Читать книгу Die Fälle der Shifter Cops - Natalie Winter - Страница 10

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KAPITEL 3

Der Narr

Julie sah durch das Schaufenster des Itchy Witchy hi­­naus auf die Straße und beobachtete die Touristen. Im Coffeeshop gegenüber war die Hölle los, und auch im Laden mit den handgemachten Kosmetikartikeln drängten sich die Kunden. In den elf Monaten, die seit dem Tod ihrer Tante vergangen waren, hatte sie ein Gefühl dafür entwickelt, welche Leute ihr Geschäft be­­treten, wer etwas kaufen oder sich nur neugierig um­­sehen würde.

Das Paar, das gerade die letzten Strahlen der Nachmittagssonne bei einem Latte macchiato genoss, war ein Kandidat für guten Umsatz. Die Turteltauben ka­­men mit Sicherheit aus New York und verbrachten ein langes Wochenende in Maine. Ihre Kleidung war leger, aber teuer, der typische Freizeitchic wohlhabender Städ­­ter. Die Art, wie die Frau ihr honigblondes Haar zurück­­strich und ihren Begleiter dabei ansah, verriet ihre Verliebtheit. Bereits auf dem Weg zum Coffeeshop hatte sie einen begehrlichen Blick auf die Voodoopüppchen geworfen, die im Moment die Hauptattraktion des Itchy Witchy waren. Der Mann hatte sie weitergezogen und sie hatte nachgegeben – vorerst, wie Julie vermutete. Er wirkte verliebt genug, um ihrer Laune nachzugeben und ihr eines dieser – aus seiner Sicht – seltsamen, sicherlich überteuerten Püppchen zu kaufen, die ihn aus dem Fenster heraus so auffordernd angegrinst hatten.

Julie lächelte. Eigentlich war das knappe letzte Jahr, das sie in Yarnville verbracht hatte, gar nicht so schlecht gewesen. Sie verdiente zum ersten Mal genug Geld, um nicht nur davon zu leben, sondern auch etwas für später oder für Notfälle zur Seite zu legen. Sogar ihr Wagen war in den Genuss dringend benötigter Reparaturen gekommen, nicht zuletzt dank der sehr zuvorkom­menden Preisgestaltung von Pete’s Automobile Service. Julie hatte sich auch daran gewöhnt, den Namen »Itchy Witchy« laut auszusprechen, ohne dabei zu erröten.

Dennoch gab es ein Problem: Für sie war es immer noch der Laden ihrer Tante, aber niemals ihr eigener. ­Laurie war eine ausnehmend kluge Geschäftsfrau ge­­wesen, die alles im Angebot gehabt hatte, was das Touristenherz begehrte. Selbst abseits vom berühmt-­berüchtigten Salem und seinen Hexenprozessen ließ sich mit dem »okkulten Kram«, wie Julie ihre Ware nannte, Geld verdienen. Und das nicht zu knapp. Sie hatte das ursprüngliche Sortiment aus esoterischen Büchern, Tarotkarten und Kräutern um Räucherstäbchen und andere Dinge erweitert, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuten. Die Reisenden aus aller Welt, die vom Frühjahr bis zum Herbst die Küsten Maines unsicher machten, schienen auf alles zu fliegen, was auf unbestimmte Weise unvollkommen aussah. Shabby Chic, der Einrichtungstrend der letzten Jahre, hatte auch vor der Magie nicht haltgemacht – oder, um genau zu sein, vor dem, was die Menschen für Magie hielten.

Doch es waren nicht nur die Touristen – Einwohner von Yarnville und Leute aus der Umgebung kamen ebenfalls in den Laden. Manchmal fragte sich Julie, was es wohl war, das sie dazu brachte, an Hexerei zu glauben. Sie musste an Alastair und seinen Hexenzirkel denken. Der gediegene Mann stand einem Kreis von Männern und Frauen vor, die sich einmal im Monat im Hinterzimmer des Itchy Witchy trafen, um ihre Zauber zu weben. Julie war allerdings der Ansicht, dass sie weniger Magie wirkten, als vielmehr jede Menge Tee und Kekse konsumierten, während sie sich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus Yarnville austauschten. Streng genommen webten sie tatsächlich, aber das Netz, das unter ihren flinken Zungen entstand, war eines aus Gerüchten, nicht aus Zauberei.

