Читать книгу Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5) - Nadja Losbohm - Страница 11
8. Kirchen-Alltag und Neues
Оглавление„Dankbarkeit. Es fehlt uns oft an ihr. Zu leicht vergessen wir sie. Dabei gibt es so vieles, für das wir dankbar sein können. Jedem von uns fallen auf Anhieb die offensichtlichsten Dinge ein, mit denen uns der Herr gesegnet hat, wie Familie, Freunde, Gesundheit, ein Zuhause. Doch ich weiß, dass es unter uns einige gibt, denen wenigstens eines dieser Dinge fehlt, wenn nicht sogar mehrere. Der eine ist ohne Familie. Der andere leidet unter einer Krankheit. Der Nächste hat kein liebevolles Zuhause, in dem er sich wohl und geborgen fühlt. Ebenso weiß ich, dass es einige hier gibt, die sich deshalb zornig von Gott abwenden. Sie fragen sich, warum der Allmächtige sie leiden lässt, ihnen Schmerzen zufügt, ob nun seelisch oder körperlich. Auch ich habe mir diese Fragen gestellt und kann daher sagen, dass man uns und unseren Glauben testet. Außerdem sollen wir lernen, auf die Dinge zu schauen, die wir in unserem Leben haben und nicht auf das, was wir nicht haben! Öffnet eure Augen, blickt euch um und ihr seht, was es für wunderbare Dinge gibt, an denen ihr euch erfreuen sollt und für die ihr dankbar sein könnt. Ich zum Beispiel bin dankbar für denjenigen, der mir zu Hilfe eilt, wenn ich ihn rufe.” Pater Michael deutete auf Dr. Fields, der in der dritten Reihe saß. Von meinem Platz aus sah ich das Gesicht des Arztes nur von der Seite, aber ich konnte deutlich das Lächeln, das darauf lag, erkennen. „Ich bin dankbar für jeden Einzelnen von euch, die ihr hier sitzt. Ich bin dankbar für eure guten Herzen, eure Großzügigkeit und Unterstützung, die ihr der Gemeinde und mir zuteilwerden lasst. Und ich bin dankbar dafür, dass mir das zurückgegeben wurde, was ich für immer verloren geglaubt hatte,” sagte er und richtete seinen Blick auf mich.
Die Köpfe aller drehten sich herum, und die gesamte Gemeinde starrte mich an. Ich verkrampfte mich und blickte unsicher von einem zum anderen, aber dann fiel mir auf, dass mir aus den Gesichtern nur Freundlichkeit entgegenblickte. Meine Kehle schnürte sich zu, und Tränen stiegen mir in die Augen. Nicht nur wegen der Güte und dem Verständnis der Menschen um mich herum, sondern oder gerade wegen Pater Michaels Worten und der innigen Liebe, die in seinem Blick lag. Dankbar lächelte ich ihm zu. Dann senkte ich den Kopf, schaute auf meine geschundene Hand hinunter, die Dank des exzessiven Kühlens nicht geschwollen war, an der sich aber dunkelrote Abschürfungen und kleine Hämatome zeigten. Mit dem Zeigefinger meiner gesunden Hand wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ich bin dankbar dafür, dass ich zu Gott gefunden habe. Ich bin dankbar für den Herrn und das einzigartige Leben, dass Er mir geschenkt hat, das ein wahres Wunder ist. Ja, Er vollbringt Wunder und besiegt sogar den Tod.”
Das Wort donnerte durch die St. Mary’s Kirche wie ein Paukenschlag. Als sein Klang verhallt war, wurde es mucksmäuschenstill. Nicht einmal das Atmen der Menschen war zu hören. Die Gemeinde starrte stumm zum Pater hinauf. Niemand regte sich. Ich glaube, in diesem Moment dachten wir alle dasselbe und Pater Michael sprach es aus. „Ich habe Seine Macht am eigenen Leib erfahren. Ich weiß, zu welch großen Dingen Er fähig ist. Und auch wenn es Augenblicke gab, in denen mein Glaube auf die Probe gestellt wurde, habe ich mich nie von Ihm abgewendet oder die Wunder vergessen, die Er an mir vollbracht hat. Dasselbe möchte ich euch raten: Wendet euch nicht von Gott ab, auch wenn ihr in einer Phase eures Lebens steckt, in der ihr weder vor- noch rückwärts zu kommen scheint. Wenn euch die Menschen ihre Hilfe versagt haben, Gott tut es nicht! Vertraut Ihm! In Psalm achtundzwanzig, Vers sieben heißt es: ,Der Herr ist meine Kraft und mein Schild, mein Herz vertraut ihm.’ Und das ist das einzig Richtige, das ihr tun könnt! Wendet euch Ihm zu. Er hört eure Gebete und wird euch helfen. Seid dankbar für Ihn und euer Leben und sprecht es laut aus, damit es ein jeder hört. Danke, Herr!”, rief der Pater aus und blickte lächelnd gen Himmel. Seine Gemeinde tat es ihm gleich und erwiderte seinen Ruf. Selbst ich schrie meine Dankbarkeit lauthals hinaus.
