Читать книгу Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4) - Nadja Losbohm - Страница 14
12. Kapitel
Оглавление~ Pater Michael ~
„Nachdem Allistair gestorben war, brach für mich eine Zeit der Einsamkeit an. Noch nie hatte ich mich derart allein gefühlt. Nicht einmal in dem Kloster, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte und misshandelt worden war. Bis der nächste Jäger kam, vergingen etliche Jahre, in denen ich einfach nur Priester war,” sagte ich und spürte plötzlich wieder die mir wohl bekannte Einsamkeit. Die Intensität war so heftig; es überwältigte mich schier und ein unangenehmer Schauer lief mir über den Rücken. Ich fragte mich, ob es nur daran lag, dass ich mich so gut erinnern konnte, wie es war, mehrere Jahrzehnte allein in dieser dunklen unterirdischen Anlage zu hausen oder ob es auch etwas mit heute zu tun hatte. Denn obwohl Ada bei mir war, fühlte ich mich allein. Durch meine Geständnisse, die ich ihr gegenüber gemacht hatte, war sie mir entrückt. Seit dem ersten Satz schien eine seltsame Schranke zwischen uns zu sein, zu deren Überwindung ich nicht in der Lage war. Wenn Ada mein Geburtsjahr hörte, seufzte sie gequält. Wenn ich sie anfasste, zuckte sie zusammen, was mich denken ließ, ich sei etwas Widerwärtiges, das man nicht in seiner Nähe haben will. Ich wusste noch ganz genau, wie schockiert sie ausgesehen hatte, als ich ihr von meiner grausamen Tat im Wald von Brocéliande erzählt hatte. Ja, Ada saß zwar dicht bei mir, dennoch war sie mir unendlich fern.
„Was hast du allein hier gemacht? Es muss doch schrecklich langweilig gewesen sein,” ertönte ihre Stimme aus heiterem Himmel.
Ich schüttelte den Kopf, um meine traurigen Gedanken loszuwerden und zuckte mit den Schultern. „Ja, mein Leben war oft sehr langweilig und eintönig,” gestand ich, „damals gab es kein Fernsehen oder Internet und auch kein Radio. Das Einzige, mit dem ich mich beschäftigen konnte, waren meine Bücher. Sie waren meine einzigen Freunde in dieser Zeit. Sie waren immer für mich da. Gelegentlich kamen Gelehrte zu mir und gaben mir Unterricht, brachten mir Bücher und Schriften mit, die ich studieren konnte. Sir Alfred Chester Beatty zum Beispiel. Er hatte ein paar sehr, sehr wertvolle Papyri erstanden, die aus dem dritten Jahrhundert stammten und die man in Ägypten gefunden hatte, Anfang der 1930er Jahre. Offiziell waren es zwölf Handschriften, aber niemand wusste, dass es noch eine dreizehnte gibt, auf der ein Teil der Offenbarung aus der Bibel geschrieben steht. Sir Alfred schenkte sie mir, und sie ist heute noch in unserer Bibliothek versteckt. Sie hat einen unschätzbaren Wert.”
„Hast du noch mehr solcher geheimnisvollen Schätze, von denen ich nichts weiß?”, fragte Ada mich.
Ich nickte. „Iulius Africanus schrieb ein großes Werk namens „Chronologien”, eine Weltchronik. Es gilt als verschollen, aber…,” begann ich, doch Ada fiel mir aufgeregt ins Wort. „Du hast es?”, entfuhr es ihr.
Ich hob meinen Kopf und sah sie an. Ich musste lächeln, als ich den verblüfften Ausdruck auf ihrem Gesicht sah. Dabei wusste sie noch nicht einmal annähernd alles. „Im Jahre 335 vor Christus schrieb Aristoteles drei Bücher über die Dichtkunst. Das erste Buch hieß „Tragödie“‚ das Zweite „Komödie“ und das Dritte „Epos”. Das Buch „Komödie“ gilt seit einer Ewigkeit als verschwunden,” offenbarte ich ihr und wartete darauf, dass sie von selbst auf die Lösung des Rätsels kam. Sie tat es sehr schnell. „Lass mich raten! Du hast es ebenfalls,” stellte sie fest. Ich nickte. „Das ist einfach unglaublich! Bedeutende Werke, die als vermisst gelten, und du bewahrst sie hier auf. Tss!”, machte sie und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Du weißt längst noch nicht alles,” sagte ich vieldeutig. Sofort weiteten sich ihre Augen und sie sah mich verwundert an.