Als »Letzte der Mireau-Hexen« wurde Julie regelmäßig eingeladen, dem Zirkel beizutreten, doch sie lehnte jedes Mal ab. Mit freundlichen, aber bestimmten Worten erinnerte sie die anderen daran, dass sie Psychologie studiert hatte und dass die einzige Macht, an die sie glaubte, die Kraft der Suggestion war.

Als das Mobile an der Tür mit seinen metallenen Knochen und den messingfarbenen Glöckchen das Eintreten neuer Kunden verkündete, war Julie nicht sonderlich erstaunt, die Honigblonde und ihren Freund zu sehen. Sie hielten einander an den Händen und wirkten wie Kinder, denen man gerade verkündet hatte, dass der Weihnachtsmann ab sofort täglich käme.

Julie begrüßte sie höflich. »Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich einfach!«

Dann zog sie sich hinter die Theke zurück und griff nach dem Buch, das sie erst am Vortag begonnen hatte. Es war das, was ihre Tante immer als »Nackenbeißer« bezeichnet hatte: Auf dem Cover umfing ein dunkelhaariger Mann mit offenem Hemd eine üppige Blondine von hinten und beugte sich herab, um jeden Augenblick einen leidenschaftlichen Kuss auf ihren geneigten Hals zu pressen. Mit einem selbstironischen Lächeln widmete Julie sich der prickelnden Begegnung zwischen dem reichen englischen Adeligen und der Südstaatenschönheit, die es im New Orleans des 19. Jahrhunderts immerzu beinahe miteinander taten.

Sie seufzte. Selbst das Liebesleben der durch Kon­ven­tionen eingeschränkten Romanfiguren war deutlich interessanter als ihr eigenes. Nicht dass sie David ver­­misste. Wenn sie an ihn dachte, dann höchstens in ei­­ner Art leiser Verwunderung darüber, wie sie es so lange mit diesem Erbsenzähler ausgehalten hatte.

Vom Tuscheln und verhaltenen Kichern der beiden Verliebten im Laden abgelenkt, legte Julie die Schnulze schließlich wieder in die Schublade und nahm statt­des­­sen eines der Voodoopüppchen zur Hand, die in ei­­nem Weidenkörbchen neben der Kasse auf ihren Ein­­satz warteten. Die Puppen schienen sie boshaft an­­zu­sehen, ihre Perlenaugen glitzerten gehässig. Aber sie waren nicht allzu teuer, weshalb sie gern als Andenken mitgenommen wurden, das musste selbst Julie zu­geben.

»Oh, sind die süß!«, quietschte die Honigblonde, während sie ihre Beute auf die Theke legte. Sie zögerte kurz, bevor sie, ermutigt durch Julies Lächeln, in das Körbchen griff und eine der Puppen herausnahm. »Welche hilft denn, wenn man einen Liebeszauber aussprechen möchte?«

»Jemand wie Sie braucht doch keine Magie, um die Liebe eines Mannes zu gewinnen«, entgegnete Julie ohne nachzudenken.

Die Frau runzelte die Stirn.

»Es tut mir leid«, sagte Julie schnell, »ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Aber Sie beide machen einen so verliebten und glücklichen Eindruck, da ist ein Liebeszauber doch sicherlich das Letzte, was Sie benötigen.«

Nun lächelte die Frau. Uff, das war gerade noch mal gut gegangen!

Der Mann sah Julie überrascht an. »Das nenne ich eine Seltenheit«, sagte er und nahm sich ebenfalls eine der Puppen. Im Gegensatz zu seiner Freundin, die zielsicher nach dem buntesten Exemplar gegriffen hatte, wählte er die einzige schwarze. »Eine Ladenbesitzerin, die nicht unter allen Umständen ihre Ware verkaufen möchte. Das lässt nur einen Schluss zu: Sie glauben wirklich an den Mist.«

Julie biss die Zähne zusammen. »Ich sehe mich als tolerante Rationalistin«, erwiderte sie schließlich und fragte sich, warum sie so wütend wurde.

Normalerweise machte sie kein Hehl aus ihrer Un­gläubigkeit, auch wenn sie nicht gerade damit hausieren ging. Es war einfach so, dass sie sich selbst als Herrin ihres Schicksals sah und wenig davon hielt, diesem mit zweifelhaften Hilfsmitteln auf die Sprünge zu ­helfen. Noch zu deutlich war die Erinnerung an Tante Laurie, die bis zuletzt daran geglaubt hatte, dem nahenden Krebstod mithilfe von magischem Handwerkszeug von der Schippe springen zu können. Davon hatten die zahlreichen Amulette Zeugnis abgelegt, die Julie nach der Beerdigung überall im Haus entdeckt hatte.