Die Predigt war vorüber. Die Menschen erhoben sich und zerstreuten sich in alle Richtungen. Einige scharrten sich um Pater Michael, reichten ihm die Hand und dankten ihm für den Gottesdienst. Auf ihren Gesichtern lag die wahre Freude. Es schien, als hatte er sie regelrecht mit seinen Worten wachgerüttelt und motiviert. Ich schaute mich weiter um. Meine Blicke wanderten über die kleinen Grüppchen, die sich in den Gängen gebildet hatten. Andere Gemeindemitglieder hatten sich zwischen die Säulen auf der rechten Seite der Kirche zurückgezogen und redeten leise, während die steinernen Augen der Heiligenstatuen auf sie herunterschauten. Auch um das Taufbecken herum standen die Menschen dicht beisammen, sodass man kaum noch etwas von ihm sehen konnte.
„Das war wirklich eine wunderbare Predigt,” hörte ich Sarahs Mutter, die neben mir stand, sagen.
Ich wandte mich ihr zu und nickte zustimmend. Wir unterhielten uns noch eine Weile über den Gottesdienst, aber schließlich gelangten wir zu anderen Themen, die uns ebenfalls bewegten. Ich genoss die Unterhaltung mit der anderen Frau sehr. Es kam nicht oft vor, dass ich mit anderen sprach, schon gar nicht mit einer Frau. Meistens war der Padre mein Gesprächspartner, und selbst mit ihm konnte und wollte ich nicht über alles reden. Ich überlegte, wann ich das letzte Mal mit jemand anderem als ihm gesprochen hatte, und mir fiel mein Bruder ein. Allerdings konnte man den Streit mit ihm wohl kaum als angenehme Unterhaltung bezeichnen. Wir hatten uns hauptsächlich angeschrien. Und an das, was davor gewesen war, erinnerte ich mich nur ungern, denn ich hatte für eine lange Zeit nur eine einzige Stimme reden gehört und zwar die der Vampir-Frau. Als ich an den Klang ihrer Stimme und die Worte, die sie mir zugezischt hatte, dachte, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, und ich schüttelte mich.
„Geht es Ihnen nicht gut?”, fragte mich Sarahs Mutter besorgt.
Ich sah sie an und zwang mich, obwohl mir eher nach Weinen zumute war, zu einem Lächeln. „Alles bestens,” meinte ich kurz.
Die Frau neben mir musterte mich noch für einen Moment neugierig, aber dann richtete sie ihren Blick wieder nach vorn und beobachtete die anderen Gemeindemitglieder. Ich folgte ihrem Beispiel und ließ meine Blicke schweifen. Das Gleiche tat ich mit meinen Gedanken. Sie wanderten hierhin und dorthin, und irgendwann tauchte derart unerwartet eine Idee in meinem Kopf auf, sodass ich regelrecht zusammenzuckte. Es war, als hätte man mir auf den Hinterkopf geschlagen, wodurch aus der hintersten Ecke meines Gehirns dieser eine Gedanke direkt nach vorn gekullert war, und nun konnte ich ihn bildlich vor mir sehen. Ich drehte mich zu Sarahs Mutter herum und lehnte mich noch etwas dichter zu ihr. Flüsternd erzählte ich ihr von meiner Idee und bat sie um Hilfe.
