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2. Das elfte Gebot

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Es ist ein äußerst seltsames Gefühl, wenn man von einem anderen Menschen abgetrocknet wird. Was bei Eltern, die sich um ihr Kind kümmern, eine Normalität ist, brachte mich gleichzeitig zum Kichern und Erröten. Ich musste lachen, weil mich die sanften und langsamen Berührungen des Paters in der Achselhöhle kitzelten, und ich wurde rot wie eine Tomate, als er beim Abtrocknen meiner Füße vor mir auf dem Boden hockte und dabei mit seinem Kopf meiner Körpermitte gefährlich nahe kam. Auch ihm war es aufgefallen, aber er quittierte es nur mit einem sanften Lächeln, erhob sich ohne etwas dazu zu sagen und legte das nasse Handtuch beiseite, nur um mich mit einem frischen weiter trocken zu rubbeln.

„Ich habe nachgedacht,” meinte ich und sah zum Pater hinauf, dessen Augenbrauen auf die Stirn flohen. Er wartete darauf, dass ich weitersprach. „Darüber, was mir wirklich helfen würde, mich zu erholen.” Das Handtuch, das an meinem Arm herumrieb, stoppte und Pater Michael sah mich neugierig an. „Wenn du den Bart abrasieren und die Haare etwas stutzen würdest, wäre das sehr hilfreich,” sagte ich. „Ein paar wenige Zentimeter würden mir schon genügen,” fügte ich hinzu und befreite meinen Arm aus dem Handtuch, um ihn nach Pater Michaels Kopf auszustrecken. Doch sein Reaktionsvermögen war wie immer hervorragend, und er wich mir rasch aus.

„Was hast du nur immer mit meinen Haaren? Es tut mir wirklich leid, aber ich hatte in der letzten Zeit wahrlich andere Sorgen, als auf die Länge meines Haares oder eine ordentliche Rasur zu achten, und nur damit du es weißt: Es bleibt alles dran!” Seine Äußerung war klar und deutlich, aber sie gefiel mir nicht! Ich zog einen Schmollmund und versuchte es auf die Mitleidstour. Doch der Padre lachte nur laut über meinen Anblick, und ich fand, es war das Schönste, das ich seit langem gehört hatte. „Einfach unglaublich! Nach allem, was du durchgemacht hast, kannst du immer noch mit mir diskutieren, und dein größtes Problem sind meine Haare! Ich wusste doch, dass mir irgendetwas gefehlt hat,” bemerkte er mit einem Schmunzeln, wurde jedoch gleich wieder ernst und blickte mir eindringlich in die Augen. „Du hast mir gefehlt, Ada,” flüsterte er, beugte sich zu mir hinunter und lehnte seine Stirn gegen meine. Für einen Moment verharrten wir so und genossen die Nähe des anderen. Aber irgendwann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und fragte: „Habe ich dir vielleicht so sehr gefehlt, dass du mir eine Freude bereiten möchtest, indem du dich rasierst und deine Haare für mich abschneidest?”

Ein Lachen rollte durch Pater Michael und brachte seinen gesamten Körper zum Beben, aber schon bald wurde er wieder ernst und schlug vor, ich solle lieber meinen Hals und meine Stimme schonen und schweigen. Ich schüttelte den Kopf und entgegnete ihm mit rauer Stimme, dass er gefälligst nicht vom Thema ablenken solle. Ich hatte schließlich noch nicht das gesagt, was ich sagen wollte. Im Flüsterton sprach ich weiter und behauptete völlig ernst und mit erhobenem Zeigefinger: „In der Bibel steht geschrieben: Du sollst dein Haar schneiden, wenn es die Jägerin wünscht.”

Pater Michael verstummte bei meinen Worten und lehnte sich zurück. Mit einem Blick, der aussagte, dass er um meine geistige Gesundheit besorgt war, blickte er auf mich hinunter. „An welcher Stelle steht das?”, wollte er wissen, umfasste meinen Zeigefinger mit dem Handtuch und drängte ihn wieder nach unten.