Wenn hier im Laden jemand zweifelte, dann war sie es. Außerdem ging ihr die Herablassung, mit der der Mann die kleine schwarze Voodoopuppe zurück in das Körbchen legte, gegen den Strich. Bevor sie sich zurückhalten konnte, griff sie nach einem sonnengelben Püppchen und reichte es der Frau.

»Das ist ein Geschenk des Hauses«, sagte sie so ruhig, wie es ihr möglich war. »Es wird Ihnen helfen, Ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.«

Die Augen des Mannes verengten sich und Julie sah den Puls an seiner Schläfe pochen. Sie ignorierte ihn und wandte sich wieder der Frau zu, die sie mit weit aufgerissenen Augen ansah.

»Zünden Sie beim nächsten Vollmond eine Kerze an und sprechen Sie Ihren Wunsch drei Mal hintereinander laut aus!«, erklärte Julie, während sie die Räucherstäbchen, Bücher und Kristalle abrechnete und in eine Papiertüte packte. »Dann vergraben Sie die Puppe in der Nähe Ihres Hauses! Innerhalb eines Monats werden Sie das Kind empfangen, nach dem sich Ihre Seele verzehrt.« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund, aber es war zu spät. Ihre Worte konnte sie nicht mehr ungesagt machen. Was zum Teufel war nur in sie gefahren?

Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. Schnell griff sie nach der gelben Puppe und presste sie an ihre Brust. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, aber seine Freundin packte ihn am Arm und drückte so fest zu, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Er warf ein paar Scheine auf den Tresen, packte die Papiertüte und zerrte die Frau aus dem Laden.

Als das Glockenspiel an der Tür einen weiteren Besucher ankündigte, hob Julie den Kopf. Es war Alastair. Sie sah auf die Uhr. Heute war Hexenzirkelversammlungstag, aber er war viel zu früh dran.

»Hallo, mein Lieber«, sagte sie mit einem Lächeln und trat hinter der Ladentheke hervor, um ihn in den Arm zu nehmen.

Sie hatte ihm den Druck, mit dem er sie zum Bleiben bewogen hatte, noch nicht ganz verziehen, aber trotzdem war er ihr von allen selbst ernannten Magiern und Hexen der liebste. Er hatte einen hintergründigen Sinn für Humor, den sie erst im Laufe der Zeit entdeckt hatte. Nachdenklich betrachtete sie ihn. Täuschte sie sich oder war er seit ihrem letzten Treffen kleiner geworden?

»Geht es dir gut?«, fragte sie und erwartete, dass er ihr wie immer eine ausweichende Antwort geben würde.

Doch heute war offenbar der Tag der Überraschungen.

Alastair sah erst zu Boden und räusperte sich, bevor er sie anschaute. »Nun, um ehrlich zu sein, ging es mir schon besser«, erwiderte er und strich mit dem Hand­rücken über sein Kinn. »Der Todestag deiner Tante jährt sich in einem Monat und ich frage mich, ob du wohl etwas dagegen hättest, wenn ich ein Gedenkessen veranstalte.« Bevor Julie antworten konnte, fuhr er hastig fort: »Ich möchte ein paar Freunde einladen, die Laurie kannten. Es soll nichts Großes werden, nur im kleinen Rahmen. Wir essen gemeinsam und erinnern uns an sie.«

Jetzt traten Julie Tränen in die Augen. Zu ihrer Rührung kam das schlechte Gewissen, weil sie selbst das Datum vergessen hatte. Tante Laurie musste ihm sehr fehlen.

»Das ist eine tolle Idee«, sagte sie schnell.

Alastair sah so erleichtert aus, dass sich ihr schlechtes Gewissen verdoppelte. »Ich muss wohl nicht betonen, dass ich dich an meiner Seite haben möchte.«

Was für eine merkwürdige Art, sie einzuladen.

»Natürlich, ich komme gerne«, antwortete sie, obwohl ihr bereits der Gedanke daran Unbehagen bereitete.

Sich an die lebendige, warmherzige Laurie zu erinnern, die sie gekannt hatte, war eine Sache. Dies in Gesellschaft von Menschen zu tun, die an ihre Tante immer noch als Erbin der Mireau-Hexen dachten, eine ganz andere. Wahrscheinlich wäre außer den Mitgliedern des Zirkels niemand anwesend. Die Aussicht, einen ganzen Abend lang über Hexerei zu sprechen oder zuzuhören, wie sich die Männer und Frauen mit ihren magischen Kräften brüsteten, war mehr als bedrückend. Es war richtiggehend deprimierend. Doch diesmal gab es für Julie offenbar ebenso wenig einen Ausweg, wie es ihn vor knapp einem Jahr gegeben hatte.

