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KAPITEL 12

Die Kraft

Es war eine unruhige Nacht. Wieder bevölkerten lebendig gewordene Tarotkarten Julies Albträume. Sie trieben sie auf einen Scheiterhaufen zu. Die unbarmherzige Königin der Stäbe fesselte sie an den Pfahl. Gleichzeitig maunzte die Katze der Frau höhnisch und kündigte die Ankunft einer neuen Karte an. Es war der Tod selbst, der von seinem weißen Ross stieg und mit einer einzigen Handbewegung das Holz zu Julies Füßen entzündete. Und während die Flammen höher und höher emporstiegen, versuchte Julie vergeblich, sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie hustete, ihre Augen tränten und das Feuer brannte auf ihrer Haut. Erst als der Schmerz unerträglich wurde, gelang es ihr, aufzuwachen.

Ein paar Sekunden lang war sie völlig verwirrt. Ihre Fußsohlen schmerzten, als sei sie über glühende Kohlen gelaufen. Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zurück und schloss noch einmal kurz die Augen. Die irrationale Angst, dort unten nur noch verbranntes Fleisch zu sehen, beherrschte ihre Gedanken. Doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass ihre Füße wie immer waren – rosig, vielleicht ein kleines bisschen pflegebedürftig, aber völlig unversehrt.

Sie schüttelte den Kopf über ihre lebhafte Fantasie und beschloss, von nun an wirklich und wahrhaftig die Finger von den Tarotkarten zu lassen. Diese intensiven Albträume waren ein zu hoher Preis. Dann stand sie auf und ging in die Küche hinunter. Zwei Tassen Kaffee und ein butteriges Croissant später fühlte sie sich besser, aber immer noch nicht wirklich gut. Sie sollte endlich einmal mit Alastair über ihre eigenartigen Träume sprechen. Er war auch der Einzige, dem sie von den Voodoopuppen aus Lauries Grab erzählen konnte. Überhaupt hatte sie ihn in den vergangenen Tagen ziemlich vernachlässigt. Wann hatten sie eigentlich zum letzten Mal miteinander geredet, geschweige denn sich gesehen?

Mit einem schlechten Gewissen wählte sie seine Num­­mer, obwohl sie wusste, dass er gern lange schlief. Es klingelte mehrere Male. Julie stellte sich schon darauf ein, eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter zu hinterlassen, als jemand abnahm und sich mit einem energischen »Hallo?« meldete. Es war nicht Alastair.

Julies Puls beschleunigte sich. »Mit wem spreche ich?«

»Chief Parsons hier«, antwortete die Stimme. »Sind Sie das, Miss Mireau?«

In Julies Kopf brach ein Wirbelsturm los. Ihre Finger krampften sich um ihr Handy, als wolle sie es nie wieder loslassen.

Vielleicht hat das ja gar nichts zu bedeuten, dachte sie panisch.

Ja, vermutlich war bei Alastair eingebrochen worden. Das würde die Anwesenheit von Chief Parsons erklären. Am besten beendete sie den Anruf jetzt, als wäre nichts passiert. Alastair war am Leben und sie würde später wie jeden Tag in ihren kleinen Laden gehen, esoterische Bücher und alberne Püppchen verkaufen. Genau genommen war sie sogar dankbar dafür. Und sie würde Alastair niemals wieder einen Wunsch abschlagen, egal wie sehr es ihr gegen den Strich ging. Sie würde die Hexe werden, die er in ihr sah – oder zumindest vorgeben, sie zu sein. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie sich etwas vormachte.

»Miss Mireau?«, fragte Chief Parsons noch einmal.

»Ja«, antwortete Julie heiser. Sie räusperte sich und gab sich nicht einmal Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie fragte: »Alastair … Er ist tot, nicht wahr?« In diesem Moment war ihr alles andere egal.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Chief Parsons, »aber wie es aussieht, ist Mr Burnett tatsächlich heute Nacht zu Tode gekommen.«

Julie hörte, wie jemand nach ihm verlangte.

»Moment!«, antwortete er. »Ich bin hier noch nicht fertig.«

»Wer tut so etwas?«, fragte Julie leise.

»Ich weiß es nicht«, gab Chief Parsons zu.

Julie wunderte sich über seine Offenheit. Es musste nicht leicht für ihn sein, mit all diesen Verbrechen konfrontiert zu werden, die es so in ihrem Städtchen zuvor nicht gegeben hatte. Das beschauliche Yarnville gehörte der Vergangenheit an.

