Читать книгу Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5) - Nadja Losbohm - Страница 10
7. Hand trifft Wand – oder auch umgekehrt
ОглавлениеIn den folgenden Tagen ließ ich die Dehnübungen und Massagen brav und kommentarlos über mich ergehen. Ich war froh, dass sich die Erfolge dieser Behandlungen schon bald zeigten. Ich konnte wieder meine Arme und Beine bewegen, selbstständig ein Glas Wasser festhalten und aus dem Bett steigen. Ich war zwar noch nicht bereit, um bei einem Marathon mitzulaufen, aber kleine Spaziergänge durch mein Zimmer schaffte ich allemal. Alles Weitere, wie zum Beispiel wieder auf die Jagd gehen, würde ich erst wieder tun können, wenn ich meine Muskeln mit ausreichend Training gekräftigt hatte.
Pater Michael wollte mich noch nicht so zeitig mit den Hanteln üben lassen, aber ich kaute ihm so lange ein Ohr ab, bis er es mir erlaubte. Vielleicht hatte er auch einfach nur ein schlechtes Gewissen, weil er mich, hilflos wie ich gewesen war, aus dem Bett gezerrt hatte, und gab deshalb nach. Aber egal aus welchem Grund er mich trainieren ließ, ich war wahnsinnig froh darüber, dass ich aus meinem Zimmer kam und etwas mehr tun konnte, als Arme und Beine zu strecken und zu beugen oder mich durchkneten zu lassen. Natürlich fiel mir zunächst selbst das Anheben der kleinsten Gewichte schwer, und ich kam mir vor wie zu meinen Anfangszeiten, als ich noch das Dreifache von dem gewogen hatte, was ich jetzt mit mir herumtrug. Aber mit jedem Tag wurde ich besser, und ich kam allmählich wieder in Form. Natürlich überprüfte ich auch das, was ich schon seit langem überprüfen wollte, aber nicht imstande gewesen war zu tun. Ich hatte mich innerlich immer noch nicht damit abgefunden, dass ich wieder eine Durchschnittsjägerin sein sollte, also musste der ultimative Test her. Pater Michael durfte davon selbstverständlich nichts erfahren, also zog ich mich ins Wohnzimmer zurück. Der Raum war groß genug, um meine Super-Geschwindigkeit auf den Prüfstand zu stellen.
Ich stellte mich an die Wand, an der das Sofa stand, mit Blick auf die Bibeln, die auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers in ihrem Regal standen. Mein Denken wurde nur von einer einzigen Sache beherrscht: so schnell wie der Wind zu rennen! Leise murmelte ich die Worte vor mich hin. Immer und immer wieder. Als ich bereit war, stieß ich mich vom Boden ab und rannte los…und war so lahm wie eh und je! Enttäuscht stampfte ich mit dem Fuß auf und fluchte in einem fort. Man müsste meinen, dies sei Beweis genug gewesen, dass ich wieder normal war. Aber da ich stur bin, versuchte ich es mit einem letzten Test. Meine Super-Ohren und die Super-Schnelligkeit hatte ich definitiv verloren. Es blieb noch die Super-Kraft. Ich stellte mich also zurück an die Wand auf der rechten Seite des Wohnzimmers und ballte meine Hand zu einer Faust. Ich streckte meinen Arm durch, um den Abstand zur Wand zu testen, ging noch ein kleines Stückchen zurück und wiederholte den Test. Nun war es gut. Es konnte losgehen.
Ich atmete tief ein und aus und machte mich bereit, meine Faust in die Wand zu rammen. Ich zählte bis drei.
Eins.
Zwei.
Drei.
Bäm!
Die Wand hatte sich in meine Faust gerammt. Es ist unnötig zu sagen, dass es mir anders herum lieber gewesen wäre!
„Scheiße, scheiße, scheiße!”, presste ich zwischen den Zähnen hervor, klemmte mir meine schmerzende Hand zwischen die Knie und hüpfte im Kreis herum.
„Was machst du denn da?”