»Soll ich etwas zu essen mitbringen?«, fragte sie und musste plötzlich grinsen, als sie sich vorstellte, wie sie mit einem selbst gemachten Kartoffelsalat auf der Gedenkfeier auftauchte.

Sicher hatte Alastair etwas Würdevolleres geplant als ein Barbecue, zu dem jeder Gast etwas beisteuerte.

»Nein danke«, erwiderte er. »Ich werde für alles sorgen. Die Einladung bringe ich dir dann in den nächsten Tagen persönlich vorbei«, bemerkte er leichthin.

Doch Julie hatte ihn in den letzten Monaten oft genug gesehen, um seine gedrückte Stimmung zu bemerken. »Ich helfe gerne«, bot sie also an.

»Du hast schon mit dem Laden so viel um die Oh­ren«, sagte Alastair in liebevollem Tonfall. »Und damit, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Oder hast du das bereits getan?« Seine Augen leuchteten erwartungsvoll.

»Ich weiß es einfach nicht«, gab Julie zu. »An manchen Tagen fühle ich mich hier zu Hause, angekommen. Aber dann …« Sie suchte nach den richtigen Worten, um ihre widerstreitenden Gefühle auszudrücken.

Eine Tarotkarte kam ihr in den Sinn – der Narr. Er stand für Sorglosigkeit und Unschuld. Für sie war er immer die Verkörperung eines unsteten Geistes gewesen, ein Zugvogel, den es nirgends hielt. Vielleicht war es an der Zeit, sesshaft zu werden.

»Ich verstehe«, sagte Alastair und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Noch vor Kurzem hätte sie diese Geste als Bedrängen wahrgenommen, doch jetzt empfand sie sie als seltsam tröstlich. Hatte sie sich mehr verändert, als sie geglaubt hatte?

»Hast du schon mal daran gedacht, dein Erbe anzunehmen?«, fragte er. »Und ich spreche nicht vom Haus oder dem Geschäft.«

Julie brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. Für ihn war es vollkommen logisch, dass von ihrer Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, noch mehr abhing. Blieb sie, so hieß das letztendlich, dass sie sich in die lange Reihe der Mireau-Hexen einreihte und die Tradition fortführte. Gehen bedeutete, dies abzulehnen.

»Ich bin keine Hexe, ganz gleichgültig, wie sehr du und die anderen auch darauf spekulieren«, wehrte Julie ab. »Und ich werde auch nie eine sein. Das schwöre ich bei …« Vergeblich suchte sie nach etwas oder jeman­­dem, der oder das wertvoll genug war, um ihre Entschlossenheit zu verdeutlichen.

Alastair seufzte. »Was ist eigentlich damals passiert? Laurie hat es mir nie erzählt.«

Julie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Nichts. Nichts ist passiert, und das kannst du wörtlich nehmen. Ich habe es einfach nicht in mir, keinen Funken Hexenkraft. Ich bin völlig aus der Art geschlagen. Oder, um es mit den Worten meiner Großmutter zu sagen: die vollkommene Enttäuschung.«

Nachdenklich legte Alastair den Kopf schief. »Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ich es dir sagen muss«, er lächelte, »aber du musst erwachsen werden, Julie. Streif deine Vergangenheit ab und lass dich nicht mehr von den Worten einer verbitterten Frau verletzen, die ihre ganze Hoffnung erst in ihre Tochter und dann in ihre Enkeltochter gesetzt hat.«

»Bin ich so durchschaubar?«, stöhnte Julie. Dann versuchte sie, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben: »Hast du schon unsere Neuheiten gesehen? Die Kristalle sind heute erst reingekommen.« Sie zeigte auf das Regal neben der Kasse.

