Читать книгу Die Jägerin - Unter der Erde (Band 4) - Nadja Losbohm - Страница 6
4. Kapitel
Оглавление~ Pater Michael ~
Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante und zog sie näher zu mir heran. Ich legte meine Hände auf ihre Arme und streichelte sanft an ihnen auf und ab. Bereitwillig gab ich ihr etwas von meiner Wärme ab. Ada zitterte am ganzen Körper. Ich hatte gewusst, dass sie noch schwach war, und ich war mir auch sicher, dass unser Geplänkel wegen ihres spärlichen Frühstücks sie angestrengt hatte. Sie musste aber auch immer versuchen, das letzte Wort zu haben! Jetzt zeigte sich, wie sehr sie noch immer unter den Folgen der Krankheit und ihrem Verweilen auf der anderen Seite litt.
„Ist dir wieder etwas wärmer?”, fragte ich besorgt. Ada nickte und lächelte mich an, aber ich sah, dass ihre Augen feucht glänzten. Sie war den Tränen nahe. Ich wartete darauf, dass sie mir verriet, wieso. Ich hatte gespürt, dass da noch etwas war, was sie tief bewegte und ihr Furcht einflößte. Doch sie schüttelte wortlos den Kopf und wandte sich wieder von mir ab. Ich ließ sie gewähren. Ich wollte sie nicht zu irgendetwas drängen, das sie nicht wollte.
Alles in mir sträubte sich dagegen, sie loszulassen. Liebend gern wäre ich dort sitzen geblieben, um sie festzuhalten, um ihr Sicherheit zu geben. Einfach um ihr nahe zu sein und ihren Herzschlag zu spüren. Aber es wurde Zeit, alles aus ihrem Zimmer zu schaffen, was uns an die Stunden erinnerte, in denen sie vergiftet gewesen und gestorben war. Wir sollten uns nur daran erinnern, dass sie zurückgekehrt und am Leben war.
Ich hatte sämtliche Gerätschaften und Materialien in unserem medizinischen Raum untergebracht. Es hatte nicht lang gedauert, bis ich alles aus Adas Zimmer geschafft hatte. Froh und erleichtert darüber, dass es dort wieder so aussah wie vor diesen tragischen Zeiten, kehrte ich an ihre Seite zurück. Sie lächelte, als sie mich erblickte. Ich fand, sie sah schon etwas besser aus als noch vor ein paar Minuten. Sie wirkte nicht mehr so bedrückt, und ich glaube, es war genau der richtige Zeitpunkt gewesen, ihr Zimmer wieder herzurichten.
Ich trat an ihr Bett und nahm ihr die Strickjacke, die sie nun wieder ausgezogen hatte, ab und verstaute sie im Kleiderschrank. Ich lief zu dem Sessel, der auf der linken Seite des Raumes stand, und schob ihn zu Adas Bett hinüber. Ich setzte mich hinein und rutschte noch etwas näher. Meine Ellenbogen stützten sich auf der Matratze ab, und ich verschränkte die Hände wie zum Gebet. Ich legte mein Kinn auf ihnen ab und schaute über sie hinweg zu Ada.
„Beginnt jetzt der Geschichtsunterricht?”, fragte sie mich mit einem Zwinkern.
Ich schmunzelte. „Bist du sicher, dass du das hören möchtest?”, fragte ich sie zurück. Ich war mir meiner Sache zwar absolut sicher, aber ich wusste nicht, ob auf Ada das Gleiche zutraf.
„Ich freue mich sehr, dass du das tun möchtest. Natürlich möchte ich das hören. Ich möchte ALLES hören,“ betonte sie, „ich bin doch so furchtbar neugierig.“ Ich nickte energisch und erntete dafür einen beleidigten Blick ihrerseits. „Und? Warst du nun König Artus‘ Lehrling?”, fragte sie mich unverblümt.
Ich nahm das Kinn von meinen Händen und setzte mich in dem Sessel zurück. „Nicht ganz. Artus war vor mir. Ich wurde 982 geboren,” antwortete ich ihr. Ich sagte es mit vorsichtiger, leiser Stimme. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht dachte ich tief in meinem Inneren, dass es auf diese Weise weniger schockierend sein würde, anstatt es voller Inbrunst hinauszuschreien. Aufmerksam beobachtete ich Ada. Ich war gespannt auf ihre Reaktion. Ein bisschen Angst hatte ich dabei allerdings auch.
