Читать книгу Die Fälle der Shifter Cops - Natalie Winter - Страница 12
ОглавлениеKAPITEL 5
Der Tod
Als Julie endlich am Laden ankam, war es ihr gelungen, sich ein wenig zu beruhigen. Ihre Hände zitterten nicht mehr und der Schlüssel traf das Schloss beim ersten Versuch. Sie holte den Aufsteller heraus, den sie wie jeden Tag am Straßenrand postierte, und wollte gerade wieder hineingehen, als sie bemerkte, wie Cassandra auf sie zu eilte. Im Gegensatz zum Vortag wirkte sie, als sei sie eben aus dem Bett gesprungen. Ihr platinblondes Haar war zu einem nachlässigen Zopf gebunden, und sie trug Jeans und ein ausgewaschenes Sweatshirt. Ohne Make-up sah sie unglaublich jung und verletzlich aus. Als sie Julie erreicht hatte, warf sie sich weinend in ihre Arme.
Ein wenig hilflos klopfte Julie ihr auf den Rücken. »Ist ja schon gut«, murmelte sie.
In ihrem aufgelösten Zustand hatte Cassandra nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der selbstbewussten Hexe, die am Vorabend so gut gelaunt den Laden verlassen hatte. Julies Bauchgefühl sagte ihr, dass das hier kein Fall von verheerendem Liebeskummer war. Warum auch hätte Cassandra ausgerechnet bei ihr Trost suchen sollen? Nein, gewiss steckte etwas anderes dahinter. Schaudernd dachte Julie an ihren Friedhofsfund und wünschte, sie hätte die Puppen an Ort und Stelle verbrannt.
»Was ist denn los?«, fragte sie vorsichtig, als Cassandras Schluchzen endlich nachließ, doch die junge Frau antwortete nicht. »Okay, dann lass uns wenigstens in den Laden gehen und ich mache dir einen Tee«, versuchte sie es weiter. »Ich könnte selbst einen gebrauchen.« Oder etwas Stärkeres, dachte sie, aber Whiskey am Vormittag kam nicht in Frage. Sie ahnte, dass sie in den kommenden Stunden einen klaren Kopf brauchen würde.
Also nahm sie Cassandra am Arm, führte sie ins Itchy Witchy, schaltete im Vorbeigehen das Licht an und setzte die junge Frau in einen Sessel. Dann drehte sie das »Geöffnet«-Schild nach außen und startete den Kassencomputer. Es war noch zu früh für die Touristen, sie konnte sich also gut ein wenig Zeit für Cassandra nehmen. Im Moment war die allerdings nicht in der Lage, ihr etwas mitzuteilen.
»Ich bin gleich zurück«, sagte Julie und reichte Cassandra eine Packung Papiertaschentücher. Dann ging sie ins Hinterzimmer und setzte Teewasser auf. Kurze Zeit später brachte sie Cassandra einen Kamillentee mit besonders viel Honig. »Erzählst du mir jetzt, was los ist?«
Cassandras Tränen begannen erneut zu fließen. »Jolene …«, begann sie, bekam aber nicht mehr als dieses eine Wort heraus. Sie schnäuzte sich einmal und atmete tief durch.
»Schon gut. Trink deinen Tee, danach wird es dir besser gehen«, sagte Julie in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall.
Cassandra hörte auf zu schluchzen, doch die hektischen roten Flecken auf ihren Wangen verrieten, wie aufgeregt sie noch immer war. »Ich hatte eine schlimme Nacht«, erklärte sie, »ich war dauernd wach.« Ihre Hände zerpflückten das Taschentuch in winzige Stücke.
Julie reichte ihr ein neues.
»Wenn ich mal geschlafen habe, habe ich schlecht geträumt«, fuhr Cassandra fort. »Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt, aber ich dachte, es wäre nichts weiter als ein böser Traum. Kennst du das, wenn du nachts aufwachst und spürst, wie sich die dunkle Energie über deinem Kopf sammelt? Bestimmt …«
»Cassandra«, unterbrach Julie sie ungeduldig. »Was ist passiert? Du kannst mir später von deinen Träumen erzählen, aber jetzt möchte ich wissen, warum du so …« Sie suchte nach einem passenden Wort.
Schockiert? Ja, aber das war noch nicht alles. Traurig? Auch das, aber Cassandra strahlte noch so viel mehr aus und Julie kannte sie nicht gut genug, um das, was sie fühlte, beim Namen zu nennen.
»Ich möchte wissen, warum du so außer dir bist«, sagte sie schließlich. »In kurzen Sätzen, bitte. Was ist geschehen?«
»Ich habe heute Morgen Red beim Bäcker getroffen«, begann Cassandra leise, und sofort füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.
Julies Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie ahnte, dass etwas Katastrophales passiert sein musste.