»Lenk nicht ab!«, entgegnete Alastair, schaute sich aber dennoch um. Den Steinen gönnte er kaum mehr als einen oberflächlichen Blick. Nach kurzem Zögern entschied er sich für ein Paket Tarotkarten, legte es auf die Theke und zückte seine Geldbörse. »Ich nehme die hier.«

Julie hob fragend die Augenbrauen. »Ich dachte im­­mer, du hättest schon welche.«

In Alastairs Augenwinkeln kräuselten sich kleine Fältchen. »Das stimmt, aber die hier sind ein Geschenk.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Für dich.«

Bevor Julie darauf antworten konnte, öffnete sich die Tür. Auf der Schwelle stand Cassandra, das jüngste Mitglied des Hexenzirkels. Offenbar wartete sie darauf, dass die beiden ihren Auftritt zur Kenntnis nahmen. Ihr dunkelblaues Cape umwehte sie dramatisch und passte farblich genau zu ihren Augen, denen sie mit viel Eyeliner und grauem Lidschatten eine Dramatik verliehen hatte, die Julie immer wieder erstaunte. Der Eindruck einer Hexe wie aus dem Bilderbuch wurde zunichtegemacht durch die schlammbedeckten Stilettos, die sie trug.

Julie lächelte. Cassandra wirkte ein wenig theatralisch, dennoch mochte sie die junge Frau. Obwohl Julie nur ein paar Jahre älter war, fühlte sie sich im Vergleich zu ihr deutlich reifer. Cassandra begeisterte sich jeden Monat für eine andere Art der Hexerei, sie war immer noch auf der Suche nach ihrer besonderen Gabe. Bislang hatte sie sich in Voodoo versucht, in Erd- und Runenmagie. Alles recht erfolglos, wie Julie fand, aber Cassandra dachte offenbar nicht ans Aufgeben.

Inzwischen war sie näher getreten. Als ihr Blick auf die Tarotkarten fiel, die auf dem Tresen lagen, leuchteten ihre Augen auf.

»Ich glaube, ich habe nun meinen Weg gefunden«, informierte sie Julie und Alastair mit einem Strahlen im Gesicht. »Danke noch mal für die schönen Karten, die du mir geschenkt hast, Alastair!«

Er lächelte väterlich und warf Julie einen Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Blick zu. Versorgte er jetzt die ganze Welt mit Tarotkarten?

»Ich habe das Gefühl, die Bilder sprechen zu mir auf eine Weise, die ich vorher noch nie erlebt habe. Ach, Alastair, du bist einfach der Beste!« Überschwänglich umarmte Cassandra ihn. »Ich glaube, das Kartenlegen ist genau mein Ding.«

Alastair zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder. »Es war nichts als ein kleiner Schubs in die richtige Richtung«, wehrte er ab.

Kurz danach trudelten auch die anderen Mitglieder des Hexenzirkels ein. Jolene mit dem orangerot gefärbten Haar huschte schnell ins Hinterzimmer. Heute war also einer ihrer schweigsamen Tage. Julie wusste nicht viel über sie; Jolene sprach nur selten über sich und ihre Vergangenheit. Julie hatte jedoch herausgefunden, dass sie ihren Namen hasste wegen des gleichnamigen Dolly-Parton-Songs und dass ihre Passion Liebeszauber waren. Viele ihrer Kunden wunderten sich, weil die Zauber so unerhört günstig waren. Doch Alastair hatte Julie irgendwann verraten, dass Jolenes Haupt­einnahmequelle darin bestand, den Zauber wieder zu lösen. Viel zu schnell wurden die jungen Leute heutzutage ihrer großen Liebe überdrüssig, hatte er gemeint. Dann wollten sie die früher Angebeteten wieder loswerden.

Etwas später kam Red, der sich auf Elemente spezialisiert hatte. Im Hauptberuf war er Feuerwehrmann. Jedes Mal, wenn Julie ihn sah, musste sie an Serien­brandstifter denken, die oft eine berufliche Laufbahn in der Brandbekämpfung einschlugen und Feuer lösch­ten, die sie selbst gelegt hatten. Red war ihr ein wenig unheimlich, da er sie immer anstarrte, bevor er mit den anderen im Hinterzimmer verschwand. Allerdings hatte er sie niemals auch nur im Ansatz belästigt.

Trotzdem war ihr die kleine, rundliche Myrtle ­lieber. Die grauhaarige ältere Dame war nach Alastair die erfahrenste Hexe im Zirkel und beherrschte angeblich die Kunst der Wahrsagerei und des ­Totenbeschwörens. Der Gedanke, dass sie sich nachts auf dem Friedhof ­herumtrieb, jagte Julie jedes Mal Schauer über den Rücken. Das passte ihrer Meinung nach so gar nicht zu der harmlos aussehenden Teetrinkerin.

