Читать книгу Die Fälle der Shifter Cops - Natalie Winter - Страница 11

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KAPITEL 4

Fünf der Kelche

Am nächsten Morgen kämpfte sich Julie besonders früh aus dem Bett. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Sehr detailliert hatte sie von lebendig gewordenen Tarot­kartenfiguren geträumt, die sie durch die verlassenen Straßen von Yarnville gejagt hatten. Nicht einmal der Wagenlenker hatte ihr geholfen, sondern war mit seinem von Fabelwesen gezogenen Gefährt hinter ihr her gerast und hatte sie auf den Friedhof getrieben.

Den heißen Atem der Tiere im Nacken, war sie über Grabsteine gesprungen und hatte verzweifelt die letzte Ruhestätte ihrer Tante gesucht. Im Traum hatte sie gewusst, dass sie erst in Sicherheit war, wenn sie ­Lauries Leichnam ausgegraben hatte und mit ihm tanzte. Doch als sie das Grab endlich gefunden hatte, war wie aus dem Nichts ein Ring aus Feuer entstanden, der sie eingeschlossen hatte. Als dann auch noch die Erde unter ihren Füßen zu brennen begonnen hatte, war sie endlich aufgewacht.

Müde strich sie sich das verschwitzte Haar aus dem Gesicht und tappte ins Bad. Ihr Nachthemd klebte am Rücken und ihre Schultermuskeln fühlten sich steinhart an. Vor allem aber brannten ihre Fußsohlen. Das war natürlich Unsinn. Es war nur ein Traum gewesen, wenn auch ein erschreckend lebendiger.

Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr so intensiv ge­­träumt – um genau zu sein, nicht mehr seit Beginn ihrer Teenagerzeit, kurz bevor ihre Großmutter gestorben war. Die Träume hatten aufgehört, nachdem Tante Laurie ihrer Granny das Versprechen abgerungen hatte, Julie nicht in die Rolle der Erbin zu drängen. Julie erinnerte sich noch genau an die Nacht, in der die Frauen so heftig miteinander gestritten hatten, dass sie davon aufgewacht war.

»Das muss aufhören«, hatte ihre Tante gesagt, »begreif es doch endlich! Du kannst nicht herbeizwingen, was einfach nicht da ist. Sie ist nicht Miranda, und sie wird es niemals sein.«

In der folgenden Stille hatte Julie geglaubt, sogar den Atem der beiden hören zu können. Als ihre Granny endlich gesprochen hatte, hatte sie resigniert geklungen.

»Du aber auch nicht, Laurie. Du wirst niemals an Miranda heranreichen.«

Julie stellte die Wassertemperatur auf die höchste Stufe und hielt ihren Nacken unter den heißen Strahl. Es gab so viele Dinge, für die sie ihrer Tante dankbar sein musste und es auch war, aber die größte Dankbarkeit schuldete sie ihr für ihre Durchsetzungskraft in jener Nacht. Danach hatte ihre Granny nie wieder versucht, ihre angeblichen Hexenkräfte zu wecken, und auch die Träume hatten nach und nach aufgehört. Doch jetzt waren sie zurückgekehrt.

Während Julie sich anzog, warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch jede Menge Zeit, bis sie das Itchy Witchy öffnen musste. Also konnte sie aufräumen, putzen, die dringend fällige Wäsche machen … Oder sie konnte auf den Friedhof gehen und Tante Lauries Grab besuchen. Damit schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie bekämpfte die Macht des Albtraums, indem sie sich vergewisserte, dass dort keine wie auch immer geartete Gefahr lauerte, und sie sah nach dem Zustand des Grabs. Sie hatte zwar einen Gärtner beauftragt, der sich um die Blumen kümmerte, aber sie war schon seit Wochen nicht mehr selbst dort gewesen. Außerdem lag der Friedhof auf dem Weg zum Laden, sie würde also keinen Umweg machen müssen.

Nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich fast schon beschwingt. Sie verließ das Haus und wählte bewusst dieselben Straßen, die sie im Traum entlanggerannt war, zwang sich aber zu einem gemütlichen Schlendern. Vorbei ging es an Mrs Daltons Eisdiele mit der knallbunten Deko und dem kleinen italienischen Restaurant, das angeblich hervorragend sein sollte. Warum war sie noch nie dort gewesen?

Hinter der nächsten Ecke traf sie auf Mr Bullard und seinen aufdringlichen Terrier Sparky. Julie tauschte mit dem Mann ein paar Bemerkungen über das Wetter aus und sah, wie Miss Delaney, die Grundschullehrerin, aus der Bäckerei stolperte. Ihre Tüte mit Gebäck fiel zu Boden, und natürlich machte sich Sparky sofort über die Blätterteigteilchen her.

»Pfui, Sparky, aus! Das ist nichts für dich, du sollst doch nicht …«, schimpfte Mr Bullard halbherzig.

Julie spürte ein Lachen in sich aufsteigen. Das Leben in einer Kleinstadt mochte manchmal anstrengend sein, aber an Tagen wie diesen beruhigte sie die Vorhersehbarkeit der Ereignisse. Miss Delaney würde auch morgen wieder viel zu hektisch aus der Bäckerei herausstürmen, und Mr Bullard würde weiterhin tatenlos zusehen, wie Sparky halb Yarnville terrorisierte. Es war auf verdrehte Weise schön zu wissen, dass jeder Tag ähnlich ablief und es keine bösen Überraschungen gab, die die Bewohner aus der Bahn warfen. Hier gab es keine finsteren Gestalten, die Frauen belästigten, keine Morde oder Banküberfälle. Yarnville war die friedlichste Stadt, die man sich vorstellen konnte. Das aufregendste Verbrechen, das der einzige Gesetzeshüter des Ortes in den elf Monaten seit Julies Ankunft hatte aufklären müssen, war ein Fall von Vandalismus gewesen: Ein paar Jugendliche hatten die Statue des Stadtgründers mit Eiern beworfen und für ihren Übermut mit Nachsitzen bezahlt.

Vergnügt öffnete Julie die Tür zu Franny’s ­Flowershop kurz vor dem Friedhof. Sie erstand einen Strauß weißer Rosen samt Vase für ihre Tante. Immer noch fiel es ihr schwer, die Abwesenheit Lauries mit ihrem Tod in Verbindung zu bringen. Obwohl sie dabei gewesen war, als ihre Tante gestorben war, hatte sie immer noch das Gefühl, Laurie könnte jeden Augenblick von einer längeren Urlaubsreise heimkehren. Manchmal glaubte sie sogar, ihre Stimme zu hören oder aus den Augenwinkeln ihre Gestalt zu sehen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sie in den Jahren zuvor kaum besucht hatte. Die mangelnde Anwesenheit ihrer Tante in ihrem Leben war schon vor deren Tod zu einem beschämenden ­Normalzustand geworden.

Julie vergrub die Nase in den Blüten und atmete den dezenten Duft ein. Ihre erschreckend gute Laune gab ihr zu denken. War Yarnville vielleicht doch der Ort, an dem sie leben wollte? Eine Entscheidung zwischen Gehen und Bleiben zu treffen, erschien ihr in diesem Moment gar nicht mehr schwer. Sollte wirklich alles so einfach sein?

Während sie durch das offene Friedhofstor schritt und den Weg zu Tante Lauries Grab einschlug, fielen ihr Alastairs Worte wieder ein. Was war so schlimm daran, in Yarnville zu bleiben? Das Itchy Witchy bot ihr nicht nur eine gesicherte Existenz, es machte ihr auch Spaß, dort zu arbeiten. Sie liebte es, mit vielen verschiedenen Menschen zu sprechen, sie einzuschätzen und ihnen genau das zu verkaufen, was sie brauchten.