»Kann ich irgendwie helfen, Chief?«, bot Julie an. Na­­tür­­lich beschränkten sich ihre Erfahrungen auf die Be­­handlung gefasster Täter und sie hatte keinerlei Erfahrung im Profiling, aber sie wollte nicht tatenlos herumsitzen und abwarten, bis Alastairs Mörder gefasst wurde.

»Nein! Und denken Sie nicht einmal im Traum daran, etwas auf eigene Faust zu unternehmen, Miss Mireau!«, sagte Chief Parsons in einem warnenden Tonfall. »Sie sind in keiner Weise für die Polizeiarbeit qualifiziert und ich verbitte mir jegliche Einmischung in meine Ermittlungen! Tun Sie einfach das, was Sie am besten können.« Damit meinte er wohl: »Verkaufen Sie albernes Zeug an Touristen und nutzen Sie deren Gutgläubigkeit aus!«

Julie schnaufte wütend. Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie ein Tuten hörte. Der Blödmann hatte einfach aufgelegt! So eine Frechheit!

Es war Zeit, dass sich etwas änderte. Entschlossen reck­­te Julie das Kinn vor, obwohl niemand sie sehen konn­­te. Ja, sie würde in Yarnville bleiben. Sie ließ sich we­der von einem kranken Idioten vertreiben, der Voodoo­­puppen auf dem Friedhof vergrub, noch von einem zündelnden Mörder. Wie hoch war eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um ein und dieselbe ­Person handelte? Ziemlich hoch, schätzte Julie, während sie ins Bad ging.

Etwa eine halbe Stunde später griff sie sich ihre Tasche, streifte sich ihren geliebten grünen Cardigan über und schlüpfte in ihre Sneakers. Unter der Dusche hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde herausfinden, wer Alastair und die beiden Frauen umgebracht hatte. Und wenn sie dazu »Hexenkräfte« benutzen musste, gut – dann war das eben so.

Schließlich war es unwichtig, ob sie davon überzeugt war, Magie wirken zu können. Der Mörder glaubte offenbar an die Macht der Hexerei, und das würde sie sich zunutze machen. Immerhin war sie die Letzte der Mireau-Hexen, und das Itchy Witchy war der perfekte Ort, um der okkulten Szene von Yarnville und Umgebung einmal genauer auf den Zahn zu fühlen.

Julie lächelte grimmig. Ihre Entscheidung fühlte sich nicht nur gut an, sondern sogar verdammt gut. Selbst ihr innerer Zensor, der sich sonst bei Schimpfworten stets mahnend meldete, schwieg nun und schien ihre Entschlossenheit gutzuheißen.

Ich bin eine Hexe, dachte sie probeweise und horchte in sich hinein. Es fühlte sich an, wie nach jahrelanger Abwesenheit nach Hause zu kommen. Einzig der Gedanke, dass Alastair erst hatte sterben müssen, damit sie ihre Herkunft akzeptierte, zerriss ihr fast das Herz.

Jetzt musste sie nur noch ihre Kräfte entdecken und lernen, mit ihnen umzugehen. Aber wer konnte ihr dabei helfen? Alastair, Margaret und Jolene waren tot und Cassandra schied als Lehrmeisterin aus. Sie war selbst noch auf der Suche. Ob Julie Myrtle oder Red um Hilfe bitten sollte? Um ehrlich zu sein, konnte sie sich Red als geduldigen Lehrer nicht vorstellen, und Myrtle kam nach ihrem letzten Auftritt im Itchy Witchy auch nicht in Frage. Nein, Julie musste es ohne sie schaffen. Sie würde einfach die Tarotsitzungen mit den Rat­suchenden nutzen, um behutsam auszuprobieren, wozu sie in der Lage war.

Dennoch wünschte sie sich, die Zeit zurückdrehen zu können, vor allem wenn sie an ihr letztes Gespräch mit Alastair dachte. Er fehlte ihr, und das nicht nur, weil sie nun völlig auf sich gestellt war. Sie hatte es nicht einmal mehr geschafft, ihm von den Voodoopuppen auf dem Grab ihrer Tante zu erzählen. Irgendwie konnte sie auch noch gar nicht so richtig glauben, dass er nicht mehr da war. Lauries Sterben hatte sie miterlebt, sie hatte ­gesehen, wie sie ihren letzten Atemzug getan hatte. ­Alastairs Leichnam hingegen konnte sie sich nicht einmal annähernd vorstellen. Vielleicht würde sie es verstehen, wenn sie auf der Beerdigung sah, wie man seinen Sarg in der Erde versenkte. Wer würde sich eigentlich darum kümmern? Hatte Alastair noch Verwandte? Sie musste wohl mal mit Myrtle und Red darüber sprechen.