Margaret war die Letzte, die eintraf. Julie mochte sie, denn sie schien sich und ihre vermeintlichen Fähigkeiten nie allzu ernst zu nehmen und lachte oft und gerne. Anders als ihre Hexenschwestern und -brüder schien sie keine besondere Vorliebe für einen speziellen Zweig der Magie zu haben. Als Julie ihre ersten zögerlichen Schritte als Inhaberin des Itchy Witchy getan hatte, war es Margaret gewesen, die ihr Hilfe beim Sichten des Inventars und während der anstrengenden Wochen nach der Wiedereröffnung angeboten hatte. Alle anderen Hexen, auch Alastair, waren zwar regelmäßig vorbeigekommen und hatten ihre Utensilien bei Julie gekauft, statt sie im Internet zu bestellen, aber Margaret hatte ihr bei diesen Gelegenheiten als Einzige auch mal einen Kaffee mitgebracht.

Als alle Mitglieder des Hexenzirkels im Hinterzimmer verschwunden waren, kehrte Julie zu ihrer Arbeit zurück. Doch nachdem sie eine Lücke im Bücherregal aufgefüllt und ein neues Paket Tarotkarten auf den Tisch mit den Wahrsageutensilien gelegt hatte, gab es eigentlich nicht mehr wirklich etwas zu tun. Gerade wollte sie es sich wieder hinter dem Verkaufstresen gemütlich machen und nach ihrer Romanze greifen, da fiel ihr Blick auf die Karten, die Alastair liegen gelassen hatte. Sie durfte nicht vergessen, sie ihm später zu geben. Also legte sie sie in Griffweite neben die Kasse. Sie würde sie auf gar keinen Fall annehmen, egal wie sehr er darauf beharrte.

Dann versuchte sie zu lesen, doch die Karten ließen ihr keine Ruhe. Immer wieder schaute sie zu der bunten Papierhülle hinüber. Diese zeigte die erste Karte der großen Arkana, den Narren. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag fesselte er Julies Aufmerksamkeit.

Sie nahm das Paket in die Hand und betrachtete die Abbildung genauer. Der junge Mann blickte in den Himmel und hatte einen Stock geschultert, an dem ein Bündel mit seinen Habseligkeiten befestigt war. Er sah sorgenvoll aus, aber warum? Er war frei und konnte gehen, wohin er wollte. Julie schüttelte kurz den Kopf über sich selbst. Sie würde doch wohl nicht anfangen, sich mit Tarot zu beschäftigen?

Entschlossen legte sie das Paket beiseite und wandte sich wieder ihrem Roman zu. Doch nachdem sie eine halbe Seite über den kunstvoll küssenden Lord gelesen hatte, schaute sie erneut auf die Karten.

Ach, was soll’s, dachte sie. Was kann schon passieren?

Ihre Tante Laurie hatte immer gesagt, dass Wahrsage­karten, anders als viele magische Rituale, wenigstens kei­­nen direkten Schaden anrichten konnten. In den Hän­den von Menschen, die wie Julie keinen Schimmer von Hexenkräften hatten, dienten sie einzig der Selbster­kenntnis. Man sah nur das, was einem wichtig war, hatte Tante Laurie erklärt. Ein Mann, der sich nach Geld verzehrte, würde in jeder Karte materiellen Gewinn oder Verlust entdecken. Ein Verliebter sah den Ausgang einer Liebesaffäre, und eine Frau, die sich nach Freiheit sehnte, einen Käfig oder die Möglichkeit, dem Gefängnis zu entkommen.

Julie runzelte die Stirn. Was also hatte sie bewogen, den Narren für ein Sinnbild der Ungebundenheit zu halten?

Schluss mit der ewigen Selbstanalyse! Sie hatte ge­­nug davon für drei Leben betrieben. Wann hatte sie das letzte Mal spontan reagiert oder eine Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen? Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Entschlossen legte sie die Karten wieder zurück und vertiefte sich in ihr Buch. Erst als sich die Tür zum ­Hinterzimmer öffnete und die Hexen ­nacheinander he­raustraten, bemerkte sie, wie viel Zeit vergangen war. Draußen war es bereits dunkel, und ihr Nacken schmerzte von der gebeugten Haltung. Aber immerhin wusste sie nun, dass der gut gebaute englische Adelige nicht nur im House of Lords, sondern auch in der Liebe eine ­herausragende Leistung erbrachte. Und mehr als einen ­fiktiven Liebhaber brauchte sie im Augenblick nicht. In einer Kleinstadt wie Yarnville waren gut aussehende Junggesellen Mangelware und wurden heiß umkämpft. Da war ihr die Fantasie eindeutig lieber, als sich Rob, dem Versicherungsvertreter, oder Tim, dem Lehrer, anzubieten.

