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KAPITEL 7

Der Turm

In der Sekunde, als sie die Augen aufschlug, wusste Julie, dass etwas nicht stimmte. Der Traum vom Feuer war zurückgekehrt, intensiver noch als beim ersten Mal. Diesmal verging der Schmerz an ihren Fußsohlen nicht. Wie eine alte Frau humpelte sie ins Bad und stöhnte erleichtert auf, als sie sich auf dem Rand der Badewanne niederließ. Mit geschlossenen Augen genoss sie einen Moment lang die Kühle der Fliesen, bevor sie prüfend die Zehen bewegte. Die Haut spannte, und es tat immer noch weh. Ihr Herzschlag stockte, nur um dann doppelt so schnell wie normal wieder einzusetzen.

Ganz ruhig, ermahnte sie sich. Versuch, logisch zu denken! Was könnte den Schmerz verursacht haben?

Es musste Einbildung sein. Ganz klar, die Verletzungen waren nicht echt. Sie stammten aus dem Traum. Ähnlich wie Stigmata, bei denen die Wundmale Christi am Körper von Gläubigen ohne erkennbare äußere Ein­­wirkung auftauchten, musste ihr Schmerz eine psychogene Ursache haben. Wann war er zum ersten Mal aufgetreten?

Julie rieb sich über die Nasenwurzel und versuchte sich zu erinnern, ob die Feuerträume begonnen hatten, nachdem sie die Voodoopuppen auf dem Friedhof entdeckt hatte. Das wäre die bequemste Lösung, denn in diesem Fall war die Erklärung eine logische: Die Puppen hatten ihr eine solche Angst bereitet, dass ihr Unterbewusstsein die Bedrohung während des Träumens in körperliche Empfindungen umgesetzt hatte. Julie schnaubte und lachte heiser.

Was, wenn es keine logische Erklärung gab? Was, wenn es Hexerei wirklich gab? Sie dachte an ihre wachsende Treffsicherheit beim Kartenlegen, an das immer stärker werdende Gefühl, dass die Karten zu ihr sprachen – auf eine Weise, die sie nicht erklären, nur fühlen konnte. Sie wisperten ihr Geheimnisse zu, während die Fragende sie mit einer Hoffnung ansah, die tief in ihr Herz schnitt.

Die Türklingel riss Julie aus ihren Überlegungen. Sie warf sich den alten Morgenmantel über, vergewisserte sich, dass der Knoten fest genug saß, und lief die Treppe hinunter. Kurz registrierte sie, dass der Schmerz an ihren Fußsohlen verschwunden war, bevor die Erleichterung wieder verflog. Was erwartete sie, wenn sie jetzt die Tür öffnete? Normalerweise bekam sie so früh am Morgen keinen Besuch. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich einen weiteren verkohlten Leichnam vorstellte. Wen hatte es diesmal getroffen? Hoffentlich nicht Cassandra, betete sie im Stillen. Trotz ihrer Allüren mochte sie die junge Frau. Hätte Julie sie bitten sollen, bei ihr zu wohnen, bis die Polizei den Mörder gefasst hatte?

Am Fuße der Treppe blieb sie stehen. Gegen das weiche Licht der Morgensonne, das durch den Glaseinsatz der Tür fiel, zeichneten sich drei eindeutig ­männliche Silhouetten ab. In einer davon erkannte sie Chief ­Parsons, daneben schimmerte ein roter Schopf. Das musste Red sein. Was wollten sie von ihr, und wer war der dritte Mann? Sollte sich ihre Befürchtung tatsächlich als wahr herausstellen? Also gut, es gab nur einen Weg, es herauszufinden.

Julie öffnete die Tür und erschrak. Red stand mit erhobener Faust vor ihr. Offenbar hatte er gerade an die Tür donnern wollen. Er lächelte verlegen und ließ den Arm sinken. Julie schaute von ihm zu Chief Parsons, dessen buschige Augenbrauen finster zusammengezogen waren. Seine Lippen unter dem Walrossschnauzer waren fest zusammengepresst. Welche Laus war ihm denn über die Leber gelaufen?

Es war der dritte Mann, der Julies Knie weich vor Angst werden ließ. Er stand etwa zwei bis drei Meter entfernt. Julie hatte kaum einen Blick auf ihn geworfen, als plötzlich sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten. Seine hochgewachsene Gestalt schien für den Bruchteil einer Sekunde in Flammen aufzugehen und der Geruch von Rauch wehte zu Julie herüber.