Mit vielen Fragen und ihren neuen Vorsätzen im Kopf fuhr Julie zum Itchy Witchy. Sie hoffte, dass die Arbeit sie etwas ablenken würde, und so war es auch. Kurz vor Feierabend kam Red herein. Wie Julie befürchtet hatte, wurde er von Mr Blair begleitet.

Fehlt nur noch der Chief, dachte sie stirnrunzelnd und wunderte sich erneut darüber, dass er überhaupt mit Mr Blair zusammenarbeitete.

Chief Parsons erschien ihr nicht wie ein Mann, der sich einem anderen leicht unterordnete, und schon gar nicht einem, der sich als »Shifter Cop« bezeichnete.

Während Red direkt auf sie zukam, schaute Mr Blair sich um. Mittlerweile waren alle Kunden gegangen. Also drehte Mr Blair das »Geöffnet«-Schild an der Tür um, sodass es »Geschlossen« anzeigte. Empört schnappte Julie nach Luft. Was bildete der Kerl sich ein? Aber sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn Red nahm ihre Hand.

»Es tut mir so leid, was mit Alastair passiert ist. Wenn du irgendetwas brauchst – ich bin für dich da«, bot er an.

Verwirrt zog Julie ihre Hand zurück.

Nun trat auch Mr Blair zu ihr an den Tresen. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust«, sagte er. »Ich habe gehört, dass Sie und Mr Burnett einander sehr nahestanden.«

»Danke« war alles, was Julie herausbrachte.

Seine unerwartete Anteilnahme rührte sie. Vielleicht war er ja doch kein so schlechter Kerl. Warum nur war sie bei jeder Begegnung mit ihm so hin- und hergerissen? Seine Arroganz stieß sie oft ab, aber irgendwie fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich danach, mit ihm zu sprechen, ihm alles anzuvertrauen. Und besonders seit sie wusste, dass er auch Teil ihrer »anderen« Welt war, wollte sie ihm alle möglichen und unmöglichen Fragen stellen.

Ihr Herz pochte unruhig, als sie an ihre Träume dachte. In jeder Mordnacht hatte sie von den lebendig gewordenen Karten und von Feuer geträumt. Sowohl Mr Sargent als auch Mrs Saintclair hielten sie für eine schwarze Hexe und hatten sie auf die Träume angesprochen. Ihr wurde heiß. Was wussten die beiden über sie, das ihr selbst nicht klar war? Schließlich kannten sie sich deutlich besser mit Hexerei im Allgemeinen und der Familiengeschichte der Mireaus im Besonderen aus als sie.

Niemals zuvor hatte sie eine solche Angst verspürt wie in den letzten Tagen, als sie erkannt hatte, dass auch sie eine dunkle Seite hatte. In ihr wartete etwas darauf, sich zu entfalten, sie fühlte es beinahe wie ein lebendiges Wesen, das wuchs. Mrs Saintclair hatte es »Macht« genannt, aber Mr Sargent hielt es für eine dunkle ­Bestie, die auf ihre Befreiung lauerte. Zumindest hatte es so geklungen, als er von ihrer Verwandlung in eine schwarze Hexe gesprochen hatte. Oder hatte sie sich das nur eingebildet?

So oder so, es gab nichts zu beschönigen. Julie wuss­­te nicht mehr weiter und brauchte Hilfe. Und es war tausendmal besser, sie von Mr Blair anzunehmen, der immerhin ein Cop war, als von einem Mann, der sich für einen Hexenjäger hielt.

»Möchten Sie mir etwas sagen, Miss Mireau?« Mr Blairs tiefe Stimme riss Julie aus ihren Überlegungen.

»Ich bin mir nicht sicher«, begann sie und senkte den Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.

Noch vor wenigen Tagen hatte sie die Existenz des Übernatürlichen geleugnet, sich sogar darüber lustig gemacht. Es war schwer, nun zuzugeben, dass sie sich geirrt hatte. Und konnte sie ihm überhaupt trauen? Irgendwie war er doch seltsam. Andererseits hatte ­Margaret ihn angerufen, als sie Todesangst gehabt hatte, und darauf vertraut, dass er ihr helfen würde.