Die meisten Mitglieder des Hexenzirkels verließen den Laden. Julie legte das Buch zur Seite, um die Tür zu schließen, die Cassandra wie immer offen gelassen hatte. Dann kehrte sie zum Tresen zurück, nahm das Päckchen Karten und sah zu Alastair, der gerade den Mantelkragen hochschlug und ihr zum Abschied freundlich zunickte.

»Du hast da was vergessen«, sagte sie entschlossen und hielt ihm die Tarotkarten entgegen.

Doch Alastair schüttelte den Kopf. »Oh nein, habe ich nicht. Die sind für dich, meine Liebe.«

»Auf gar keinen Fall«, wehrte Julie ab. »Habe ich dir nicht vorhin noch erzählt, was Granny gesagt hat?« Schlagartig kehrte ihre Erinnerung zurück.

»Du bist völlig aus der Art geschlagen«, hatte die alte Frau seufzend gesagt und Julie dabei vorwurfsvoll angesehen. »Ich verstehe das nicht. Deine Mutter war die mächtigste Hexe unserer Familie seit vier Generationen.«

Das hat sie auch nicht davor bewahrt, bei einem Autounfall zu sterben, hatte Julie später oft gedacht. Zuerst war sie traurig gewesen, dass sie nicht einmal ein kleines bisschen der Macht geerbt hatte, über die ihre Mutter angeblich so reichlich verfügt hatte. Aber spätestens, als sie langsam erwachsen geworden war, war sie dankbar gewesen für ihre Normalität. In Ge­­sellschaft einer Tante und einer Großmutter aufzuwachsen, die allgemein als exzentrisch galten, war nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen.

Alastair holte sie wieder in die Gegenwart zurück. »Du solltest es einfach ausprobieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Einzige in der Familie bist, die keinerlei magische Begabung hat.«

»Alastair …«, begann Julie, doch er unterbrach sie.

»Versuch es wenigstens einmal, Julie! Bitte. Ich habe das Gefühl, dass sehr viel mehr in dir steckt, als du vermutest. Es kann nicht leicht gewesen sein, mit zwei so starken Hexen wie deiner Großmutter und deiner Tante aufzuwachsen. Trotzdem solltest du dich nicht unterschätzen.«

Julie schüttelte den Kopf. In all den Jahren hatte sie nicht einen Beweis für die Existenz magischer Fähigkeiten gefunden, der einer wissenschaftlichen Überprüfung standgehalten hätte. Und ihre Granny war ohnehin sehr zurückhaltend gewesen, was Erklärungen anging.

»Man ist eine Hexe oder man ist keine«, hatte sie immer behauptet.

Auch ihre Tante hatte sich geweigert, ihr einen schlag­­kräftigen Beweis zu liefern. »Wenn du nicht daran glaubst, dann nützt das auch nichts«, hatte sie gesagt.

Widerwillig zog Julie die Hand mit den Karten zurück. »Also gut, ich behalte sie.« Sie hatte nicht versprochen, sie auch zu benutzen, aber sie wusste, dass Alastair diese Feinheit bemerkt hatte.

Er seufzte und sah sie bittend an. »Was hast du schon zu verlieren?«

Meine Geduld, dachte Julie, sprach es aber nicht aus. Sie mischte die Karten und legte das Päckchen mit dem Rücken nach oben auf den Tresen. »Ein Mal«, sagte sie bestimmt. »Ich werde es jetzt tun und dann nie wieder. Und du sprichst mich nie wieder darauf an, Alastair, und siehst von allen Versuchen ab, mich von meinen nicht vorhandenen magischen Fähigkeiten zu überzeugen.«

Er nickte. »Ich möchte, dass du mir die Karten legst.«

Einen Moment lang war Julie sprachlos. »Alastair, bitte …« Sie brach ab, denn an seinem Gesichtsausdruck konnte sie sehen, dass jeder Einwand vergeblich war. »Also gut, wenn du darauf bestehst, werde ich es tun. Aber mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn nichts Gescheites dabei herauskommt.«

»Für jemanden, der nicht an die Macht des Tarots glaubt, bist du ganz schön ängstlich«, gab er zurück.

