Читать книгу LebensLichtSpuren - Nanaja Meropis - Страница 33
DIE MAUER
ОглавлениеMeine Mutter hatte eine sanfte Stimme und viel Geduld. Sie verbrachte den Tag mit der Hausarbeit: Kochen, Putzen, Essen, Wäsche, und immer, wenn ich gerade etwas Neues ausprobieren oder etwas erfinden wollte, sagte sie mir: „Tu das nicht!“ Und ich tat es doch. Und dann war da noch diese Mauer in unserem Garten, und meine Mutter wusste nicht, dass eine Mauer für ein Kind nur gemacht ist, um herauszufinden, was auf der anderen Seite ist. Die Holzkisten neben der Wand waren eine einladende Treppe. Ich stieg auf die zerbrechlichen Kisten, erreichte den Rand der Mauer, ließ ein Bein auf die eine und das andere auf die andere Seite baumeln und entdeckte ein neues Territorium: den Hof der Nachbarn mit ihren Kleidern auf der Wäscheleine.
Der rotgekachelte Boden leuchtete im Sonnenlicht, und die aufgehängte Wäsche bewegte sich wie Laub im Wind. Ein weißes Tuch flatterte in Kurven in der Luft, skizzierte Flüge, hing aber fest an der Wäscheleine, um wieder nach oben zu flattern und zu landen. Ich konnte dort nichts weiter entdecken als eine ferne Insel in der Ecke mit einem blühenden und einem grünen Busch. Als ich heruntersteigen wollte und auf die Holzkisten trat, rutschte ich aus und fiel hin, wobei ich mir das Knie verletzte. Aus einer tiefen Wunde strömte das Blut, und meine schrillen Schreie breiteten sich im Hof aus.
Meine Mutter trat aus der Küchentür und sagte ohne Mitleid: „Ich habe dir gesagt, du sollst das nicht tun!“ Sie brachte mich ins Badezimmer, wo sie die Wunde desinfizierte, Gaze auflegte und mit einem Klebeband befestigte. Meine Mutter ist nie über Mauern geklettert, sie wusste wohl nicht, dass Mauern gemacht sind, um sie zu überqueren, dachte ich, meine Augen voller Tränen.