Читать книгу Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4) - Nadja Losbohm - Страница 16
14. Kapitel
Оглавление~ Pater Michael ~
„Wir reden schon seit Stunden. Es wird Zeit, dass du dich etwas ausruhst,” sagte ich. Mir war aufgefallen, wie klein Adas Augen geworden waren, je länger meine Erzählung andauerte. Und als würde sie mir meinen Verdacht bezüglich ihrer Müdigkeit bestätigen, gähnte sie. Eilig schlug sie sich die Hand vor den Mund und versuchte, es zu verstecken. „Tut mir leid,” entschuldigte sie sich für dieses Zeichen ihrer Erschöpfung und blickte auf ihre Bettdecke hinunter. Anscheinend dachte sie, dass ich ihr Gähnen als unhöflich abtun könnte. Dem war jedoch nicht so. Wahrscheinlich würde uns beiden eine Pause guttun. Ada brauchte Ruhe und musste sich ausruhen. Ich musste mich ebenfalls von den letzten Stunden erholen, in denen ich Ada alles über mich erzählt und Geheimnisse offenbart hatte, von denen sonst niemand wusste. Bisher hatte es nur einen Eingeweihten gegeben: mich. Nun waren es drei: Ada, ich und die Mauern der St. Mary’s Kirche. Das Erzählen hatte mich zwar nicht körperlich angestrengt, dennoch fühlte ich mich erschöpft und leer und brauchte wohl ebenso etwas Abstand wie Ada, damit ich über alles nachdenken und herausfinden konnte, wie ich damit umgehen sollte. Ich hatte gedacht, das Teilen der Geschichte meines Lebens würde uns einander näherbringen. Doch von dieser Wirkung spürte ich rein gar nichts, und bereits jetzt überlegte ich, ob ich ihr noch mehr erzählen sollte oder ob es genug war. Was sollte ich ihr auch noch erzählen? War nicht alles, was ich ihr jetzt noch sagte, bedeutungslos, jetzt wo sie über den dunkelsten Fleck auf meiner Seele Bescheid wusste? Und wenn ich ihr noch so viel von den guten Taten, die ich vollbracht hatte, erzählen würde, sie würden die Schlimmste nicht ausmerzen können, und in Adas Hinterkopf würde stets jedes Wort umhergeistern, das ich heute gesagt hatte. Für immer.
„Ist schon gut, Ada. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten muss, weil ich kaum einen Gedanken daran verschwendet habe, dass dich unsere Unterhaltung anstrengen könnte. Bitte verzeih mir meine Unachtsamkeit,” bat ich sie und sah ihr in die Augen. Sie begannen feucht zu glänzen, und ihre Kiefer pressten sich fest aufeinander, während sie gegen ein weiteres Gähnen ankämpfte. Ich musste über ihren kläglichen Versuch, es vor mir zu verbergen, lächeln. „Das war mein eindeutiges Stichwort,” bemerkte ich und stand auf. Ich lief um das Bett herum und stellte mich auf dessen rechte Seite.
Geduldig wartete ich, bis Ada sich hingelegt und die Decke über sich gezogen hatte. Ich beugte mich über sie und kontrollierte, ob Ada auch vernünftig zugedeckt war. Es war eigentlich völlig unnötig, aber ich wollte nicht, dass sie fror. Also nahm ich mir die Zeit, um die Lage der Decke zu kontrollieren und sie hier und da noch etwas dichter an Adas Körper zu drücken. Mir entging dabei nicht, wie sie jedes Mal, sobald sie meine Fingerspitzen auf sich spürte, zusammenzuckte. Sie versuchte ihr Unbehagen mir gegenüber zu verstecken, aber es war erfolglos. Ihr Gesicht verzog sich bei der Anstrengung, und in höchster Konzentration starrte sie vor sich hin, als würde sie ein Mantra sprechen, das aus den Worten bestand: „Bloß nicht bewegen, bloß nicht bewegen!“
Doch mit jedem Ausreißen ihres Körpers versetzte sie meinem Herzen einen erneuten Stich. Ich liebte Ada über alles, von ganzem Herzen. Doch wie sollte es mit uns weitergehen, wenn sie so abweisend auf mich reagierte?
„Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?”, fragte ich sie und nach einem Moment des Zögerns fügte ich hinzu, „mit uns?”
„Ja, sicher,” antwortete sie rasch, vermied es aber, mir dabei in die Augen zu sehen.
Ich wusste, dass sie log. Seufzend schloss ich die Augen und setzte mich auf die Bettkante, sehr genau darauf bedacht, Ada nicht zu berühren. „Ich werde dich jetzt etwas fragen, Ada, und ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest,” sagte ich und sah auf sie hinunter. Bei meinen Worten schluckte sie schwer und starrte weiter stur geradeaus. „Wird es zwischen uns irgendwann einmal wieder so sein, wie es vorher war? Bevor du alles über mich wusstest?”
„Ich weiß nicht, was du meinst. Wieso sollte sich etwas zwischen uns verändert haben?”, fragte sie zurück.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage, Ada!”, bemerkte ich scharf. Ich musste erst tief durchatmen, damit ich mich wieder beruhigte. Dann fuhr ich in einem sanfteren Ton fort: „Glaubst du denn, mir ist nicht aufgefallen, wie du mich angesehen hast? Denkst du, ich habe nicht gemerkt, wie du vor mir zurückgeschreckt bist? Du wirkst auf einmal so kalt und abweisend auf mich.”
Als sie dies hörte, veränderte sich Adas Gesicht und ihre Haltung. Zuvor war ihr Ausdruck hart, konzentriert und angestrengt gewesen. Ihr ganzer Körper hatte den Willen, sich nichts von der Abneigung anmerken zu lassen, widergespiegelt. Doch nun sackten ihre Schultern hinab, sie zog den Hals ein, ihre Gesichtszüge wurden weich und sie blickte beschämt auf den Stoff ihrer Bettdecke hinunter.