„Ich weiß, du hast die Bibeln in unserem Wohnzimmer gesehen. Dies ist aber nur ein Bruchteil der Sammlung. Immer wieder gab und gibt es neue Ausgaben der Heiligen Schrift. Hinter dem Bücherregal liegt ein geheimer Raum, in dem sie alle stehen. Dort findet man auch die Apokryphen, die „verbotenen Schriften”, wie man sie auch bezeichnet. Was in ihnen geschrieben steht, widerspricht mehrfach dem, was in der Bibel zu lesen ist. Die Apokryphen entstanden erst sehr viel später als die Heilige Schrift, weshalb sie nicht mit in selbige aufgenommen wurden,” erklärte ich ihr ernst.
Adas Augen waren bei meinen Worten immer größer geworden. Je mehr ich erzählte, desto weniger konnte sie offenbar fassen, dass in unserem unterirdischen Zuhause eine Sammlung verborgen lag, die seltene und verbotene Schriften umfasste und nach denen zig Forscher seit Jahren suchten. „Bitte vergiss nicht, dass keines dieser Schriftstücke wirklich mir gehört. Sie gehören der Kirche. Ich passe lediglich auf sie auf,” sagte ich mit Nachdruck, denn mir war nicht entgangen, dass sie mich immer noch schockiert anstarrte, als sei ich ein Schwerverbrecher.
Ada runzelte die Stirn. Sie schien zu überlegen, was sie glauben konnte und was nicht. Wahrscheinlich würde ich ihr erst all die Bücher zeigen müssen, bevor sie meine Worte als Unfug abtat.
Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und räusperte sich. „Okay, was hast du noch so gemacht?”, wechselte sie das Thema.
„Es gibt immer wieder etwas Neues, das man lernen kann. Auch innerhalb der Kirche und des Glaubens. Ansichten verändern sich. Neue Überlegungen werden geäußert. Die Lehre des Platon ist anders als die von Thomas von Acquin, der wiederum eine völlig andere Meinung als Roger Bacon hatte. Rom war einst der Mittelpunkt der Welt. Die Macht der Kirche war so groß, dass der Papst selbst über Kaisern und Königen stand. So etwas ist heute doch kaum mehr denkbar. Es war ebenso interessant und spannend mitzuerleben, wie die Forschungen von Charles Darwin innerhalb der Kirche für große Aufregung sorgten. 1871 erschien sein Buch „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl”, mit dem er den biblischen Schöpfungsglauben in Frage stellte. Damals sorgte es für viel Wirbel, und die Geistlichen wehrten sich lange Zeit gegen die Dinge, die Darwin schrieb. Doch mittlerweile hat die Kirche mit diesen Forschungen Frieden geschlossen und akzeptiert die Erkenntnisse. Denn beides kann nebeneinander existieren: der Glaube an Gott und seine wunderbare Schöpfung und die Naturwissenschaft. Allerdings gilt dies nur eingeschränkt,” bemerkte ich mit einem vieldeutigen Grinsen und einem Augenzwinkern.
„Ich beschäftigte mich aber nicht nur mit kirchlichen und glaubenstechnischen Fragen. Ich erlernte neue Kampftechniken. Ritter kamen zu mir, später dann auch Mönche aus dem fernen Osten und selbst aus Afrika kamen Krieger gereist, um mir ihre Weise des Kämpfens beizubringen. Die Kampfkünste hören niemals auf, sich zu entwickeln. So erlernte ich zum Beispiel das indische „Thang-Ta” , eine Schwertkampftechnik, durch die man lernt, sich geschmeidiger zu bewegen. Mir wurde gezeigt, wie ich mit zwei Schwertern gleichzeitig zu kämpfen hatte. Ich lernte auf den verschiedensten Untergründen zu kämpfen wie zum Beispiel Sand, der eine große Herausforderung wegen seiner Rutschigkeit darstellt. Ich musste mich gegen mehrere Angreifer zur selben Zeit verteidigen und lernte, wie man mit Speer und Axt tötet, ja, sogar mit einem Wurfeisen, dem Hunga Munga,” erklärte ich ihr, brach aber ab, als ich Adas lautes Lachen hörte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder soweit beruhigt hatte, dass ihr mein missbilligender Blick auffiel.