Fieberhaft dachte ich nach, was ich ihm antworten konnte, und meinte schließlich: „Gleich nach den zehn Geboten, an elfter Stelle.”

Pater Michael schüttelte den Kopf. „Es gibt kein elftes Gebot!”, erwiderte er entschieden und wechselte mit dem Handtuch zu meinem anderen Arm, um auch diesen zu rubbeln.

„Vielleicht nicht in der Ausgabe, die du zuletzt gelesen hast, aber in meiner schon,” meinte ich und nickte vehement.

„Das glaube ich dir nicht,” gab Pater Michael zurück und rieb unbeirrt an mir herum. „Aber ich sage dir, was dort tatsächlich geschrieben steht: Du sollst nicht die Unwahrheit sagen,” klärte er mich auf.

„Aber ich lüge nicht!”, rief ich empört aus, wobei sich meine angegriffene Stimme überschlug und klang, als wäre ich im Stimmbruch. Ich versuchte, dem Padre meinen Arm zu entziehen, aber er war zu schnell und zu stark für mich. Mühelos hielt er mich fest und musterte mich eindringlich. Ich musste mir schleunigst etwas einfallen lassen, damit ich aus dieser Nummer wieder herauskam. „Auf Seite neunhundertsiebenundsechzig steht es so geschrieben, wie ich es gesagt habe,” behauptete ich und konnte mir kaum selbst das Lachen verkneifen. Mit jedem Wort, das aus meinem Mund kam, ritt ich mich immer weiter in die Sch…piep… hinein.

„Seite neunhundertsiebenundsechzig?”, hakte der Pater nach. Ich nickte und sah, wie er den Kopf zurücklegte und an die Decke starrte. Nachdenklich tippte er sich mit dem Finger gegen das Kinn. Wenige Augenblicke später war ihm das in den Sinn gekommen, nach dem er gesucht hatte. „,So spricht Gott, der Herr. Jetzt gehe ich gegen dich vor, Tyrus, und lasse viele Völker gegen dich anbranden, wie das Meer seine Wogen anbranden lässt. Sie zerstören die Mauern von Tyrus, und seine Türme reißen sie ein. Sein Erdreich schwemme ich weg, zum nackten Fels mache ich Tyrus. Ein Platz zum Trocknen der Netze wird es mitten im Meer, denn ich habe gesprochen.’ Das ist es, was auf Seite neunhundertsiebenundsechzig des Buches Ezechiels geschrieben steht. Möchtest du auch das Kapitel und die Verse wissen? Kapitel sechsundzwanzig, die Verse drei, vier und fünf,” gab Pater Michael zum Besten und schmunzelte über meinen missbilligenden Gesichtsausdruck und mein Augenrollen. „Ich bitte dich, Ada! Du willst dich doch nicht wirklich mit mir darüber streiten, was in der Bibel steht und an welcher Stelle. Ich habe jede Auflage, die jemals erschienen ist, gelesen,” erinnerte er mich großzügigerweise.

Ich seufzte genervt und gab klein bei. „Schon gut! Grundgütiger! Du kannst ein ziemlich großer Angeber sein. Ich sehe meinen Fehler ein und gebe mich geschlagen, Pater Allwissend. Aber einen Versuch war es wert,” erwiderte ich.

Pater Michael lächelte und entgegnete mir: „Natürlich.” Aber es war offensichtlich, dass er zufrieden war und sich sehr darüber freute, dass er den Schlagabtausch gewonnen hatte. Wieder einmal. Doch nach einer Weile, in der wir uns schweigend gegenüber gestanden und er meine Vorderseite trocken gerieben hatte, fand er seine Sprache wieder und fragte: „Möchtest du wissen, was in Kapitel sechzehn im Buch Ezechiel geschrieben steht?”