Unsere Köpfe steckten eng zusammen, und wir beratschlagten immer noch die Umsetzung meines Plans, als ich aus dem Augenwinkel einen schwarzen Fleck auf uns zukommen sah. Ich warf rasch einen Blick zur Seite und erkannte, dass es Pater Michael war, der sich zu uns gesellte. Sofort verstummte ich, trat einen Schritt von Sarahs Mutter zurück und wartete schweigend auf die Ankunft des Paters. Meine Hoffnungen, dass ich dabei unschuldig genug aussah, zerschlugen sich in Lichtgeschwindigkeit. „Welche Heimlichkeiten gibt es denn hier zu besprechen?”, fragte er. Ein Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf, aber es erreichte nicht seine Augen. Unruhig huschten sie von Sarahs Mutter zu mir und musterten uns misstrauisch.
„Sei nicht so neugierig!”, entgegnete ich ihm und wedelte mit einem mahnenden Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. „Es ging um Frauensachen. Davon verstehst du nichts.”
Pater Michael lachte, und dieses Mal erreichte die Freude auch seine Augen, um die sich zahlreiche Lachfältchen zeigten. Er umfasste meinen in die Luft ragenden Finger und drückte meinen Arm hinunter. „Da kann ich dir ausnahmsweise einmal absolut Recht geben,” sagte er und schmunzelte über meinen empörten Gesichtsausdruck, weil er mir zu verstehen gegeben hatte, dass ich sonst immer falschlag. Welch eine Frechheit! Ich versuchte, ihm meine Hand zu entreißen, aber Pater Michael ließ mich nicht so einfach los. Wir waren so sehr in unsere Neckerei vertieft, dass wir nicht mitbekamen, dass jemand weiteres zu uns gestoßen war.
„Hallo, Vati.”
Diese zwei Worte waren so einfach und klein, aber sie besaßen die Kraft, uns verstummen und in unseren Bewegungen erstarren zu lassen. Mit großen Augen blickte ich nach unten, von wo die zarte Stimme hergekommen war. Auch Pater Michael und die Frau, die bei uns stand, schauten überrascht Richtung Boden und entdeckten das kleine Mädchen, dessen Hand den Stoff der Soutane des Paters ergriffen hatte und mit einem freudigen Lächeln zu ihm aufsah. Ich hatte Sarah schon beinahe ein Jahr lang nicht mehr gesehen und stellte fest, dass sie in dieser Zeit ein ganzes Stück gewachsen war.
„Aber Sarah! Wir nennen ihn doch nicht Vati, sondern Pater Michael,” ermahnte ihre Mutter sie.
Ich drehte meinen Kopf zu ihr und sah, dass ihr diese ganze Situation unendlich peinlich war. Ihr war sogar das Blut in den Kopf gestiegen, und ihre Wangen leuchteten dunkelrot. Schmunzelnd wandte ich mich wieder dem Mädchen zu, das verwirrt von seiner Mutter zu mir und dann zum Pater blickte. Das arme Ding. Es wusste nicht, was so falsch an seinen Worten gewesen war.
Plötzlich erschallte ein lautes Lachen neben uns. Mein Kopf schoss hoch, und ich entdeckte den zurückgelegten Kopf des Paters, der über das ganze Gesicht strahlte und sich köstlich zu amüsieren schien. Er beugte sich hinunter und nahm Sarah auf seine Arme. Die Kleine blickte erst etwas erschrocken drein, da sie der Höhe, in der sie sich befand, offensichtlich nicht ganz traute. Aber als Pater Michael ihr mit dem Zeigefinger sanft auf die Nase stupste, strahlte Sarah wieder. „Nun, Pater ist nur ein anderes Wort für Vater, also ist es gar nicht so verkehrt, wie du mich genannt hast,” erklärte er und strich ihr liebevoll über die Wange.
Es war Sarah anzusehen, wie sehr sie sich darüber freute, dass der Padre ihr bestätigte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte. Mit großen Augen betrachtete sie sich sein Gesicht aus nächster Nähe und begutachtete auch seine Wange, auf der die Narbe rot leuchtete. Sie entstellte ihn nicht. Sie verlieh ihm etwas Heldenhaftes. Sie bestätigte seine Kraft, seinen Mut und war ein Symbol des siegreichen Kampfes, den er gefochten hatte.
„Und wofür bist du dankbar, kleine Sarah?”, fragte Pater Michael sie nach ein paar Augenblicken, in denen er ihr gestattet hatte, sich ihn anzusehen.
„Eiscreme,” platzte es aus ihr heraus und brachte uns damit alle zum Lachen.