dort geschah,” sagte er.
Ich nickte. „Darf ich dich diesbezüglich etwas fragen?” Pater Michael gab mir ein Handzeichen, dass ich reden sollte. „Warum hast du dich nicht gegen diesen Mönch gewehrt? Warum hast du ihn nicht angezeigt?”, wollte ich wissen.
Er blickte hinunter auf seine Hände, die auf seinem Bauch ruhten, und dachte über die Antwort nach. Nach einer Weile sah er mich an und sagte: „Das ging nicht. Er stand weit über mir. Alle schätzten seine Arbeit. Und die weisen, tüchtigen Mönche, die aus diesem Kloster hervorgingen, bestätigten nur seine Unterrichtsmethoden. Wie es zu dem Erfolg kam, danach fragte niemand. Außerdem waren alle Mönche in diesem Kloster vom Eigenkirchenherrn berufen worden. Früher wurden Kirchen nicht von Geistlichen gegründet, sondern von weltlichen Stiftern. Diese suchten auch das Personal für ihre eigene Kirche aus. Der Stifter, der den Mönch eingestellt hatte, der uns Kinder misshandelte, hielt viel von seinem langjährigen Freund. Was sollte man dagegen sagen, und du vergisst, ich war damals noch ein Kind, das von seinem eigenen Vater verstoßen worden war. Ich hatte beim Eintritt in das Kloster Gehorsam geschworen. Was hätte ich schon ausrichten können.” Pater Michael lächelte gequält.
Ich war mir nicht sicher, ob es ihm schwerfiel, über diesen Teil seines Lebens zu sprechen oder nicht. Aber ich war dankbar dafür, dass er mir geantwortet hatte. Denn diese Frage hatte mir schon seit dem Moment unter den Nägeln gebrannt, seit er mir zum ersten Mal von den Torturen seiner Kindheit erzählt hatte. Ich lehnte mich zurück und wartete darauf, dass er fortfuhr. Doch anstatt weiterzusprechen, starrte der Padre still vor sich hin. Ich wusste nicht, was er in jenen Momenten sah oder woran er dachte. Vielleicht hatte ihn meine Fragerei auch aus dem Konzept gebracht und er überlegte, wie und wo er weitermachen sollte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihn durcheinander gebracht hatte und nahm mir vor, es nicht noch einmal zu tun. Ich versuchte, meinen Verstand, meine Gedanken abzustellen und nicht darüber nachzudenken, wie merkwürdig ich es immer noch fand, dass vor mir ein mehr als eintausend Jahre alter Mann saß. Mein Kopf konnte sich mit dieser Unnatürlichkeit, die jedem Naturgesetz widersprach, nicht abfinden. Aber ich wollte es Pater Michael nach wie vor nicht offen zeigen. Also schwieg ich, legte eine neutrale Miene auf und hörte einfach nur zu.
„Damals war es in den Klosterschulen üblich, dass nach einer gewissen Zeitspanne die Fehler der Schüler in ihren Arbeiten zusammengezählt wurden. Bei uns erfolgte diese Zählung alle drei Monate, und wer die meisten Fehler hatte, wurde mit Schlägen auf den Rücken bestraft. Ich war nicht der Schlechteste, trotzdem bekam ich am häufigsten Schläge. Es machte keinen Unterschied, ob ich zehn oder gar keinen Fehler gemacht hatte. Der Mönch schlug mich trotzdem,” offenbarte er mir.
Ich erinnerte mich daran, dass er mir einmal erzählt hatte, woran diese „besondere Behandlung” gelegen hatte. Es war nicht nur die Antipathie, die der Mönch vom ersten Tag an für Pater Michael empfunden hatte. Es hatte auch daran gelegen, weil er glaubte, dass in dem Jungen ein Dämon steckte, den er in den funkelnden Lichtpunkten in Pater Michaels Augen erkannt hatte. Für mich war das unbegreiflich und in keiner Weise nachzuvollziehen.
„Ich möchte nicht alles schlechtreden, was damals war,” fuhr er fort, „es war nur eines von vielen Dingen, die in dem Kloster stattgefunden haben. Das Meiste, was dort vor sich ging, war positiv und lehrreich. Das Leben im Kloster bot alles, was man brauchte. Es gab Gärten, in denen Obst und Gemüse angebaut wurde und auch Arzneikräuter wie Lavendel, Salbei oder Kamille. Es gab Schreibstuben, in denen die alten Schriften abgeschrieben und somit über Jahre erhalten wurden, eine Bibliothek, Schlafräume und Vorratsräume. Es gab ein Gasthaus für Reisende, Heilungsräume für Kranke, Werkstätten der Handwerker und Schneider. Außerdem hatten wir einen Viehstall, einen Hühnerhof, eine Mühle und eine Bäckerei. Es gab eine Schule, wo wir, die zukünftigen Mönche, Schreiben, Rechnen, Lesen und Latein lernten. In der Mitte des Klosterhofs befanden sich ein Brunnen, Blumenbeete und Bäume. Manchmal, wenn das Wetter gut war, saßen wir in dem Hof und wurden dort unterrichtet. Am liebsten mochte ich den Astronomieunterricht. Die Sterne hatten mich schon immer fasziniert. Dabei konnte ich alles vergessen und träumen. Ich prägte mir die Konstellationen fest ein, und wenn mich die grauen, trostlosen Mauern des Klosters umgaben und ich die Augen schloss, sah ich vor mir das Funkeln und die Schönheit der Sterne an meinem eigenen Himmel. Als ich noch durch die Welt zog und in der Wildnis schlief, beobachtete ich oft den Himmel und die Bewegungen der Sterne. Hier in der Stadt wird das Meiste, was sich am Himmel abspielt, durch eine dicke Dunstglocke verhüllt. Selten kann man die Sterne sehen und noch seltener Sternbilder entdecken. Kassiopeia, Orion, der kleine Wagen,” zählte er auf. Er schloss die Augen und stellte sie sich in seiner Fantasie vor. Verzückt von ihrem Anblick lächelte er dabei.
Ich musste ebenfalls über seinen Anblick lächeln, als er sich diesen Moment stahl, um zu träumen. Er sah zufrieden und glücklich aus, und erst als ich heftig nieste, kehrte er zurück ins Hier und Jetzt. „Entschuldigung,” murmelte ich und sah ihn verlegen an.
Pater Michael schüttelte lachend den Kopf. „Gesundheit,” wünschte er mir und kehrte zurück zu seiner Erzählung.