Читать книгу Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5) - Nadja Losbohm - Страница 6
3. Alles wieder komplett
ОглавлениеSie tat es in der Tat, denn als ich die Augen aufschlug, fand ich Pater Michael in dem Sessel neben meinem Bett sitzend vor und musste feststellen, dass er die Kleidung gewechselt hatte und seine Wunden versorgt waren. „Hatte er nicht gesagt, er würde die ganze Zeit über bei mir bleiben?”, fragte ich mich und überlegte, wie er an die schwarze Stoffhose und das weiße Hemd gekommen war, unter dessen hochgekrempelten Ärmeln die Verbände hervorlugten. Und wer hatte die Wunde auf seiner Wange genäht? Vielleicht war Dr. Fields, unser Arzt des Vertrauens, hier gewesen und hatte sich um den Pater gekümmert? Aber um ehrlich zu sein, hatte ich den Padre selbst unter Verdacht, dass er zu Nadel und Faden gegriffen und die Schnitte und Kratzer eigenhändig genäht hatte. Vermutlich hatte er dazu die Wunde nicht einmal vorher betäubt. Ich traute es ihm durchaus zu, und ich wunderte mich bei ihm über rein gar nichts mehr! Lächelnd schüttelte ich den Kopf bei dem Gedanken daran und seufzte. Das Geräusch war nicht besonders laut gewesen, dennoch hatte es das Bewusstsein des Paters erreicht, und sein Kopf, den er nach hinten gegen die Lehne gelegt hatte, ruckte herum und kam auf seiner rechten Wange zu liegen. Eine dunkle Haarsträhne löste sich aus dem Knoten, den er sich im Nacken gebunden hatte, und fiel ihm ins Gesicht. Sie reichte über die Wange bis hin zu seinem Mund, wo ihre Spitze gegen den Mundwinkel stieß. „Er sieht wirklich süß aus,” schoss es mir durch den Kopf, und unwillkürlich musste ich daran denken, dass ich all das beinahe nicht mehr zu sehen bekommen hätte. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, und Tränen stiegen in mir auf. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte mich freuen, dass ich hier war und wir wieder zusammen waren. Also atmete ich tief durch, blinzelte die Tränen fort und ließ meine Augen weiterhin über die schöne Gestalt des Paters wandern, von den langen ausgestreckten Beinen bis zu den auf dem Bauch liegenden gefalteten Händen.
Ich schwelgte in dem wunderbaren Anblick dieses Mannes und war ganz in meine Gedanken versunken, als mich plötzlich das Geräusch der sich öffnenden Zimmertür ins Hier und Jetzt zurückholte. Erschrocken drehte ich mich in meinem Bett herum. Ein unfassbarer Schmerz durchfuhr meinen Körper von Kopf bis Fuß und ließ mich scharf den Atem einziehen. Ich brauchte einen Moment, um mich davon zu erholen, und als ich wieder klar denken konnte, stellte ich überrascht fest, dass sich mein Bruder zu uns gesellt hatte. Ich hatte angenommen, er wäre bereits gegangen. Aber nun fragte ich mich, wo er die ganze Zeit über gesteckt hatte. Wo hatte er die letzten Stunden verbracht? Hatte er in Pater Michaels Zimmer geschlafen? Hatte er überhaupt geschlafen? Seinen roten Augen nach zu urteilen wohl eher nicht.
„Du bist wach,” bemerkte er erstaunt.
„Psst!”, machte ich und versuchte, ihn mit meinen Augen auf den schlafenden Pater aufmerksam zu machen.
Alex verstand mich und trat vorsichtig ins Zimmer ein. „Wie fühlst du dich?”, wollte mein Bruder wissen und blickte besorgt auf mich hinab, als er neben dem Bett zu stehen kam.
„Meine Arme und Beine tun unfassbar weh! Jede Bewegung verursacht mir Schmerzen. Ich habe das Gefühl, dass es seit meiner Rückkehr noch schlimmer geworden ist,” antwortete ich ihm im Flüsterton. Das Sprechen fiel mir heute schon etwas leichter. Die Rauigkeit in meinem Hals war weniger geworden.