Ihr stockte der Atem und ihr erster Impuls war, wegzulaufen. Mit aller Kraft kämpfte sie dagegen an und hielt sich zur Sicherheit am Türrahmen fest. Der Mann kam näher und betrachtete sie interessiert. Bewusst langsam löste Julie die Finger vom Holz und griff stattdessen nach dem weichen, vertrauten Stoff ihres Morgen­­mantels. Unwillkürlich zog sie den Kragen vor der Brust zusammen und trat einen Schritt zurück.

»Julie«, begann Red und machte eine Geste, als wolle er sie an sich drücken.

Chief Parsons räusperte sich übertrieben laut und Red senkte die Arme wieder. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um Julies schlimmste Befürchtungen zu be­­stätigen.

»Wer?«, brachte sie mit krächzender Stimme heraus.

Niemand antwortete ihr. Stattdessen schob der hochgewachsene Typ die beiden anderen zur Seite und kam noch einen Schritt auf sie zu.

»Julie Mireau?« Seine Stimme war tief und angenehm, aber die blauen Augen blickten kalt und schienen jedes Detail zu erfassen.

Julie nickte stumm.

Der Mann wandte sich an Chief Parsons und Red: »Vielen Dank für die Hilfe, ich komme jetzt allein klar.« Sein Ton machte deutlich, dass er von ihnen erwartete, augenblicklich zu verschwinden.

Chief Parsons betrachtete ihn missbilligend, tippte sich dann aber an den imaginären Hut und wandte sich zum Gehen.

Red zögerte. »Das ist ein Kollege aus … New York«, erklärte er.

Verwirrt sah Julie zuerst ihn und dann den Fremden an. Er wirkte nicht wie ein Feuerwehrmann, eher wie ein Cop oder ein Soldat. Oder war er ein speziell geschulter Brandermittler, wie man sie aus den Krimiserien im Fernsehen kannte? Aber würde ein New Yorker Brandspezialist tatsächlich in Yarnville Amtshilfe leisten? Wohl kaum.

»Sein Name ist Blair«, sprach Red weiter. »Er hilft uns bei den Ermittlungen.«

Chief Parsons drehte sich noch einmal um. Ihm war deutlich anzusehen, was er von dieser Einmischung hielt.

»Wenn du was brauchst«, sagte Red, »ruf mich an! Du hast ja meine Nummer.«

»Und ich werde später noch einmal bei Ihnen im Laden vorbeischauen«, versicherte Chief Parsons.

Gerührt schenkte Julie ihm ein Lächeln. Ihr war gerade bewusst geworden, was das Verhalten der beiden bedeutete: Sie war angekommen. Jetzt war sie ein Teil von Yarnville, war es vielleicht sogar immer gewesen. Und wenn jemand wie Mr Blair von außen kam und sich in ihre Angelegenheiten einmischte, dann machte man ihm klar, dass er unter Beobachtung stand.

»Entschuldigung, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen«, sagte Mr Blair, nachdem die Männer endlich gegangen waren. Es klang nicht so, als würde er es ernst meinen. »Mein Name ist Madoc Blair, ich komme vom New York Police Department. Chief Parsons und Mr van Buren waren so freundlich, mich hierherzube­gleiten. Könnten wir vielleicht ins Haus gehen?« Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung.

»Können Sie sich ausweisen?«, forderte Julie und überlegte. Van Buren musste Red sein – merkwürdig, dass sie sich nie gefragt hatte, wie er mit vollem Namen hieß. »Und wieso ist plötzlich die New York Police hier zuständig?« Die Furcht ließ sie schnippisch werden, aber alles war besser, als sich von diesem unverschämten Typen tyrannisieren zu lassen.

Mr Blair zuckte die Achseln. »Dazu kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«

Was für ein sympathischer Typ, dachte Julie, dann sagte sie: »Aber Sie können sich doch sicherlich ausweisen, oder? Und überhaupt: Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Muss ich meinen Anwalt anrufen?«

Jetzt kam zum ersten Mal Leben in Mr Blairs versteinerte Gesichtszüge. Er rollte demonstrativ mit den Augen, und Julie bemerkte, dass sie eindeutig über­reagiert hatte. Nicht mit einem Wort hatte er davon gesprochen, sie festzunehmen. Außerdem wäre Chief Parsons in diesem Fall wohl kaum gegangen.