Ich gab nur eines dieser Pater Michael typischen „Mhhs” von mir, die alles bedeuten konnten: Ja. Nein. Vielleicht. Lass mich in Ruhe! Aber es schreckte meinen Lehrer nicht ab. Er begann zu sprechen, und mit jedem Wort, das er sagte, lauschte ich aufmerksamer und verfiel freiwillig in das Schweigen, das er sich von mir gewünscht hatte. „Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem eigenen Blut zappeln,“ sagte er und strich vorsichtig über die zwei Löcher an meinem Hals, die die Vampirlady dort hinterlassen hatte und die mich wohl noch eine ganze Weile an das erinnern würden, was geschehen war. „Und ich sagte zu dir, als du Blut verschmierst dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Doch du warst nackt und bloß. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war gekommen, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Nacktheit.” Ich erschrak, als er plötzlich seine Arme hob, das Handtuch durch die Luft wirbeln ließ und mich schließlich darin einwickelte. Mit großen Augen blickte ich zu ihm auf und wartete darauf, dass er fortfuhr. Pater Michael lächelte und nickte zufrieden. Er wusste, dass er mich mit diesen Versen gefesselt hatte. „Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein, und du wurdest,” sagte er, lehnte sich zu mir hinunter und küsste mich zärtlich auf beide Wangen, „mein!” Seine Lippen legten sich auf meine. Die Berührung war nur kurz und sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

In das Handtuch gehüllt hob er mich auf seine Arme und trug mich in mein Schlafzimmer. Sobald er den Raum betreten hatte, riskierte ich einen raschen Blick zur Zimmertür und stellte erleichtert fest, dass mein Bruder nicht mehr dort stand. Ich wusste nicht, wohin er gegangen war, aber offenbar hatte er es für klüger und anständiger befunden, Pater Michael und mich allein zu lassen. Vorsichtig wurde ich auf dem Bett abgesetzt und kam mir etwas verloren vor, als der Padre mich unerwartet allein ließ. Doch es war nicht für lange Zeit und auch nur, weil er mir etwas zum Anziehen holen wollte. Als er schließlich mit meinem pinkfarbenen Pyjama zurückkehrte, musste ich lächeln.

„Ich kleidete dich in bunte Gewänder;” hörte ich Pater Michaels Stimme sagen und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er weiter die Bibel rezitierte. Dieser Satz passte so hervorragend zu meinem farbenfrohen Kleidungsstück, und es faszinierte mich, dass der Pater so mühelos einen Text aus der Heiligen Schrift wählen und wiedergeben konnte, der seine Taten so treffend beschrieb. Vor mir ging er auf die Knie, holte mit den Armen aus und legte mir geschickt das Oberteil des Pyjamas um. Er half mir dabei, in die Ärmel zu schlüpfen und schloss langsam, beinahe andächtig, die Knöpfe. „Ich hüllte dich in kostbare Gewänder,” fuhr er fort, und ich sah, wie er dabei lächelte, denn das „Gewand“, das er mir umgelegt hatte, war keineswegs kostbar, aber dafür bunt. „Ich legte dir prächtigen Schmuck an, legte dir Spangen an die Arme und eine Kette um den Hals,” sagte er, griff plötzlich unter den Stoff seines Pullis und zog den Rosenkranz seiner Mutter, der dort die ganze Zeit gelegen hatte, hervor. Er nahm ihn ab und hängte ihn mir um den Hals. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Er wollte ihn mir doch wohl nicht etwa schenken? Ich wollte ihn danach fragen, aber Pater Michael legte mir einen Finger auf die Lippen und verbannte mit einem einzigen liebevollen Kuss auf den Mund alle Gedanken aus meinem Kopf. Als er sich von mir löste, hielt ich meine Augen geschlossen und schwelgte noch für eine Weile in dem Gefühl seiner Lippen auf meinen. Erst als ich hörte, wie sich seine Schritte von mir entfernten, wurde ich aus meinen Träumereien geholt und lauschte den Geräuschen, die aus dem Badezimmer kamen. Was zum Henker suchte er dort? Die Antwort: meine Bürste. Außerdem entdeckte ich in seiner Hand noch ein Handtuch und einen Haargummi. Er dachte aber auch wirklich an alles, und offenbar war er noch nicht fertig damit, sich um mich zu kümmern.