So wie der Frau gestern, die unbedingt ein Kind haben wollte und es nicht konnte, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, die verdächtig nach Tante Laurie klang.

Und wenn die Frau nun tatsächlich das Kind bekam? Nein, Julie war keine Hexe. Es war alles eine Frage der Psychologie. Sollte die Frau schwanger werden, dann war es entweder ein glücklicher Zufall – ja, so etwas gab es auch – oder Julie hatte ihr die nötige Zuversicht verliehen, die sie brauchte. Außerdem würde sie ohnehin nie erfahren, ob der »Zauber« gewirkt hatte. Das Pärchen würde abreisen und nie wieder nach Yarnville zurückkehren.

Noch einmal sah Julie den Ausdruck von Glück, der das Gesicht der Frau von innen hatte strahlen lassen. Hatte sie ihr etwas Gutes getan oder würde die Frau in einem Monat den Schwangerschaftstest betrachten und weinen?

Unwillkürlich musste Julie an die Insassen im Bridge­­water denken. So viel sie auch über die Pathologie von Straftätern und deren Behandlung gelernt hatte, so wenig befriedigend war die Arbeit gewesen. Die Illusion, sie heilen zu können, hatte man ihr schnell genommen. Statt es mit intensiver Gesprächstherapie zu versuchen, hatte man ihnen meistens nur Psychopharmaka verabreicht. Im Nachhinein war Julie klar geworden, wie wenig sie bewegt hatte. Kaum etwas hatte sie zum Besseren ändern können.

Hier in Yarnville, im Itchy Witchy, waren ihre Möglichkeiten, jemandem zu helfen, unendlich größer. Vielleicht nicht ganz auf die Art, die sie sich immer vorgestellt hatte, aber war das wichtig? Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, als sie sich vorstellte, wie sie ihre fundierten psychologischen Kenntnisse endlich für etwas anderes als die dauernde Selbstanalyse einsetzte. Ja, sie konnte etwas ausrichten.

Der auffrischende Wind blies ihr eine Strähne ins Gesicht, die sie ungeduldig nach hinten strich. Tante Lau­­ries Grab befand sich im hinteren Teil des Fried­­hofs, der den alteingesessenen Familien vorbehalten war. Die Gruft der Mireaus aus protzigem schwarzem Marmor lag malerisch unter einer alten Eiche. Als Kind hatte die Vorstellung, dort eines Tages ebenfalls zu liegen, Julie ge­­ängstigt. An diesem Morgen jedoch erschien ihr die Gewissheit, dass es einen Ort gab, an dem man sie zur Ruhe betten würde, eher tröstlich als bedrückend.

Dann fiel ihr etwas auf. Warum hatte Tante Laurie da­­rauf bestanden, nicht in der Gruft neben ihren Familienangehörigen beigesetzt zu werden? Sie hatte vor ih­rem Tod bei der Stadtverwaltung durchgesetzt, dass man sie neben der Gruft bestattete.

Nachdenklich ging Julie zu dem Wasserhahn am Ende des Weges. Während sie die Vase füllte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass ihre Tante sich vielleicht ebenso als Außenseiterin gefühlt hatte wie sie selbst.

»Du wirst nie wie Miranda sein«, hatte Granny gesagt.

Der Vergleich mit ihrer Schwester, die als die Mächtigste der Mireau-Hexen galt, musste für Laurie mehr als schmerzhaft gewesen sein. Und trotzdem hatte sie sich der Tradition gebeugt und nicht nur das Itchy Witchy weitergeführt, sondern war auch dem Hexenzirkel bei­getreten.

Die Vase mit den Blumen in der Hand, ging Julie zum Grab ihrer Tante, kniete sich daneben auf den Boden und betrachtete den schlichten Stein, der Lauries Namen trug und sonst nichts. Dann schob sie ein wenig von der weichen, feinkrümeligen Erde zur Seite, um der Vase einen sicheren Stand zu verschaffen. Plötzlich ertasteten ihre Finger etwas Hartes. Vorsichtig grub sie weiter, wie ein Archäologe, der einen kostbaren Fund frei­legen wollte. Sie sah bunten Stoff, der sie an eine Bluse erinnerte, nach der sie bereits seit Tagen gesucht hatte. Schnell entfernte sie weitere Erde und erstarrte.