»Der Reihe nach«, sagte Mr Blair. »Selbstverständlich habe ich einen Ausweis.« Er hielt ihr ein Plastikkärtchen unter die Nase, gerade lange genug, dass sie sein Gesicht darauf erkennen konnte.

Bevor er es wieder in seiner Brusttasche verschwinden lassen konnte, griff sie nach seinem Handgelenk. Seine Haut war außergewöhnlich warm, fast so, als hätte er Fieber. Hastig warf sie einen Blick auf das Kärtchen und ließ ihn los. Mit dem Ausweis schien alles seine Ordnung zu haben.

Mr Blair hob eine Augenbraue. »Zu Ihrer ­nächsten Frage: Brauche ich denn einen Durchsuchungsbefehl?« Ohne ihr Gelegenheit zum Antworten zu geben, sprach er weiter: »Und brauchen Sie einen Anwalt, Miss Mireau?« Seine Stimme klang trügerisch sanft, aber Julie ließ sich nicht eine Sekunde lang täuschen.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte sie kühl. »Also, was kann ich für Sie tun, Mr Blair?«

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen zum Tod von Jolene Fletcher und dem Feuer von gestern Nacht.« Er deutete auf ihre nackten Füße. »Allerdings würde ich es vorziehen, das drinnen zu tun, es sei denn, Sie legen es darauf an, sich einen Schnupfen zu holen.«

»Kommen Sie rein!«, sagte Julie resigniert. »Aber zuerst sagen Sie mir, was passiert ist! Bitte!« Sie hasste den flehenden Tonfall, aber sie ertrug die Ungewissheit keine Sekunde länger.

»Margaret Phillips ist in der Nacht durch ein Feuer ums Leben gekommen.«

»Margaret ist tot? Das kann nicht sein!« Auf einmal hatte Julie das Gefühl, als würde sich alles um sie herum drehen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Mr Blair.

»Was denken Sie denn? Zwei gute Bekannte wurden getötet. Natürlich geht es mir nicht gut, Sie Idiot!«

Zu ihrer Überraschung blitzte etwas in seinen Augen auf, das einem Funken Anerkennung glich. Seine Lippen zuckten.

Julie drehte sich um und ging voraus in die Küche. »Setzen Sie sich!«, sagte sie dort und deutete auf einen der Stühle.

Mr Blair nahm Platz. Unter seinem Gewicht ächzte der alte Stuhl. Mr Blair war nicht dick, aber mindestens ein Meter neunzig groß und ausgesprochen muskulös.

In Julies Kopf tauchten tausend Fragen auf, die sie nicht zu stellen wagte. Sie spürte den Puls an ihrem Hals heftig schlagen. Als Mr Blairs Augen sich auf diese Stelle richteten, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Schnell hielt sie die Hand vor ihren Hals.

»Kaffee?«, fragte sie kurz angebunden. Im Moment brachte sie keine langen Sätze zustande.

Mr Blair nickte stumm. Während der Kaffee durch die Maschine lief, musterte Julie ihn. In dem winzigen Raum wirkte er wie ein Raubtier in einem viel zu kleinen Käfig. Seine Augen waren kühl und wachsam, fast so, als erwarte er jederzeit einen Angriff.

Erst als Julie Kaffee, Milch und Zucker vor ihm abstellte und sich ihm gegenüber niederließ, wurde sein Blick etwas freundlicher. Julie zwang sich, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, obwohl er sie ein wenig nervös machte. Sein Schweigen irritierte sie, aber sie weigerte sich, das Wort zu ergreifen. Er wollte schließlich etwas von ihr. Wenn er es darauf anlegte, konnten sie hier sitzen und einander bis zum Sankt Nimmerleinstag anstarren.

»Wo waren Sie in der Nacht vom Dritten des Monats auf den Vierten zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens?«, begann er endlich.

Julie zuckte zusammen, obwohl sie die Frage erwartet hatte. »Hier. Ich habe geschlafen.«

»Wie sieht es mit der vergangenen Nacht aus?«

»Genauso.«

»Gibt es dafür einen Zeugen?«, wollte Mr Blair wis­­sen. Seine Stimme klang unbeteiligt, fast schon gelangweilt.