»Miss Mireau«, sagte Mr Blair noch einmal eindringlich, »ich weiß, dass das alles für Sie im Augenblick nicht leicht ist. Sie haben klargemacht, dass Sie nicht an Hexerei glauben. Aber ganz offensichtlich geschieht hier gerade etwas, das Sie an Ihrer Weltsicht zweifeln lässt. Ich vermute, dass Sie in den letzten Tagen ein paar Erfahrungen gemacht haben, die …« Er zögerte kurz. »Die schwierig für Sie waren.« Als sie nicht antwortete, seufzte er demonstrativ. »Miss Mireau, würden Sie mich bitte anschauen?«

Etwas in seiner Stimme zwang Julie, den Kopf zu heben. Unfähig, ihren Blick abzuwenden, sah sie ihn an. Sein markantes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem energischen Kinn war überaus attraktiv, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne. Was Julie jedoch am meisten faszinierte, waren seine Augen. Sie hätte schwören können, dass sie sonst blau waren. Nun aber schimmerten sie in einem goldenen Bernsteinton.

»Nun machen Sie schon!«, forderte Cassandra ungeduldig. »Sie sehen doch, dass Julie einen kleinen Schubs in die richtige Richtung braucht.«

Verwirrt wandte Julie sich ihr zu. »Wovon redest du?«

»Sie erinnern sich noch an die Karte, die ich Ihnen gegeben habe?«, fragte Mr Blair, bevor Cassandra etwas erwidern konnte.

»Die mit der New Yorker Telefonnummer? Ja, sicher«, bestätigte Julie.

Cassandra und Mr Blair warfen sich einen seltsamen Blick zu. Was hatte das zu bedeuten? Julie kam sich allmählich vor wie eine Patientin zwischen zwei Ärzten, die sich nicht entscheiden konnten, wer von ihnen ihr die fatale Nachricht übermitteln sollte.

Nun mischte sich auch Red ein. »Leute, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Julie ist eine erwachsene Frau, auch wenn sie sich nicht immer wie eine be­­nimmt.«

Empört öffnete Julie den Mund, schloss ihn aber wieder. Red hatte recht. Seit sie in Yarnville angekommen war, hatte sie sich wie ein Trotzkopf verhalten. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen – und ihren Irrtum zuzugeben, war ein geringer Preis dafür.

»Es ist weniger die Telefonnummer als vielmehr meine Berufsbezeichnung, die ich meinte«, erklärte Mr Blair.

»Ach das«, sagte Julie. »Okay, Sie sind ein Shifter Cop, was auch immer das sein soll. Vermutlich bedeutet es, dass Sie sich in irgendetwas verwandeln können – zumindest glauben Sie das.« Als er sie unterbrechen wollte, hob sie die Hand. »Wenn mich die Ereignisse der letzten Tage eines gelehrt haben, dann dies: Es gibt so viel mehr zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt. Ja, ja, das ist ein abgewandeltes Zitat, ich weiß. Vielleicht bekomme ich ja jetzt die Gelegenheit, auf die ich mein Leben lang gewartet habe, und sehe mit eigenen Augen den Beweis für die Existenz übernatürlicher Kräfte. Also los, verwandeln Sie sich! Oder können Sie das nur bei Vollmond?«

Cassandra legte ihre kühle Hand auf Julies, sagte aber nichts.

»Miss Mireau«, setzte Mr Blair nun an.

»Ach, nennen Sie mich doch Julie!«, fiel sie ihm ins Wort. »In einer verrückten Situation wie dieser können wir getrost auf Förmlichkeiten verzichten, finden Sie nicht?«

»Also gut, Julie – ich bin Madoc.« Er lächelte kurz. »Es ist völlig in Ordnung, wenn du nervös bist. Aber jetzt sei bitte mal still, nur für eine Minute! Ich muss mich konzentrieren.«

Julie hielt den Atem an. Wollte sie das wirklich sehen? Was, wenn er sich in ein gefährliches Tier verwandelte und in ihrem Laden Amok lief? Aber sie hatte ja sowieso keine Wahl.

Madocs Gesicht veränderte sich plötzlich. Es wurde länger, die Nase verbreiterte sich, und auf einmal waren da sehr viele spitze Zähne in seinem … Maul. Es musste ein schmerzhafter Prozess sein, sie sah es ihm an. Doch er war noch lange nicht abgeschlossen. Madocs Haut wurde nun überzogen von etwas, das wie grüngoldene Schuppen aussah. Seine Finger wurden spitzer. Als er vorsichtig eine Hand auf den Tresen legte, bemerkte Julie, dass sich Krallen statt der Nägel gebildet hatten.