Alex verzog skeptisch den Mund, offenbar unschlüssig, was er von meiner Aussage halten sollte. Er wandte den Blick von mir ab und starrte auf den Boden. Unsicher vergrub er die Hände in den Hosentaschen und zog vor Anspannung die Schultern nach oben. Ich war nicht gut darin, die Körpersprache anderer zu lesen, und daher fragte ich mich, was sein merkwürdiges Verhalten zu bedeuten hatte. „Deine Waffen sind allesamt wieder da,” teilte er mir mit, beugte sich plötzlich nach unten und hob etwas auf. Als er wieder hochkam, sah ich mein Schwert in seinen Händen liegen.
Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Es war eine übertriebene Reaktion und absolut albern, wegen einem Schwert in Tränen auszubrechen, aber ich liebte dieses Schmuckstück so sehr! Es war mein ständiger Begleiter gewesen, mein Freund und Helfer in der Dunkelheit. Ich wollte so gern meine Hand danach ausstrecken und es an mich drücken, aber als ich es versuchte, stockte mir der Atem vor Schmerzen, und ich gab es seufzend auf. Mürrisch starrte ich zur Zimmerdecke hinauf und fragte mich, wie es mit mir weitergehen sollte. Ob ich mich jemals wieder würde normal bewegen können? Vielleicht waren meine Muskeln einfach zu sehr verkümmert und erholten sich nie mehr von den Quälereien?
„Das wird schon wieder werden,” flüsterte Alex.
Erstaunt sah ich in an. Er lächelte. Er wusste, was in mir vorging, und als würde er mich damit trösten wollen, legte er mir plötzlich mein Schwert auf die Brust. Ich senkte meinen Kopf etwas, um es besser sehen zu können, und versuchte erneut, es mit den Händen zu berühren. Ich war froh darüber, dass mein Bruder mir dabei half, und allmählich schafften wir es gemeinsam, dass ich mein Schwert freudig umarmen konnte. „Wie ich dich vermisst habe!”, entfuhr es mir viel zu laut. Ich war einfach überglücklich! Doch ich hatte nicht bedacht, dass es Pater Michael wecken könnte, wenn ich hier herumschrie.
„Was? Was ist los?”, rief er aus und schoss so heftig aus dem Sessel hoch, sodass er ihn nach hinten gegen die Wand stieß und es laut polterte. Mit wildem Blick schaute er sich im Zimmer um und fand schließlich Alex und mich, wie wir ihn mit großen Augen anstarrten.
„Es ist alles okay, Michael,” versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Wieso hast du dann geschrien?”, fuhr er mich unsanft an.
„Es war ein Freudenschrei,” antwortete ich und erntete nur noch mehr verwirrte Blicke. „Ich habe mein Schwert zurück,” fügte ich daher hinzu und nickte mit dem Kopf in Richtung meiner Brust, wo mein Schmuckstück lag.
Pater Michaels Augen folgten meinem Hinweis, dennoch schien er die Situation nicht zu begreifen. „Wer hat es hierhergebracht?”, wollte er wissen und sah abwechselnd von mir zu Alex.
„Ist doch egal! Hauptsache es ist wieder da!”, meinte ich freudestrahlend und versuchte, mein Schwert zu knuddeln. Wieder durchfuhr mich ein stechender Schmerz, aber das Glück überwog und half mir dabei, die Pein zu ertragen.
„Ich habe es hergebracht,” hörte ich Alex’ Stimme plötzlich sagen und schaute überrascht zu ihm auf. „Auch die anderen Waffen sind hier,” verriet er uns, beugte sich erneut hinunter und zeigte uns nacheinander die Pistole, meinen Bogen, die Pfeile und Messer. Außerdem hielt er noch meinen Mantel hoch und selbst mein Mobiltelefon. Nachdem wir alles begutachtet hatten, legte er die Sachen wieder auf den Boden und blickte unsicher von mir zu Pater Michael. „Nun ja, die Männer vom Aufräumkommando, die Sie mir aufgetragen hatten zu rufen, sammelten all die Dinge ein und übergaben sie mir,” erklärte Alex und sah zu mir hinunter.
Mit einem Lächeln nickte ich ihm zu und drehte überglücklich meinen Kopf zu Pater Michael, damit ich meine Freude mit ihm teilen konnte. Für mich fühlte sich alles wieder komplett an. Doch anscheinend war ich die Einzige, die Hochgefühle empfand, und ich wunderte mich, wieso der Padre Alex mit zusammengekniffenen Augen anstierte und genau prüfte, ob mein Bruder die Wahrheit gesagt hatte. Nach etlichen langen Minuten, in denen niemand ein Wort gesprochen hatte, räusperte sich Pater Michael und sagte kurz und knapp: „Danke, Alex.” Dann kam er zu mir herübergelaufen und setzte sich auf die Bettkante. „Wie geht es dir, Ada?”, fragte er mich und tat so, als wäre Alex nicht anwesend.