„Willst du wissen, was ich denke?“, fragte ich sie, wartete jedoch keine Antwort ab. „Ich denke, du kommst doch nicht so gut mit allem zurecht, mit dem, was ich getan habe, mit meinem Alter,” stellte ich fest und beobachtete sie aufmerksam. Ich zögerte, ehe ich meine anderen Gedanken aussprach. Aber der Zeitpunkt war gekommen, um Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten. „Du hast mich oft so merkwürdig angesehen, und ich frage mich, ob du dich vor mir ekelst. Oder vielleicht hast du Angst vor mir?”, fragte ich sie. Sofort schoss Adas Kopf hoch, und sie sah mich mit großen Augen an. Ihr Mund schnappte auf und zu, als sei sie empört darüber, dass ich auf solch eine Idee überhaupt gekommen war. Oder aber ich hatte den Nagel direkt auf den Kopf getroffen und es schockierte sie, dass ich, ohne dass sie etwas hatte sagen müssen, erkannt hatte, wie sie nun zu mir stand.
„So ein Quatsch! Ich finde dich weder eklig noch fürchte ich mich vor dir!“, antwortete sie entschieden und schüttelte dazu den Kopf.
Ich zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. Ungläubig musterte ich Ada und dachte über ihre Worte nach. Hielt sie mich wirklich für so dumm, dass ich glaubte, was sie soeben zu mir gesagt hatte? Doch nach einigen Momenten schien sie zu begreifen, dass sie mich nicht überzeugt hatte, und gab einen resignierten Seufzer von sich. Beschämt ließ sie den Kopf sinken und schaute auf ihre Hände hinunter.
„Also gut, ich gestehe es. Ich habe irgendwie schon ein Problem damit. Nicht mit den Dingen, die du getan hast, Michael, denn jeder hat irgendwann einmal irgendetwas getan, auf das er nicht stolz sein kann und das er niemandem anvertraut. Aber die Wahrheit über dein Alter macht mir doch zu schaffen. Ich kann es nicht begreifen. Es will einfach nicht in meinen Kopf hinein! Du bist um einiges älter, als ich gedacht habe. Ich hatte mit einigem gerechnet, aber nicht mit solch einer hohen Zahl. Ich meine, ich habe nichts gegen ältere Männer,” beteuerte sie und warf mir einen verunsicherten Blick zu, als wollte sie sich vergewissern, dass sie meine Gefühle nicht verletzt hatte. Aber sie brauchte sich deswegen keine Sorgen zu machen. Ich war vielmehr froh darüber, dass sie nun endlich offen sprach und ich ihre Gedanken verstand. Ich fand, es war ein kleiner Schritt hinzu auf eine Besserung unseres Verhältnisses, das seit Beginn meiner Erzählung angespannt war. Daher konnte ich über ihre Bemerkung, sie hätte nichts gegen ältere Männer, schmunzeln.
Ada schien erleichtert über meine Reaktion. Die Sorge um meine eventuell verletzten Gefühle wich aus ihrem Gesicht und sie lächelte ebenfalls. Doch damit nicht genug. Sie setzte ihrer vorherigen Aussage noch eines drauf. „Zum Glück siehst du nicht aus wie Methusalem. Dann wäre es schon etwas anderes. Aber ich bin echt froh, dass du einunddreißig warst, als Gott dich in diesem Alter und in dieser Gestalt,“ sie wedelte mit einer Hand vor mir auf und ab, „erstarren ließ. Nenn mich ruhig oberflächlich, aber es ist definitiv ein Plus.“ Ein schelmisches Zwinkern setzte dem Ganzen noch die Krone auf, und ich kam nicht mehr gegen das breite Grinsen an, das unter der Oberfläche auf seine Freilassung gewartet hatte.
„Danke. Ich bin überaus froh und erleichtert, dass du es so siehst,“ gab ich zurück. Gern hätte ich Ada, jetzt da das Eis zwischen uns gebrochen zu sein schien, an mich gedrückt. Aber ich befürchtete, dass sie wieder vor mir ausreißen würde, egal was gesagt worden war. Also hielt ich mich zurück und bemerkte, wie ihr Gesicht wieder ernst wurde. Abermals sah sie auf ihre Hände. Ich folgte ihrem Blick und beobachtete, wie sie den Zipfel ihrer Bettdecke zwischen den Fingern zwirbelte, bis der Stoff ganz zerknittert war. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme so leise wie ein Flüstern.
„Ich habe oft darüber nachgedacht, wie alt du sein könntest und nun merke ich, dass ich falschlag. Völlig falsch! Du bist ein wandelndes Lexikon der Weltgeschichte! Und wenn du möchtest, dass ich wirklich ehrlich bin, dann muss ich gestehen, dass ich wohl noch eine Weile brauchen werde, bis ich gänzlich mit dieser Tatsache zurechtkomme,” gestand sie und sah zu mir auf. Ihr Blick war zögernd, fragend und unsicher. Sie wirkte wie ein verängstigtes Kind. Ihr Anblick verstärkte in mir den Wunsch, sie zu halten und zu trösten, ihr zu sagen und zu zeigen, dass ich ihr wegen nichts böse war. Doch wieder hielt ich mich mit Zärtlichkeiten, die sie erschrecken konnten, zurück. „Aber nur damit dass du es weißt,” fügte Ada plötzlich hinzu und sah mich eindringlich an, „ich habe keine Angst vor dir und ekele mich auch nicht vor dir. Ganz ehrlich!”
Mit einem sanften Lächeln nickte ich und spürte, wie mir vor Erleichterung ein Stein vom Herzen fiel.