Ich wirbelte erschrocken herum und versuchte an den Tränen, die mir vor Schmerzen in die Augen getreten waren, vorbeizublinzeln und den Padre zu erkennen. Als ich einigermaßen klare Sicht hatte, sah ich, dass er sich breitbeinig in der Tür aufgebaut hatte und meine sich krümmende Gestalt anstarrte. Wie lange stand er denn schon dort? Ich hatte nicht einmal gehört, wie die Tür geöffnet worden war. Aber dann fiel mir der Lärm ein, den meine knackenden Knochen von sich gegeben hatten, als sie auf die Mauer getroffen waren, was sicherlich alle anderen Geräusche übertönt hatte. Wahrscheinlich war es sogar lauter gewesen, als alle Kirchturmglocken dieser Stadt zusammen!
„Was wolltest du damit erreichen?”, wollte er wissen.
„Ich wollte etwas testen. Du solltest gar nichts davon erfahren,” meinte ich anklagend. Es war schließlich nicht nur meine Schuld, dass mein heimlicher Crashtest aufgeflogen war! Aber dann sah ich den Blick, den er mir zuwarf und der ausgesprochene Worte überflüssig machte. Ich wusste sofort, was er mich im Stillen fragte: „Und wie wolltest du es mir später erklären, dass du deine Hand nicht benutzen kannst?” Nun, meine Fantasie ist sehr ausgeprägt. Mir wäre da schon irgendetwas eingefallen.
„Dann warst du also darauf aus, dir sämtliche Knochen in deiner Hand zu brechen,” mutmaßte er und kam eilig zu mir herüber gelaufen. „Musste dein Körper nicht schon genug leiden, Ada? Musst du ihm nun auch noch das zumuten? Zeig her!”, verlangte er nach meiner Hand, wartete aber nicht darauf, dass ich sie ihm gab, sondern zog sie zwischen meinen Knien hervor. Schnell umfasste er das Handgelenk und zog meinen Arm dichter an sein Gesicht.
„Au, au, au!”, jammerte ich und zog scharf den Atem ein.
„Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Ada!”, schnauzte er mich an und befühlte meine Finger. Er streckte und beugte sie vorsichtig, um zu testen, ob sie gebrochen waren. „Wie kann man nur so dumm sein?”, murmelte er fassungslos vor sich hin und besah sich mit finsterem Blick weiterhin meine Finger.
„Du hast gut reden, du Super-Krieger!”, entgegnete ich ihm mürrisch.
„Wie bitte?”
„Du hast mich schon verstanden!”, sagte ich und blickte trotzig zu ihm auf. „Ich wollte nur testen, ob ich wirklich alle meine Super-Kräfte verloren habe. Ich weiß, dich freut es, dass ich wieder ein normales, verletzliches Menschlein bin und du immer noch wahnsinnig stark, schnell und unverwundbar bist. Nicht einmal die Vampire können dir etwas anhaben!”, rief ich frustriert aus. Ich fand es ungerecht, dass der Herr ihn so gut ausgestattet hatte und mir meine supertollen Fähigkeiten schon nach so kurzer Zeit wieder weggenommen hatte. „Du bist der ultimative Jäger, Michael. Wir sollten die Plätze tauschen! Ich bleibe ab sofort hier in der Kirche und du gehst auf Monsterjagd,” schlug ich ihm vor und meinte es vollkommen ernst! Ich steckte die meiste Prügel ein, verfügte aber nicht über übermenschliche Kräfte, während er den Großteil seines ewigen Lebens sitzend und Däumchen drehend verbrachte!
„Sieht das,” er deutete auf die noch nicht vollständig verheilte Wunde auf seiner Wange, die zwischen den dunklen Barthaaren tiefrot aufleuchtete und wohl für immer dort zurückbleiben würde, „für dich aus, als wäre ich unverwundbar? Und was ist mit dem hier?“ Er zog den Priesterkragen beiseite und deutete auf die Stelle, an der ihn die Vampir-Lady gebissen hatte. Noch immer waren dort zwei rote Punkte, umgeben von einem Blau, zu sehen, die sich von denen an meinem Hals nicht großartig unterschieden. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis sie gänzlich verschwunden waren und uns nicht mehr daran erinnerten, was geschehen war? „Ich bin nicht unverwundbar, Ada, und schon gar nicht, wenn ich mich außerhalb dieser Kirche befinde.”
„Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Vampire nicht von deinem Blut trinken können. Was würde ich dafür geben, wenn das bei mir auch so wäre! Jahre habe ich es geschafft, dem Biss eines Vampirs zu entgehen, aber dann gelang es dieser Élodie doch, und es hat ihr wirklich sehr geschmeckt! Zum Glück nahm sie nur eine kleine Kostprobe, und ich bin geneigt zu sagen, dass ich dankbar für ihre Zurückhaltung bin, sonst wäre ich wohl gestorben und hätte mich selbst in eine wandelnde Leiche verwandelt,“ meinte ich und erschauerte.
„Du verwandelst dich nur in einen Vampir, wenn du selbst Vampirblut im Körper hast und dann stirbst,“ erklärte mir Pater Michael, hielt inne und beäugte mich misstrauisch. „Du hast doch nicht, oder?“, fragte er.
Mit großen Augen sah ich ihn an. Dann schüttelte ich energisch den Kopf. „Oh Gott, nein!“, rief ich aus und fügte murmelnd hinzu, „zumindest weiß ich davon nichts, aber ich bin auch nicht gestorben.“ Das entsprach der Wahrheit, aber wie knapp war ich daran vorbeigeschrammt? Nicht auszudenken, was nun wäre, hätten mir die Vampire ihr Blut eingeflößt und mich verhungern und verdursten lassen! Dann würde es jetzt heißen: „Ende! Aus! Vorbei, sterbliches Leben. Hallo, untote Ada!“
„Vampirblut im Körper hin oder her! Du weißt, wie sehr ich mich vor ihnen fürchte, Michael. Zu wissen, dass mein Blut für diese Untoten Gift wäre, würde mir ein Stück mehr Sicherheit geben,” verriet ich ihm und seufzte bei dieser wunderbaren Vorstellung.
„Mag sein. Dennoch kann ich die St. Mary’s Kirche nur für sechzig Minuten verlassen, und diese Tatsache ändert alles!”, erwiderte er, während er vorsichtig über die Knöchel meiner Finger strich. „Es gibt nun einmal Kompromisse, die man eingehen muss, und es gibt immer Nachteile. Gut möglich, dass ich der am besten geeignete Jäger wäre, aber es ist, wie es ist. Und du, junge Dame,” er sah mich eindringlich an, „hast Glück gehabt. Es ist nichts gebrochen. Aber du solltest deine Hand gut kühlen.”
Ich nickte heftig mit dem Kopf und sah ihn flehentlich an, damit er meine Hand wieder freigab. Auch wenn er vorsichtig gewesen war, jede Berührung war unangenehm, und damit er mich losließ, hätte ich alles gesagt und getan. Sobald er seine Hände von mir genommen hatte, drückte ich den Arm an meine Brust und legte meine unverletzte Hand schützend über die immer noch schmerzenden Finger. Auf gar keinen Fall sollte er sie noch einmal antatschen! „Wieso treibst du dich eigentlich hier unten herum? Wolltest du nicht in deinem Büro arbeiten?”, fragte ich Pater Michael und hängte mich an dessen Fersen, die das Wohnzimmer verließen.
„Ich treibe mich nicht herum!”, korrigierte er mich und sah, ohne dabei stehen zu bleiben, über seine Schulter zu mir nach hinten. „Ich bin mit meiner Arbeit fertig. Ich schrieb an meiner Predigt, und dabei fragte ich mich, ob du bei dem morgigen Gottesdienst anwesend sein würdest,” erklärte er mir.
Verblüfft blieb ich vor der Tür meines Schlafzimmers stehen. „Morgen?”
Meine Frage schien Pater Michael zu verwirren, denn er blieb wie angewurzelt an der Küchentür stehen und drehte sich zu mir herum. Verwundert sah er mich an und erklärte mir: „Morgen ist Sonntag, Ada.”
„Tatsächlich?!”, fragte ich und staunte wieder einmal darüber, wie nahtlos die Tage manchmal ineinander übergingen.