Noch immer verwirrt von seinem Benehmen, stotterte ich: „Gut, gut…ich…äh…es geht mir gut.”
Pater Michael nickte zufrieden, nahm meine Hand und küsste sie sanft. „Hast du Hunger? Ich mache dir etwas zu essen. Du brauchst dringend etwas, damit du wieder zu Kräften kommst,” meinte er, ohne auf meine Antwort zu warten, und küsste erneut meine Hand. Schnell erhob er sich von meinem Bett und durchquerte mit langen Schritten das Zimmer. Ohne meinen Bruder auch nur anzusehen, schob er sich an ihm vorbei durch die Tür und verschwand.
„Bitte keine Reiswaffeln! Bitte keine Reiswaffeln!”, murmelte ich und hörte ein Lachen, das vom Gang zu uns herein hallte. Offenbar hatte ich die Schnelligkeit, mit der ich ihn sich hatte bewegen sehen, überschätzt, und er war doch noch nicht weit genug entfernt gewesen, um mein Flehen zu überhören.
Verlegen lächelte ich Alex an. Mit einem Grinsen zwinkerte er mir zu und setzte sich auf die Bettkante. Er nahm mir das Schwert aus den Armen und legte es behutsam auf den Boden. Schweigend betrachtete er mein Gesicht und strich vorsichtig über meinen Arm. „Du musst viel üben, damit sich deine Muskeln wieder erholen und daran gewöhnen, dass sie wieder belastet werden,” meinte er und sah mich eindringlich an.
Ich nickte. „Ja, Herr Doktor.”
Alex lächelte, ließ meinen Arm los und richtete seinen Blick auf die Bettdecke. „Wo wir gerade vom Üben sprechen. Ich habe mich dazu entschlossen, in das Geschäft der Jäger einzusteigen,” verkündete er mit fester Stimme, vermied es aber, mich dabei anzusehen. Erst als er hörte, wie ich nach Luft schnappte, hob er seinen Blick zu mir.
„Bist du verrückt geworden?”, schrie ich ihn an, wobei meine Stimme sich überschlug und auf eine merkwürdige, mir fremde Art piepste. „Du redest davon, als wäre es so etwas wie ein Limonadenstand, den du am Straßenrand aufstellen und pro erbrachte Leistung fünfzig Cents haben willst! Auf gar keinen Fall, steigst du mit ins „Jäger-Geschäft” ein!”, wiederholte ich seine absurden Worte, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich die Gänsefüßchen in die Luft gemalt, damit er verstand, wie lächerlich es klang. Ich hätte ihm auch wahnsinnig gern eine runtergehauen, damit er wieder zu Sinnen kam. Sein Glück, dass meine Arme dafür viel zu steif waren und wehtaten! „Das lasse ich nicht zu, Alex!”, sagte ich entschieden, erntete von meinem Bruder aber nur ein höhnisches Lachen.
„Du lässt es nicht zu? Was willst du dagegen tun? Wie willst du mich denn aufhalten? Herrje, Ada! Wieso bist du nur so stur? Warum siehst du nicht, dass du Hilfe brauchst?”, fragte er mich aufgebracht.
„Ich brauche keine Hilfe!”, fuhr ich ihn an, und als eine Erinnerung in mir hochkam, fügte ich hinzu, „jedenfalls nicht von dir!”
Alex presste die Zähne fest aufeinander und funkelte mich wütend an. „Was soll das denn bedeuten? Bin ich dir nicht gut genug?”
„Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich vor nicht allzu langer Zeit unzählige Male deine Nummer gewählt habe und du nichts von mir wissen wolltest! Wieso solltest du plötzlich jetzt von mir etwas wissen wollen?”, fragte ich ihn verärgert.