»Nein. Ich lebe allein.« Plötzlich wurde ihr bewusst, was seine Frage eigentlich bedeutete. »Heißt das, Sie verdächtigen mich, Jolene und Margaret durch einen ­Brandanschlag getötet zu haben? Das ist absurd!«

Mr Blair griff nach der Zuckerdose, gab zwei gehäufte Löffel in seinen Kaffee und rührte um. »Was genau finden Sie daran absurd, Miss Mireau? Das Töten oder das Feuer als Waffe?«

»So war das nicht gemeint«, protestierte Julie und versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen. Sie zitterte am ganzen Körper. Schließlich holte sie tief Luft. »Um es mal ganz klar zu formulieren: Ich habe keine der beiden getötet. Punkt!«

»Der Gedanke ist keineswegs abwegig, Miss Mireau. In den meisten Fällen stammen die Täter aus dem ­engsten Umfeld der Opfer, und jeder Ermittler stellt sich als Erstes die Frage, wer von deren Tod profitiert.«

»Das ist doch totaler Unsinn!«, wehrte Julie sich. »Ich profitiere in keiner Weise vom Tod der beiden.« Sie stockte. »Also, das nehme ich zumindest an. Ich meine, es gibt keinen Grund, warum ich etwas von ihnen erben sollte. Denn ich zähle mich auch nicht zu ihrem engsten Umfeld. Wir waren gute Bekannte, mehr nicht.«

Mr Blair verzog keine Miene. »Ich habe gehört, dass Sie vor ein paar Tagen eine Auseinandersetzung mit Margaret Phillips hatten. Stimmt das?«

»Nun, ich würde es nicht als Auseinandersetzung bezeichnen. Margaret war der Meinung, dass …« Julie stockte. Wie sollte sie es formulieren, ohne als völlig verrückt dazustehen? »Hier in der Nähe von Salem treibt die Fantasie der Menschen manchmal skurrile Blüten«, sagte sie nach einer Weile. »Margaret hatte wohl Angst, dass es zu einer Art Neuauflage der Hexenprozesse käme. Sie wissen, dass sowohl Jolene als auch Margaret sich für Hexen hielten?«

Mr Blair nickte.

»Jedenfalls sprach Margaret von Salem und von Hexenjägern«, erklärte Julie und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Was hatte Margaret genau gesagt? Es wollte ihr nicht einfallen.

»Auf die Tatsache, dass Jolene durch ein Feuer starb, reagierte Margaret beinahe hysterisch«, fuhr Julie fort. »Ich habe nur versucht, sie zu beruhigen, nichts wei­ter.«

»Und warum sollte sie ausgerechnet Ihnen von ihrer Angst erzählen, wenn Sie beide doch nichts als gute Bekannte waren?«

Julie seufzte. »Sie verstehen das nicht.«

»Dann erklären Sie es mir! Ich bin ein guter Zuhörer.«

»In Ordnung, aber ich muss etwas weiter ­ausholen: Als die Hexenverfolgungen in Salem Ende des 17. Jahrhunderts immer schlimmer wurden, beschlossen eini­­ge der alteingesessenen Familien zu flüchten. Zu viele Frau­­en waren bereits eingesperrt, gefoltert und ver­­brannt worden. Damals glaubte man an die Macht der Hexerei.«

»Und heute nicht mehr?«, warf Mr Blair ein. »Das erscheint mir merkwürdig aus dem Mund einer Frau, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf esoterischer Bücher und Hexereibedarf verdient.«

Julie schluckte. Aber er klang eher neugierig, nicht anklagend oder verächtlich. Sie musste unbedingt aufhören, immer nur das Schlimmste von ihrer Umwelt zu erwarten.

»Da haben Sie recht«, gab sie zu. »Jedenfalls wollten die Überlebenden damals nicht aufgeben, und so gründeten sie in einiger Entfernung zu Salem eine neue Stadt, in der ausschließlich Hexenfamilien lebten.«

»Ich nehme an, das war Yarnville«, stellte Mr Blair trocken fest.

Julie nickte.

»Und wahrscheinlich kann heute jeder zweite Einwohner seine Herkunft auf die Hexen von Salem zurückführen«, fuhr Mr Blair fort.