»Ich habe zehn Semester Psychologie studiert«, erinnerte sie ihn ein bisschen schnippisch, »und eine recht genaue Vorstellung davon, wie beeinflussbar Menschen sind. Natürlich kann ich nicht in die Zukunft schauen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du daran glaubst. Und das genügt, um mir ein ungutes Gefühl zu geben.« Herausfordernd sah sie ihn an.

Als er kein Wort entgegnete, gab sie sich einen Ruck und fächerte die Tarotkarten mit einer ungeschickten Handbewegung auf. Langsam ließ sie ihre Linke darüber wandern, so wie sie es bei ihrer Tante gesehen hatte. Nichts passierte. Keine Spur von Wärme, die anzeigte, dass ihre Hand über der »richtigen« Karte schwebte. Also schloss sie die Augen und griff wahllos drei Karten, die für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen sollten. Sie öffnete die Augen wieder, drehte die drei Karten um und legte sie in einer Reihe aus.

Die Vergangenheitskarte war interessant – die Liebenden. Sofort musste Julie an Alastairs Beziehung zu ihrer Tante Laurie denken. Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er rieb sich das Kinn. Die Karte stand allerdings nicht nur für eine Liebesbeziehung, sondern auch für ein rundum erfülltes Leben, so viel wusste Julie.

Die zweite Karte, die Fünf der Kelche, bildete einen starken Kontrast dazu. Eine Gestalt in schwarzem Um­­hang starrte mit gesenktem Haupt auf die Kelche, die umgekippt auf dem sandigen, unfruchtbaren Boden lagen. Ein schmaler Fluss trennte die Person von einer Burg, die im Hintergrund thronte und unerreichbar fern lag. Diese Karte symbolisierte Trauer und Schmerz, der zum alles beherrschenden Element im Leben des Ratsuchenden wurde.

Julie wagte es nicht, Alastair anzusehen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling in seine Privatsphäre, denn auch diesmal schien ihr die Deutung direkt mit Tante Laurie verbunden zu sein. Und obwohl sie ihre langjährige Skepsis wie einen schützenden Mantel trug, konnte sie einen kleinen Schauder nicht unterdrücken.

Das letzte Bild allerdings, Alastairs Zukunft, war wirklich bedrohlich. Es war eine der düstersten Karten überhaupt, die Zehn der Schwerter. Sie zeigte einen Mann, der am Boden lag und von den Schwertern ­gnadenlos durchbohrt wurde. Über ihn war ein rotes Kleidungsstück drapiert, das aber ebenso gut für Ströme von Blut stehen konnte. Am meisten beunruhigte Julie jedoch der schwarze Horizont. Leere und Hoffnungs­losigkeit gingen von ihm aus.

In dieser Karte sah Julie mehr als nur eine depressive Phase, die vorübergehen würde. Die Schwerter, die den Mann am Boden festnagelten, verhinderten jede Bewegung; er war gefangen in seinem Schmerz und es gab keine Aussicht auf Hilfe. Im Tarot gab es auch den Tod als eigenständige Karte, aber sie war im Vergleich zu dieser hier ein echter Lichtblick.

Julie schluckte und versuchte, sich ihre Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Hoffentlich nahm sich Alastair diese deprimierenden Aussichten nicht allzu sehr zu Herzen. Doch anders als sie glaubte er an diesen verflixten Hokuspokus. Merkwürdigerweise wirkte er nicht besonders betroffen, sondern eher gelassen, ganz so, als habe sie seine Erwartungen erfüllt.

»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte sie und schob die Karten wieder zusammen.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin.« Er sah sie forschend an. »Dir mögen diese Karten Angst machen, aber für mich sind sie der Beweis, dass in dir verborgene Kräfte schlummern. Und das, ma Chère, macht mich wahrhaft glücklich. Ich habe immer an dich geglaubt, im Gegensatz zu dir selbst. Versprich mir, dass du weiter mit den Karten arbeitest, selbst wenn ich nicht da bin, um dich anzutreiben«, sagte er eindringlich.

Julie fiel es schwer, ihm zu widerstehen. In diesem Moment konnte sie nur zu gut nachvollziehen, was Tante Laurie an ihm gefunden hatte. Plötzlich war sie froh, dass sie ihm den kleinen Gefallen getan hatte. Außerdem – er wirkte zwar fit und gesund, aber er war inzwischen auch nicht mehr der Jüngste. Ein ungutes Gefühl breitete sich in Julies Magen aus. Lag es an seinem letzten Satz oder an den Karten?

»Ich verspreche es dir«, sagte sie schließlich. »Aber du wirst sicher noch viele Male vorbeischauen, um mich zu ärgern.«


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