»Es gab einen Brand in Jolenes Haus, und man hat eine Leiche gefunden. Red sagt«, Cassandras Stimme zitterte, »es ist Jolene.«
Julie hatte das Gefühl, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. »Das kann nicht sein.« Ihr wurde eiskalt, als sie an die Karten dachte, die sie Alastair gelegt hatte. Andererseits bedeutete es nicht unbedingt, dass sie sein Schicksal gesehen hatte. Bestimmt war es zu weit hergeholt, wenn sie Jolenes Tod damit in Verbindung brachte, auch wenn die beiden sich gekannt hatten. Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. »Wie kann Red sich sicher sein, dass es sich bei der Toten um Jolene handelt?«, fuhr sie fort. »Ich dachte immer, Brandopfer …« Doch noch während sie sprach, wusste sie, dass es stimmte. Ihr wurde übel.
»Red sagt, man muss natürlich die Untersuchung abwarten, um die Leiche eindeutig zu identifizieren. Aber er schien sich ziemlich sicher zu sein. Es gab wohl keine Hinweise auf die Anwesenheit Außenstehender.« Cassandra lachte bitter. »Er wirkte irgendwie abgeklärt. Wie kann das sein? Ich meine, das war Jolene, unsere Hexenschwester, die in den Flammen gestorben ist.« Sie schauderte, und obwohl Julie diesen Ausbruch etwas melodramatisch fand, musste sie ihr im Grunde zustimmen.
»Du weißt doch, wie er ist. Nie Gefühle zeigen, nur das Nötigste sagen. Ich bin mir sicher, dass er auf seine Art genauso um sie trauert wie du und ich.«
Aber Cassandra ließ sich nicht beruhigen. »Was soll nun aus uns werden?«, jammerte sie. »Wir werden immer weniger. Jolene wusste stets, was zu tun war, wenn ein Zauber danebenging oder einer von uns Probleme hatte. Und wer sollte sie so sehr hassen, dass er sie bei lebendigem Leib anzündet?«
Julie zuckte zusammen. »Moment mal! Was soll das heißen? Ich dachte, es war ein Unfall.« Nun tanzten die Bilder der Karten, die sie Alastair am Vorabend gelegt hatte, vor ihrem inneren Auge – eine war der Tod gewesen.
Cassandra schüttelte so heftig den Kopf, dass sich einige Strähnen aus ihrem Zopf lösten. »Nein. Red sagt …« Sie schluckte. »Also sein Chef ist der Meinung, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist und jemand das Feuer gelegt hat. Das Merkwürdige ist nur, dass es sich so rasch ausgebreitet hat. Es ist wohl schneller als normal heiß geworden.«
Das klang wirklich merkwürdig. Wie schnell konnte ein Feuer denn heiß werden? Julie beschloss, Red anzurufen, sobald sich Cassandra ein wenig von dem Schock erholt hatte. Sie wollte die Fakten wissen. Jolenes Tod ging auch ihr nah. Zwar war sie nicht gerade eng mit ihr befreundet gewesen, aber sie hatte sie sehr gemocht.
Nach der vierten Tasse Tee wagte sie es endlich, Cassandra nach Hause zu schicken. Zu diesem Zeitpunkt strömten aber bereits massenweise kaufwillige Touristen ins Itchy Witchy und Julie hatte keine Gelegenheit mehr, Red telefonisch zu erreichen. Um die Mittagszeit, als es ruhiger wurde, war sie fix und fertig. Sie brauchte unbedingt jemanden, der ab und zu im Laden aushalf, aber für heute war es genug. Sie begleitete die letzte Kundin, die sich nach langem Hin und Her für ein Buch über Traumdeutung entschieden hatte, zur Tür und drehte das »Geschlossen«-Schild nach außen. Um ein wenig abzuschalten, wischte sie Staub, sortierte falsch eingeräumte Bücher um und genoss die Stille.
Myrtle war schließlich die Erste, die sich von dem Schild nicht abhalten ließ und an die Fensterscheibe klopfte. »Wie schön, dass du den Laden im Gedenken an Jolene geschlossen lässt«, lobte sie, nachdem Julie ihr die Tür geöffnet hatte.
Sie bat sie herein und hoffte, nicht allzu ertappt auszusehen. Myrtle hatte ihre Beweggründe völlig falsch gedeutet.
In der nächsten Stunde kamen auch Red und Margaret ins Itchy Witchy. Sie wirkten irgendwie verloren und suchten Trost, den Julie bereitwillig spendete. Es tat ihr unerwartet gut, über Jolene zu sprechen, auch wenn die Geschichten über deren Rolle im Hexenzirkel an ihren Nerven zerrten. Jolene hatte sie oft an ihre »Hexenpflicht« erinnert, doch sie hatte nie vergessen zu sagen, dass sich am Ende alles fügen würde.
»Du brauchst wahrscheinlich noch ein bisschen Zeit, das ist alles. Irgendwann wirst du erkennen, was du wirklich willst«, hatte sie prophezeit.