Ada starrte mich mit großen Augen an. Ich gab ihr einen Moment Zeit, mein Gesicht zu mustern. Sie tat es mit unverhohlenem Staunen. Ich musste mich zwingen, dabei ernst zu bleiben, während sie nach Spuren, die auf mein sagenhaftes Alter hinwiesen, suchte. Ich wünschte, ich hätte in diesem Moment ihre Gedanken lesen können. Ich wollte so gern wissen, was sie dachte. Rechnete sie gerade nach? War sie einfach nur überrascht oder doch entsetzt? Sie schwieg lange und betrachtete mich wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. „Geht es dir gut?”, fragte ich sie.
„Mhh, ja,” antwortete sie mir knapp.
Diese Aussage überzeugte mich keineswegs. „Das hattest du nicht erwartet, oder?” Es war eine Feststellung, die ich äußerte, und keine Frage.
Ada schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände hinunter, deren Finger sie verschränkt hatte. Sie presste die Spitzen abwechselnd aneinander. Ihre Daumen spielten ein schwindelerregendes Spiel. „Ich kann kaum glauben, dass ich hier einen Zeitzeugen vor mir zu sitzen habe, der mehr als eintausend Jahre Weltgeschichte miterlebt hat,” bemerkte sie nachdenklich. Ihre Augen huschten zu mir. Wir sahen uns nur kurz an. Ada wandte schnell wieder den Blick auf ihre Hände. Bisher hatte sie nie den Eindruck erweckt, dass es ihr unangenehm sei, mir in die Augen zu sehen. Ich hatte eigentlich immer geglaubt, dass sie mich gern anblickte. Aber das hatte sich nun geändert, so schien es. Plötzlich bereitete es ihr Unbehagen, einem Mann in die Augen zu sehen, der eine wandelnde Mumie war, die atmete und deren Herz schlug. Eine Unnatürlichkeit. Eine Abnormität.
Ich musste über meine eigenen Gedanken höhnisch lachen. Ich selbst hatte diese Situation herausgefordert. Ich konnte Ada keinen Vorwurf machen, dass sie mir nun, wo sie die Wahrheit kannte, mit Zurückhaltung begegnete. Aber ich…nein, wir beide mussten beenden, was wir angefangen hatten. Ich war bereit, ihr alles über mich zu erzählen. Sie hatte mir gesagt, sie wolle es hören. Ich räusperte mich und rutschte auf dem Polster des Sessels herum, bis ich bequem saß. „In der Tat,” ging ich auf ihre Äußerung ein, „ich lebte zu Zeiten der Kreuzzüge im elften Jahrhundert.“
Ich hielt inne und blickte zu Ada auf, als ich hörte, wie sie den Atem scharf einzog. Mit großen Augen betrachtete sie mich. Ich sah sie fragend an und bereitete mich innerlich darauf vor, dass sie mir sagte, ich solle aufhören. Doch sie tat es nicht, sondern lehnte sich in ihren Kissen zu mir herum, damit sie mich besser ansehen konnte. Sie lächelte aufmunternd und nickte. Ich hatte ihre Erlaubnis, mit meiner Erzählung fortzufahren. Ich entspannte mich wieder etwas und sprach weiter. „Ich lebte zu Zeiten König Richard Löwenherz, dessen Bruder Prinz John sich 1192 den Thron unter den Nagel riss. Ich lebte zu Zeiten Kaiser Friedrichs II, als dieser einen zehnjährigen Waffenstillstand mit den Arabern aushandelte und somit die heiligen Stätten für die christlichen Pilger gesichert wurden. Das war im dreizehnten Jahrhundert. Ich lebte, als der hundertjährige Krieg begann und ich lebte, als er endete. Ich lebte während der sogenannten Rosenkriege zwischen den Häusern Lancaster und York im Jahre 1455. Es ist eine lange Liste von Ereignissen und ein enormer Wandel der Welt, den ich miterlebt habe. Aber was bedeuten all diese Erlebnisse und Erfahrungen schon, wenn man sie mit niemand teilen kann. Das habe ich in dem Moment erkannt, als du gestorben bist. Ich habe es so sehr bereut, dir nicht mehr über mich erzählt zu haben. Deshalb möchte ich dir von meinem Leben berichten. Ich möchte es mit dir teilen. Alles! Mein ganzes Leben lang habe ich im Verborgenen gelebt, mich gewehrt gegen zu viel Nähe. Meist ist es mir geglückt, aber eben nicht immer. Du hast meine Welt auf den Kopf gestellt. Es brachte mich oft durcheinander, aber ich sehe darin nur Gutes. Du hast das Licht zu mir zurückgebracht. Du hast mich die Liebe erleben lassen und gelehrt, was Aufopferung bedeutet. Ich lebe seit mehr als eintausend Jahren, aber die Dinge, die ich mit dir erfahren durfte, erlebe ich zum ersten Mal.”