Fassungslos starrte sie das Wesen an. Dann erlebte sie, wie es sich in Madoc zurückverwandelte. Seine Augen waren nun wieder von einem ganz gewöhnlichen Blau – wobei, »ganz gewöhnlich« war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung … Madoc lächelte sie entschuldigend an, doch sie konnte zunächst nicht reagieren. Ihr Gehirn hatte Schwierigkeiten, das Gesehene zu verarbeiten.

»Was bist du?«, fragte sie schließlich mit krächzender Stimme, während sie versuchte, ihr viel zu schnell pochendes Herz unter Kontrolle zu bringen. »Was bist du?«, wiederholte sie. Ihr wurde schwindelig.

Mit einem Satz war er bei ihr und hielt sie fest. Sie ließ es geschehen. Ihre vernünftige Weltsicht hatte sich gerade verabschiedet, und Julie war am Ende ihrer Kräfte. Tschüss, Logik. Tschüss, Vernunft. Willkommen, Wahnsinn. Aber wenn sie verrückt war, dann waren es auch Madoc, Cassandra, Red und Myrtle, ja sogar Mr Sargent. Wobei Letzteres nur ein geringer Trost war.

Erschöpft legte Julie den Kopf an Madocs Brust. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig, was irgendwie beruhigend war. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die Geborgenheit. Ausgerechnet Madoc bot ihr nun das, was sie am meisten brauchte. Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Erneut begann ihr Herz zu rasen, aber diesmal nicht aus Angst.

»Er ist ein Drachenwandler«, erklärte Cassandra schließlich und der Zauber war vorbei. »Du solltest ihn mal sehen, wenn er sich komplett verwandelt. Da kann man beinahe schon Angst vor ihm bekommen.«

Verlegen löste sich Julie von Madoc und wandte sich Cassandra zu: »Du wusstest, dass er nicht normal ist? Und du hast ihn als Drachen gesehen, ich meine als richtigen, echten Drachen?«

Sie verspürte einen Stich in der Herzgegend, über den sie lieber nicht nachdenken wollte. Die Tatsache, dass Cassandra Madoc besser kannte als sie, schockierte sie beinahe mehr als die unglaubliche Verwandlung, deren Zeugin sie gerade geworden war. Sie hatte immer gedacht, dass Cassandra einfach nur zu viel Fantasie und eine Vorliebe für dramatische Auftritte hatte. Und nun stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatte: Es gab tatsächlich Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich mit dem Verstand allein nicht erklären ließen.

»Wieso hast du mir nichts gesagt?«, fragte Julie.

Cassandra zuckte mit den Schultern und schaute Hilfe suchend zu Madoc.

»Hättest du ihr denn geglaubt, Julie?«, wollte er wissen. »Und außerdem – ich bin so normal wie du.« Seine Stimme klang grollend, so als ob die Verwandlung auf geheimnisvolle Weise seine Stimmbänder verändert hätte. War das ein Echo des Drachen, den er in sich trug?

»Bitte entschuldige meine Wortwahl!«, gab Julie zu­­rück. »Das war dumm von mir. Aber meine Welt wird gerade komplett auf den Kopf gestellt. Ich bin nur ein Mensch, während du … Was bist du überhaupt? Ist dein Vater ein Drache und deine Mutter ein Mensch, oder wie muss ich mir das vorstellen?«

»Ich bin ein Gestaltwandler«, erklärte Madoc. »Das heißt, ich kann zwischen meiner menschlichen Gestalt und der meines Tieres wählen. Meine Eltern sind im Übrigen ebenfalls ein Drachenwandler und eine Hexe.«

»Und warum bist du dann kein Hexer geworden, sondern ein Gestaltwandler?« Julie konnte nicht anders, sie musste diese Frage stellen. Wann bekam sie schon einmal die Gelegenheit, mit einem Mann zu sprechen, der sich in einen Drachen verwandeln konnte?

Madoc seufzte. »Ganz offensichtlich sind die Gene meines Vaters die dominanten und haben sich durchgesetzt. Und was dich angeht – nun ja, als völlig ›normal‹, wie du es nennst, würde ich dich auch nicht bezeichnen. Du bist eine Hexe.«

Julies erster Impuls war, seine Behauptung kategorisch zu verneinen. Schließlich hatte sie diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit jahrelang verleugnet. Doch als er sie gelassen ansah, ohne sie zu verurteilen oder sie als verrückt abzutun, begann sich ein gewaltiger Knoten in ihr zu lösen.