„Verzeihung,” meinte sie und presste die Lippen fest aufeinander, um sich von einem weiteren Lachanfall abzuhalten. Es gelang ihr nur bedingt, ihr Amüsement zu verbergen.
Mahnend hob ich den Zeigefinger und sah sie ernst an. „In Afrika könnte man dir deine Reaktion sehr übel nehmen! Über eine Waffe zu lachen, die dort auch als ritueller Gegenstand dient, grenzt nahezu an Blasphemie!” Mit einem gewissen Maß an Zufriedenheit und einem Schmunzeln auf den Lippen stellte ich fest, dass Ada sich wegen ihres Mangels an Respekt schämte und unsicher auf ihre Hände blickte.
„Es war mir wichtig, Neues zu erlernen, besser zu werden,“ fuhr ich schließlich fort. „Meine vielseitige Ausbildung bedeutete, dass auch die Jäger besser ausgebildet werden konnten. Wenn man so will, könnte man auch sagen, dass jeder Jäger seinem Vorgänger überlegen war. Aber mein Interesse beschränkte sich nicht nur auf solche Dinge. Es war mir ebenso wichtig zu erfahren, was vor den Mauern meiner Kirche geschah. Boten, die aus meiner Gemeinde stammten, mussten zu mir kommen und mir davon berichten, was vor sich ging oder welche neuen Erfindungen es gab. 1506 gab es die erste Taschenuhr und plötzlich hatte es jeder eilig. Bisher hatten die Menschen einfach in den Tag hineingelegt, aber mit der Uhr in der Hand spürte man viel deutlicher, wie rasch der Tag vorüberging und man doch nicht unendlich viel Zeit hatte. Im selben Jahrhundert entwickelte sich die Metallqualität deutlich weiter, was auch den Jägern zugutekam, denn die erste Pistole im Kampf gegen Vampire kam bei uns in Benutzung. Bisher hatten wir eine Armbrust verwendet mit Pfeilen, deren Spitzen aus Silber waren, als Geschosse. Es folgten noch weitere Verbesserungen am Metall und der Zuverlässigkeit der Waffen. Immer wieder bekamen wir daher neue. Die, die du verwendest, ist die Zehnte. Doch dies sind vergleichsweise nur „kleine” Errungenschaften. Die Entdeckung der Elektrizität und ihrem Weiterleiten war wahrlich eine enorme Bereicherung. Ich war bis dahin nur mit Kerzen in den unterirdischen Gängen unterwegs gewesen. Du kannst dir sicher vorstellen, wie unheimlich das war, selbst wenn man die Räumlichkeiten kennt. Doch dann wurde die St. Mary’s Kirche nachgerüstet und überall wurde es plötzlich hell. Auch das Telefon war eine große Verbesserung und das Radio, wodurch es im neunzehnten Jahrhundert einfacher wurde, an Informationen zu gelangen. Nach und nach wurde unser Zuhause zu dem, wie du es heute kennst. Ich fand es äußerst interessant, wie sich um mich herum alles veränderte. Meine Lebensweise verbesserte sich und wurde angenehmer. Draußen vor den Toren meiner Kirche ging es weiter mit der Entwicklung. 1903 entwickelten die Gebrüder Wright das erste Flugzeug und erfüllten den Menschheitstraum vom Fliegen,” sagte ich und tippte mir nachdenklich ans Kinn. „Ich frage mich, wie es wohl ist…zu fliegen,” grübelte ich laut nach.
„Es ist ein tolles Gefühl!”, rief Ada plötzlich, und ich schaute zu ihr auf. Erstaunt blickte ich sie an und wartete darauf, dass sie weitersprach. „Nun ja, bis auf den Start, bei dem man in seinen Sitz zurückgepresst wird. Die Landung ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Und wenn es Turbulenzen gibt und es hin und her ruckelt, kriegt man es mit der Angst zu tun,” gestand sie.