»Sie sollten es tunlichst vermeiden, von den Hexen von Salem zu sprechen«, riet Julie ihm. »Aber Sie haben recht, die meisten der hier ansässigen Familien stammen von denjenigen ab, die damals vor den Hexenprozessen flohen. Unsere Beziehung zu Salem ist deshalb, sagen wir mal, zwiespältig. Wenn man in Yarnville von magisch begabten Personen spricht, bevorzugt man die Bezeichnung ›Hexen von Maine‹.«

Mr Blair musterte sie spöttisch. »Und Sie? Wie passen Sie ins Bild? Sind Sie auch eine Hexe von Maine?«

»Nein.« Julie fragte sich, wie viel sie ihm erzählen konnte. Ihm die Geschichte ihrer Familie zu verheimlichen war Unsinn, denn jeder in Yarnville kannte sie. »Aber wenn ich an Hexerei glauben würde, wäre ich nicht eine, sondern die Hexe von Maine«, sagte sie schließlich. »Die Frauen in meiner Familie galten als besonders mächtig und erhielten somit diesen, nun ja, Ehrentitel. Wahrscheinlich verstanden sie es besonders gut, den Leuten das Spektakel zu bieten, das sie erwarteten.«

»Ich weiß, dass Sie Psychologie studiert haben«, bemerkte Mr Blair. »Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass auch ein gewisses Einfühlungsvermögen in Ihrer Familie liegt. Psychologie wird von manchen Menschen auch die moderne Form der Hexerei genannt, wussten Sie das?«

»Nein«, gab Julie zu und spürte, wie sie sich ein wenig ­entspannte.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich um­­schaue?«

Seine Frage traf sie völlig unerwartet. Er hatte also mit seinem Gerede nur eines erreichen wollen: dass sie begann, ihm zu vertrauen. Und das hatte er auch geschafft, wie sie zugeben musste. Sie hatte ihm viel zu viel erzählt.

»Bleibt mir denn eine Wahl? Nur zu! Gehen Sie und wühlen Sie in meiner Unterwäsche! Ich hoffe, das macht Ihnen Spaß. Vielleicht liegt ja ein Benzinkanister da­­zwischen.«

Täuschte sie sich oder verzogen sich seine Lippen wirklich zu einem Lächeln? Widerwillig nahm sie zur Kenntnis, wie gut es ihm stand. Es relativierte seine ­statuenhafte Attraktivität und ersetzte sie durch etwas, das tausendmal anziehender und vitaler war.

Ich wette, wenn er es darauf anlegt, kann er jede Frau um den Finger wickeln, überlegte sie.

Mr Blair erhob sich und stieß mit dem Kopf an die Lampe. Jetzt musste sie grinsen, obwohl sie sich am liebsten in die Ecke gesetzt und einfach nur geheult hätte.

Während Mr Blair sich umsah, wie er es nannte, ging sie ins Bad und zog sich an. Es war schon nach neun und sie würde definitiv zu spät kommen, um den Laden pünktlich zu öffnen.

Was soll’s, dachte sie und verzichtete für den heutigen Tag auf Make-up.

Die Dielen des alten Hauses knarrten, während Mr Blair sich von Raum zu Raum bewegte. Plötzlich verstummte das Geräusch. Eine Weile war gar nichts zu hören. Vorsichtig drückte Julie die Türklinke herunter und trat einen zögernden Schritt in das angrenzende Schlafzimmer. Dort stand er vor ihrem Bett und starrte das rote Seidentuch auf ihrem Nachttisch an, in das sie die Tarotkarten gewickelt hatte. Schließlich beugte er sich hinab und schlug das Tuch behutsam auseinander.

»Ah, der Turm liegt obenauf. Ihr Leben wird eine radikale Veränderung erleben, Miss Mireau«, bemerkte er leichthin, ohne aufzusehen.

»Sie kennen sich mit Tarotkarten aus?«, fragte Julie verwundert.

Nun schaute er doch auf und sein kühler Blick traf sie. »Sicher nicht so gut wie Sie.«

Ablehnend hob Julie die Hand. »Ich habe Ihnen doch vorhin erzählt, dass ich nicht an diesen Kram glaube. Nur zu Ihrer Information: Der Laden ist das Erbe meiner Tante. Ich verdiene jetzt meinen Lebensunterhalt damit, nichts weiter.« Das Zwicken in ihrem Magen wies sie darauf hin, dass das nicht mehr hundertprozentig der Wahrheit entsprach.