Er lächelte. »Glaub mir, ich kann sehen, dass du anders bist. Wir paranormalen Wesen haben die Fähigkeit, einander zu erkennen. Und wenn wir jetzt mal zum Ausgangspunkt zurückkehren könnten – was ist passiert, das dir solche Angst gemacht hat?«

Julie hob abwehrend die Hand. »Moment! Ich hätte da noch ein paar Fragen.«

Jetzt stöhnte Madoc. »Wenn eine davon lautet, ob es Vampire und Werwölfe gibt – ja, die gibt es.«

Cassandra lachte. »Das will jeder zuerst wissen, Julie.«

»Eigentlich«, sagte Julie spitz, »interessiert mich viel mehr, was die Shifter Cops sind. Ist das so eine Art Spezialeinheit von Polizisten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Ich vermute es, aber eine echte Erklärung wäre schön.«

Madoc warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Das trifft es ziemlich genau.«

»Und?«, fragte Julie ungeduldig.

»Wenn du möchtest, erzähle ich dir später ein bisschen mehr über die Shifter Cops. Aber zuerst muss ich wissen, was du mir verheimlicht hast.«

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, stammelte Julie, der auf einmal ziemlich unbehaglich wurde.

Sie hatte keine Ahnung, was mit schwarzen Hexen geschah. Sperrte man sie von vornherein ein oder wartete man, bis sie ein abscheuliches Verbrechen begangen hatten? Sie beschloss, ihm dieses Geheimnis erst einmal nicht anzuvertrauen.

»Warum machst du nicht Feierabend für heute und redest irgendwo mit Madoc, wo ihr nicht gestört werdet, Julie?«, mischte Cassandra sich ein. »Du hast später nur noch einen Termin mit Miss Delaney, und der kann ich die Karten legen, wenn du einverstanden bist.«

»Ich dachte, du hättest es aufgegeben«, sagte Julie erstaunt. »Hast du nicht gestern gesagt, Kartenlegen sei doch nicht das Richtige für dich?«

»Ja, aber das heißt nicht, dass ich nicht wüsste, wonach sie sich sehnt. Ich habe schließlich Augen im Kopf.« Cassandra schaute bedeutungsvoll zu Red hinüber, der ganz unbeteiligt tat. »Ich werde dem Schicksal auf die Sprünge helfen, auch ohne den Einsatz von Magie.«

»Das glaube ich dir blind«, versicherte ihr Julie. »Also gut, ich nehme das Angebot an. Was ist mit dir?«, wandte sie sich an Madoc.

»Gute Idee! Ich hole schon mal den Wagen. Danke, Cassandra. Red.« Er nickte den beiden zu und verließ den Laden.

Julie ging ins Hinterzimmer, schnappte sich ihre Tasche und streifte den Cardigan über. Dann nahm sie die Tarotkarten vom Tisch und zögerte.

Nur ganz kurz, sagte sie sich und erinnerte sich an einen von Tante Lauries Lieblingssprüchen. »Die Karten sind Krücken, nicht deine Beine«, hatte sie gesagt.

Was sie damit gemeint hatte, hatte Julie erst später verstanden: Man konnte die Tarotkarten befragen, um sich über bestimmte Dinge klar zu werden, aber man sollte immer seine eigenen Entscheidungen treffen.

Schnell mischte sie die Karten und wählte schließlich verdeckt eine aus, während sie sich Madocs Gesicht vor Augen rief, sich an seine warme Berührung erinnerte. Mit klopfendem Herzen drehte sie die Karte um. Es war die Kraft, schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Auf dem Bild sah man eine weiß gekleidete Frau, über deren Kopf das magische Symbol der Unendlichkeit schwebte. Sanft, aber bestimmt drückte sie dem Löwen, der sich an ihren Körper presste, das Maul zusammen.

Julie fand sie wunderschön, sie war nach dem Wagen ihre zweitliebste Karte. Sie stand nicht nur für das, was sie offensichtlich benannte, sondern auch für Intuition und Leidenschaft. Dass sie ausgerechnet dieses Bild gezogen hatte, während sie an Madoc gedacht hatte, ließ tief blicken. Obwohl niemand außer ihr im Raum war, errötete sie. Es stand schlimmer um sie, als sie vermutet hatte.


Die Fälle der Shifter Cops

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