„Mhh, ich hatte mir eigentlich einen etwas positiveren Bericht erhofft,” dachte ich und verzog vor Enttäuschung das Gesicht. Für so viele Menschen war es etwas gewesen, das sie unbedingt einmal erleben wollten. Jahrhundertelang hatten sie davon geträumt, sich in die Lüfte zu erheben und wie ein Vogel die Welt von oben zu betrachten. Aber den einzigen Eindruck, den ich davon erhielt, war, dass es eine unangenehme und unbequeme Sache war, bei der man wild durcheinander geschüttelt wird, als würde man auf den Rührstäben eines Mixgerätes sitzen.
„Aber abgesehen davon, ist es eine wirklich schöne Sache, dass man in kürzester Zeit von A nach B reisen kann,” warf Ada rasch ein, der mein skeptischer Gesichtsausdruck anscheinend nicht entgangen war. Sie sah mich mit einem freudestrahlenden Lächeln an und nickte vehement. Dennoch überzeugte es mich nicht. Ich hatte mir meine eigene Meinung bereits gebildet.
„Ich glaube, es ist schon ganz gut so, dass ich das niemals ausprobieren werde,” meinte ich trocken und fügte in Gedanken hinzu, „ebenso wie das Autofahren.” Denn auch dies war etwas, dass ich noch nie ausprobiert hatte und auch niemals würde tun können. Ich hatte noch nicht einmal in einem dieser Gefährte gesessen!
„Oh, aber es ist eine Erfahrung, die man wenigstens einmal in seinem Leben gemacht haben sollte. Wenn man die Wolken von oben sieht, ist das wirklich zauberhaft. Es sieht dann aus, als würde man auf riesige Wattefelder blicken. Man möchte die Hand ausstrecken und sie berühren. Und es ist wirklich interessant, die Landmassen, die man überfliegt, von oben zu sehen. Häuser, Autos und Menschen sehen dann aus wie winzige Spielzeugfiguren, und man kann sich vorstellen, wie man sie mit zwei Fingern packt und einfach an einen anderen Ort versetzt,” meinte Ada und gluckste vor Freude über diesen Gedanken.
Ich lächelte ebenfalls. Aber es hatte weniger mit ihren Worten zu tun als mit der Tatsache, dass ich sie, seitdem wir diese Unterhaltung begonnen hatten, zum ersten Mal fröhlich lachen sah, und ich hätte sie noch lange dabei beobachten können. Eine lächelnde Ada war mir weitaus lieber als eine ernste, nachdenkliche und vor allem abweisende Ada. Dieses kleine Wort „abweisend” ließ in mir wieder die Erinnerung an ihre Reaktion auf meine Berührung aufkommen, und abermals machte es mich traurig. Ich senkte den Kopf und blickte auf meine Hände, die auf meinem Bauch lagen. Die Finger waren verschränkt und verkrampften sich mehr und mehr, während ich immer wieder und wieder die Szene vor mir sah, wie Ada vor mir ausgerissen war. Ich presste die Zähne fest aufeinander und kämpfte gegen die Tränen an, von denen ich spürte, wie sie versuchten, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Angestrengt dachte ich darüber nach, was mich von den trüben Gedanken ablenken könnte und fand schließlich einen guten Anschluss an meine Erzählung. „Nicht nur die technischen Errungenschaften, auch die architektonischen Veränderungen sind bemerkenswert. Und erst die Kunst! Die großen Altmeister der Malerei, von Dürer, da Vinci, Michelangelo bis Raffael. Später dann Picasso, van Gogh und noch etwas später dann Kandinsky. Einfach wunderbar,” erklärte ich ihr. Die Werke der Künstler, die ich seit jeher bewunderte, vor meinem inneren Auge zu sehen, war eine gute Möglichkeit, um meine Gedanken wieder auf etwas anderes zu lenken. Die Unterschiede zwischen den Bildern faszinierten mich immer wieder aufs Neue. Es lag nicht nur an den verschiedenen Techniken der einzelnen Maler. Ich fand es bemerkenswert, wie sehr sie sich mit der Zeit verändert hatten. Nicht nur die Farben waren greller und bunter geworden, auch die Motive hatten sich sehr gewandelt. Heutzutage gibt es mehr abstrakte Bilder, die der Fantasie der Maler entspringen und ganz wunderbar dabei helfen, der Realität zu entfliehen. Doch einst hatten die Künstler das Leben selbst als ideales Motiv gewählt, wobei sich mir einige Werke aufdrängten, die das Elend zu Zeiten der Pestepidemien wahrheitsgetreu zeigten.