Natürlich war sie wie alle anderen fest davon überzeugt gewesen, dass sie genau wusste, was Julie wollte und brauchte, das war Julie klar. Auch ihre Tante hatte das geglaubt und gemeint, dass Julies Platz in Yarnville war. Und hatte sie selbst nicht heute Morgen noch überlegt, ob Laurie vielleicht sogar recht gehabt hatte?
Der Gedanke an ihre Tante rief ihr das Ding ins Gedächtnis zurück, das noch immer in ihrer Tasche lag. Doch in der jetzigen Situation wagte sie es nicht, Myrtle darauf anzusprechen. Die Nekromantin wanderte wie eine verlorene Seele von Regal zu Regal, nahm mal diesen, mal jenen Gegenstand in die Hand, schien ihre Umgebung allerdings kaum wahrzunehmen. Überhaupt war sie ungewöhnlich schweigsam.
Red dagegen war für seine Verhältnisse recht gesprächig und schilderte den Anblick der verkohlten, zusammengekrümmten Leiche so oft, dass Julie ihn schließlich bitten musste, damit aufzuhören. Dummerweise war er, was die ersehnten Fakten anging, nicht annähernd so auskunftsfreudig.
»Tut mir leid«, sagte er, »das darf ich dir nicht sagen. Solange die Polizei ermittelt, müssen wir von der Feuerwehr uns bedeckt halten.«
Julie hatte das Bedürfnis, ihn zu schütteln oder anzuflehen, doch sie riss sich zusammen und begnügte sich mit einem verständnisvollen Blick.
Schließlich war es Margaret, die die Sorgen aller auf den Punkt brachte: »Was ist, wenn jemand Jagd auf uns macht?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Aber Margaret«, wandte Julie ein, die langsam die Geduld verlor. »Wer sollte denn etwas gegen euch haben? Ihr schadet doch niemandem mit euren Zaubereien. Sag mir lieber, wo Alastair ist! Ich versuche schon den ganzen Tag vergeblich, ihn zu erreichen.«
Margaret sah sie unbehaglich an. »Ich habe keine Ahnung. Glaubst du, ihm könnte ebenfalls etwas zugestoßen sein?«
Im Stillen verfluchte Julie ihre Worte. »Nein«, sagte sie. »Ich möchte nur nicht, dass er von Jolenes Tod durch einen Fremden erfährt. Einer von uns sollte es ihm sagen, nicht die Polizei.«
»Du hast recht«, stimmte Margaret zu. »Aber um noch einmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen: Hexerei ist kein Kinderkram, auch wenn du uns nicht ernst nimmst. Und ausgerechnet du solltest es besser wissen.« Bevor Julie etwas darauf erwidern konnte, fuhr Margaret fort: »Vergiss nicht – Salem ist nur knapp vierzig Meilen von hier entfernt! So wie es Hexen gibt, existieren auch noch die Hexenjäger, meine Liebe. Ich kann es in den Knochen spüren – Jolene war die Erste, die den Tod in der Flammenhölle fand. Aber sie wird nicht die Letzte sein.«
War Margaret jetzt völlig verrückt geworden? Irgendwo lief ein Mörder frei herum und sie hatte nichts Besseres zu tun, als jahrhundertealte Ereignisse aufzuwärmen.
»Jetzt beruhige dich doch!«, entgegnete Julie. »Wenn du Angst hast, solltest du die Polizei informieren. Ich sage ja nicht, dass deine Befürchtungen unbegründet sind. Wer weiß schon, welche Verrückten sich dort draußen herumtreiben? Ich kenne Chief Parsons nur vom Sehen, aber er macht auf mich einen besonnenen und vernünftigen Eindruck. Sprich mit ihm, bitte ihn um Polizeischutz!«
»Das will ich nicht«, wehrte Margaret ab. Sie wirkte völlig verängstigt.
Julie fragte sich, wo die entspannte, freundliche Hexe geblieben war, die sie kannte.
»Die Polizei kann da auch nichts tun.« Margaret verstummte plötzlich und starrte auf einen Punkt hinter Julies Kopf. »Nein, Chief Parsons ist nicht der richtige Mann für so etwas«, sagte sie schließlich. »Aber … Danke, Julie!« Damit verließ sie das Itchy Witchy.
Ziemlich verblüfft blieb Julie zurück. Kurz darauf verabschiedeten sich auch Red und Myrtle. Julie wollte den Laden gerade wieder schließen, als eine sichtlich gestresste Mutter mit zwei kichernden Töchtern hereinkam.
»Sie haben doch geöffnet, oder?«, fragte sie unsicher und deutete auf das Schild.
»Aber ja«, antwortete Julie und unterdrückte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als ihr Myrtles lobende Worte einfielen.
Doch von einem geschlossenen Laden wurde Jolene auch nicht wieder lebendig, und Julie war darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jetzt, mitten in der Touristensaison, auf das Geschäft zu verzichten, war einfach nicht möglich. Für den Rest des Tages blieb das Itchy Witchy geöffnet.