Mr Blair grinste. »Margaret hat mir schon gesagt, dass Sie eine Skeptikerin sind.«

Langsam sickerte die Bedeutung seiner Worte in Julies Bewusstsein. »Heißt das, Sie kannten sie?«

»Natürlich. Sie rief mich ein paar Tage vor ihrem Tod an und bat mich, hier vorbeizuschauen.«

Julie zuckte zusammen. Wo war sie da nur hineingeraten? Er war offenbar doch einer dieser Menschen, die an Hexerei glaubten. Vermutlich war er der Meister eines befreundeten Zirkels oder so etwas in der Art.

»Halten Sie sich etwa auch für einen Hexer?«, platzte sie heraus und genierte sich sofort für ihre Frage.

Verwirrt starrte er sie an. »Margaret hat mir vor vielen Jahren bei einem Fall geholfen. Seitdem standen wir in losem Kontakt.«

Also gut, vielleicht hatte sie sich getäuscht und er war doch einfach nur ein Polizist. Der Gedanke beruhigte sie irgendwie.

»Ich muss jetzt los. Sind Sie fertig hier?«

»Ja«, war seine knappe Antwort.

Gemeinsam gingen sie ins Erdgeschoss hinunter. Auf der engen Treppe streifte sein Arm ihre Schulter. Sofort spürte sie eine immense Hitze, die sich in ihrem Rücken ausbreitete. Was zur Hölle war das? Unwillkürlich ­fass­te sie sich an die Schulter, aber bis auf eine angenehme Wärme war dort nichts mehr zu fühlen. Sie blieb stehen.

»Was haben Sie da gemacht?«, fragte sie.

Mr Blair, der weitergegangen war, hielt zwei Stufen unter ihr an und drehte sich zu ihr. »Was, bitte schön, soll ich getan haben?«

»Nichts«, wehrte Julie ab. Sie musste sich getäuscht haben.

Während Julie den Schlüssel zwei Mal herumdrehte – sicher war sicher –, wartete Mr Blair am Straßenrand auf sie. »Was ist denn?«, wollte sie wissen. Langsam ging ihr dieser Typ auf die Nerven.

Sein Gesicht hatte einen überaus ernsten Ausdruck angenommen. Man könnte fast glauben, dass er sich Sorgen um sie machte.

»Ich wollte Ihnen noch etwas sagen, Miss Mireau: Ich denke nicht, dass Sie etwas mit den Morden zu tun haben.«

»Oh, da bin ich aber froh«, erwiderte Julie patzig, aber im Grunde war sie wirklich erleichtert.

»Sie sollten dennoch gut auf sich aufpassen«, fuhr er fort. »Da draußen läuft jemand herum, der es auf Hexen abgesehen hat, und Sie …«

»Ich habe keine magischen Kräfte«, unterbrach ihn Julie und betonte jede Silbe. »Wie oft soll ich es denn noch sagen?«

Finster starrte er sie an. »Und Sie verkaufen in Ihrem Laden jede Menge Zeug, das man für weiße Magie braucht«, beendete er seinen Satz. »Außerdem legen Sie Tarotkarten. Ich hörte, dass Ihre Trefferquote ganz gut ist. Abgesehen davon – ob Sie an Hexerei glauben oder nicht, spielt keine Rolle. Der Mörder jedenfalls tut es. Deshalb rate ich Ihnen, vorsichtig zu sein.«

»Ist das jetzt der Punkt, an dem Sie mir sagen, dass ich mitten in der Nacht keinen Fremden ins Haus lassen soll?«

»Hören Sie!« Nun schien auch Mr Blairs Geduld am Ende zu sein. »Meiner Meinung nach hat sich jemand zum Ziel gesetzt, den Hexenzirkel dieser beschaulichen kleinen Stadt zu vernichten. Und man hält auch Sie für eine Hexe. Das dürfte dem Killer genügen.«

»Sie glauben doch nicht wirklich, dass mehrere Hundert Jahre nach den Hexenprozessen jemand die In­­quisition wiederbelebt? Mann, wir leben im 21. Jahrhundert!« Julie schüttelte den Kopf.

Er griff nach ihrem Handgelenk, und wieder schoss die Hitze in ihren Körper. Sie schmerzte nicht, irritierte Julie aber.

»Versprechen Sie mir einfach nur, dass Sie gut auf sich aufpassen, ja?« Damit ließ er sie los und holte eine Karte aus der Innentasche seiner Jeansjacke.

Julie nahm sie, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, und steckte sie ein. Dann verabschiedete sie sich.


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