„Darum geht es dir? Um ein paar unbeantwortete Anrufe?”, wollte er wissen, verstummte jedoch, als er Schritte hörte. Alex drehte sich herum und blickte zur Tür, in der Pater Michael auftauchte. Mit einem Tablett auf den Händen blieb er im Rahmen stehen und musterte uns beide mit versteinerter Miene. „Ich kann euch in der ganzen unterirdischen Anlage schreien hören. Was ist hier los?”, fragte er und kam langsam zu uns herüber. Er stellte das Tablett auf den Nachttisch und goss ein Glas Wasser ein. Er trat noch einen Schritt näher und verdrängte Alex von seinem Platz, der sich erhob und zurückzog, während Pater Michael mir dabei half, mich aufzusetzen. Es war ein Leichtes für ihn, mich unter den Armen zu packen und anzuheben. Als ich mit den Kissen im Rücken saß, setzte er mir das Glas an die Lippen und half mir beim Trinken, weil ich das Glas nicht hätte allein festhalten können. Nachdem ich das Glas halb leer getrunken hatte, stellte Pater Michael es zurück auf das Tablett.
„Alex hat sich dazu entschlossen, ins „Jäger-Geschäft” einzusteigen. Ist das nicht schön?”, fragte ich den Padre mit einem sarkastischen Unterton.
„Mhh,” machte er nur, was absolut nichts darüber aussagte, was er über diese Sache dachte. Statt sich dazu zu äußern, hielt er mir ein Sandwich vor die Nase und sagte: „Iss!” Gehorsam biss ich in das Brot, das mit Käse und Salat belegt war. Immerhin besser als aufgeplatzte Reiskörner!
„Ich habe da einen wirklich großen Fisch am Haken,” meldete sich mein Bruder zurück und lehnte sich um Pater Michael herum, um mich anzusehen. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung auf.
Ich schluckte den letzten Happen hinunter und versuchte, das Grünzeug mit der Zunge zwischen meinen Zähnen herauszuziehen. „Großer Fisch? Haken? Wir sind doch hier nicht in der Drogenszene. Ich will davon nichts hören, Alex! Du mischst dich da nicht ein! Ich will nicht, dass du untrainiert durch die Straßen ziehst und dich freiwillig den Monstern zum Fraß vorwirfst!”
„Trink!”, forderte mich Pater Michael auf und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Verwirrt blickte ich zu ihm auf. Mit seinen monotonen Befehlen brachte er mich völlig durcheinander. Trotzdem gehorchte ich. Außerdem schüchterte mich sein finsterer Blick und die strengen Gesichtszüge ein, und ich befürchtete, er würde mir mit dem Glas die Zähne einschlagen, sollte ich nicht das tun, was er verlangte. Also öffnete ich den Mund, machte „Ah“ und ließ ihn Wasser in mich hineinschütten.
„Ich will mich ihnen gar nicht „zum Fraß anbieten“!”, sagte mein Bruder und malte Gänsefüßchen in die Luft. „Ich bin auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit, dir zu helfen,” erklärte er mir.
Verwundert über seine Worte schüttelte ich den Kopf und sah Pater Michael grimmig an, der mir ein zweites Sandwich vor die Nase hielt. Es nervte mich, dass er ständig dazwischenfunkte, während ich mich gerade so schön mit meinem bescheuerten Bruder stritt! Als ich mich weigerte abzubeißen, verzog der Padre missbilligend den Mund. „Später,“ presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und beobachtete zufrieden, wie er mein Essen zurück auf den Teller legte. Mit verschränkten Armen vor der Brust postierte er sich neben meinem Bett und blickte über meinen Kopf hinweg auf die andere Seite des Zimmers. „Schluss damit, Alex! Es reicht!”, donnerte ich. „Ich will nichts mehr davon hören! Du hältst dich da raus. Du hältst dich auch von den Monstern fern, und das schließt sämtliche Arten ein, auf die man sich von einer Sache fernhalten kann, klaro?!”, sagte ich.
Alex funkelte mich noch für einen Moment wütend an, dann senkte er den Blick auf seine Schuhe und grummelte unverständliche Worte vor sich hin. Ich nehme mal an, es waren irgendwelche Flüche, die auf meinen Sturkopf abzielten. Aber da ich sie nicht verstehen konnte, kümmerten sie mich auch nicht wirklich. Doch am Ende erhob Alex die Stimme und sagte laut und deutlich: „Damit ist dann meine Aufgabe hier wohl erfüllt, so scheint es.” Rasch schob er Pater Michael aus dem Weg, beugte sich zu mir hinunter und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Ich hoffe, du erholst dich schnell, Schwesterchen. Ich melde mich wieder bei dir,” sagte er in einem beifälligen Ton, richtete sich auf und reichte dem Padre förmlich die Hand. Dann drehte er sich um und verschwand aus dem Zimmer.