Es war eine Puppe. Ein paar Sekunden lang schaute Julie sie nur an. Dann zerrte sie das Ding aus der Erde und erkannte, dass es sogar zwei waren, Rücken an Rücken aneinandergebunden. Entsetzt ließ sie die beiden fallen und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. Das hier hatte nichts mit den Voodoopüppchen zu tun, die sie im Laden verkaufte. Sie kämpfte gegen den Brechreiz an und zwang sich, die doppelgesichtige Gestalt aufzuheben. Vorsichtig hielt sie sie zwischen Daumen und Zeige­finger, um so wenig Kontakt wie möglich mit ihr zu haben.

Nein, es ging nicht. Sie konnte sich den Ekel nicht erklären, den sie empfand, aber sie musste das Gebilde loslassen. Hastig kramte sie in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern, riss die Packung auf und legte sämtliche Tücher übereinander, bevor sie die Puppen darin einwickelte. So, das war schon besser, auch wenn die Übelkeit nicht ganz verschwand.

Ein paar Herzschläge lang konzentrierte sich Julie auf ihre Atmung und rief sich ihre wissenschaftliche Ausbildung ins Gedächtnis.

Du kannst das, ermahnte sie sich. Komm schon, du bist ein großes Mädchen! Das hier ist nichts anderes als … Sie überlegte. Es ist nichts anderes als das Be­­werfen der Statue mit Eiern. Ein kindischer Streich.

Widerstrebend sah sie sich ihren Fund noch einmal an. War das Blut, das an den Puppen klebte? Es wirkte nicht mehr frisch, war aber auch noch nicht so alt, dass die geronnene Flüssigkeit eingetrocknet wäre. Julie konn­­te sich nicht überwinden, daran zu riechen, um den typischen metallischen Geruch zu identifizieren, aber das war auch nicht nötig. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass jemand den Fetisch mit Blut beschmiert hatte, um ihm mehr Macht zu verleihen. Doch was war dessen Zweck? Warum machte sich jemand die Mühe, zwei Puppen zu fertigen und sie dann im Grab einer Toten zu verscharren?

Das musste der Ausdruck eines kranken Geistes sein, der an Hexerei glaubte und ihrer Tante Böses wollte. Oder galt das hier nicht allein Laurie, sondern auch ihr? Mit zitternden Fingern schob sie die Taschentücher ein wenig mehr zur Seite. Ja, das Kleid der einen Puppe war aus einer ihrer alten Blusen gefertigt, sie erkannte den Stoff mit Sicherheit. Offenbar sollte sie Julie symbolisieren. Aber was hatte sie in Lauries Grab zu suchen? Julie musste jemanden fragen, der sich mit derlei Dingen auskannte.

Sie seufzte. Warum redete sie sogar in Gedanken um den heißen Brei herum? Es half nicht im Geringsten, schönfärberisch von »derlei Dingen« zu sprechen, wo sie doch im Herzen wusste, um was es sich handelte. Die Puppen waren die Manifestation eines schwarzen Zaubers, der ihre Tante treffen sollte. Ihre tote Tante. Haha, sehr witzig. Jemand wollte Laurie schaden, die schon seit fast einem Jahr nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Mühsam stand Julie auf und verstaute das schmutzige Bündel in ihrer Tasche. Sie würde Alastair fragen, was das Ganze zu bedeuten hatte. Oder besser noch Myrtle, die Nekromantin. Die war zwar keine schwarze Hexe, aber als Totenbeschwörerin hatte sie sicher einige Grundkenntnisse in dunkler Magie.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee, in Yarnville zu bleiben.


Die Fälle der Shifter Cops

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