Pater Michael lächelte, als er mein verblüfftes Gesicht sah. Er breitete neben mir das Handtuch aus, um sich mit seiner feuchten Kleidung daraufzusetzen, und drehte meinen Kopf in die richtige Position, damit er problemlos an meine Haare gelangen konnte. „Ohrringe hängte ich dir an die Ohren und setzte dir eine herrliche Krone auf,” sagte er in ruhigem Tonfall und streichelte sanft über meinen Kopf, was mir ein wohliges Seufzen entlockte. Ich mochte es, wenn man mich sanft am Kopf berührte. Bei dieser Art von Liebkosung konnte ich herrlich entspannen. Nur leider war auch dieser Moment viel zu schnell vorüber und Pater Michael mit seiner Aufgabe fertig. Mit geschickten Händen band er meine Haare zusammen und ließ den Zopf ein letztes Mal durch seine Finger gleiten. Unter mir spürte ich, wie sich die Matratze bewegte, als der Pater näher an mich heranrutschte und sich dicht an mich lehnte. Sein warmer Atem streifte über mein Ohr und den Hals, und als er mir zuflüsterte, durchfuhr mich ein angenehmer Schauer. „So wurdest du strahlend schön und wurdest sogar Königin.” Der Klang des letzten Wortes hallte noch in meinen Ohren nach, da spürte ich bereits seine Lippen an meinem Hals, den er mit unendlich vielen federleichten Küssen bedeckte, sorgsam darauf bedacht, nicht die Bisswunde der Vampirin zu berühren. Doch er gönnte es mir nicht, seine Zärtlichkeiten noch viel länger zu genießen und schob mich ohne jegliche Anstrengung auf dem Bett herum und zwang mich dazu, mich hinzulegen. „Du brauchst keine Angst zu haben,” sagte er und legte die Decke über mich. „Ich bleibe die ganze Zeit über bei dir.” Er lehnte sich zu mir hinunter, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ich lächelte ihn an, aber als mein Blick zu der Wunde auf seiner Wange wanderte, verzog ich gequält das Gesicht. Tränen begannen in meinen Augen zu brennen, und ich schniefte. „Was ist, Ada? Was hast du?”, fragte Pater Michael und umfasste meine Wange mit seiner Hand. Beruhigend strich sein Daumen über die Haut.

„Die Verletzung…dein Gesicht…es tut mir so leid…ich wollte das nicht,” schluchzte ich.

Der Pater legte den Kopf schief und lächelte. Für einen Moment schien er über meine Worte nachzudenken, und schließlich beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss. Er lehnte seine Stirn an meine und sagte: „Es ist nicht deine Schuld, Ada. Du kannst nichts dafür, und es nicht so schlimm, wie es dir vielleicht erscheinen mag. Ich verspüre kaum Schmerzen. Es wird wieder heilen. Ich möchte nicht, dass du dich sorgst.”

„Aber…”, setzte ich an, wurde jedoch von seinen Lippen, die sich sanft auf meine legten, unterbrochen. Dieses Mal jedoch blieb er länger bei mir, und ich fragte mich, was diesen Augenblick so anders für ihn machte, dass er sich nicht sofort wieder von mir entfernte. Aber dann mischte sich ein salziger Geschmack in unseren Kuss und ich begriff, dass es die Tränen des Paters waren, die er so lange versucht hatte zurückzuhalten. Ich wollte mich von ihm lösen, aber es war zwecklos. Meine Bemühungen, mich zu befreien, veranlassten ihn nur dazu, mir seinen Mund noch fester aufzudrücken. Er tat mir nicht weh. In diesem Kuss lagen seine ganze Verzweiflung und Sehnsucht, sein tiefes Begehren und seine größten Ängste, seine aufrichtige Liebe und unendliche Erleichterung. Und erst als er mir all das mit seinen Lippen preisgegeben hatte, gab er mich frei und flüsterte dicht vor meinem Gesicht: „Du musst jetzt schlafen, Liebste. Ruh dich aus, und wenn du aufwachst, wird die Welt für dich anders aussehen.”

Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5)

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