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KAPITEL 2

Königin der Schwerter

Als Julie in die Lakefield Street einbog, in der ihre Tante lebte, glaubte sie zunächst, sie hätte sich verfahren. In den sieben Jahren, die seit ihrem letzten Besuch vergangen waren, hatte sich die Gegend stark verändert. Die Häuser in der schmalen Straße waren damals vom Efeu überwuchert gewesen. Zäune, die unter der weiß blühenden Ackerwinde verschwanden, hatten das Bild bestimmt, ebenso wie Risse im Pflaster und Gras, das darin wuchs.

Inzwischen war das Viertel runderneuert. Kein Grashalm wagte es, aus der Reihe zu tanzen, und nicht ein einziges welkes Blatt störte den Eindruck von Makellosigkeit. Nicht einmal Kinderspielzeug auf dem Rasen war zu sehen oder Wäsche, die im Wind flatterte. In jeder Einfahrt standen mindestens zwei Autos, SUVs und teure kleine Flitzer.

Julie hielt vor dem Haus ihrer Tante. Kaum hatte sie den Motor abgestellt, sah sie, wie Alastair die Haustür öffnete und ihr ungeduldig zuwinkte. Er hielt sich aufrecht wie eh und je.

Schnell stieg Julie aus und atmete tief ein. Selbst die Luft schien neu und sauber zu riechen. Sie schloss die Autotür und lief zum Haus hinüber. Nur noch wenige Schritte und sie war endgültig zurück.

»Na endlich«, sagte Alastair statt einer Begrüßung.

Julie starrte ihn an. Sie hatte sich getäuscht. Die Veränderungen waren von Weitem nicht erkennbar ge­­wesen, aber Alastair wirkte vitaler als noch vor sieben ­Jahren. Wo war sein Gehstock geblieben, und war sein Haar etwa voller geworden?

»Was ist?«, fragte er und umarmte sie.

»Ach, nichts«, erwiderte sie, nachdem er sie ­wieder ­losgelassen hatte. »Und ich will kein Wort darüber hören, wie du den Sturm weggezaubert hast.«

Er grinste spitzbübisch. Ja, das war der Mann, der lange Zeit wie ein Vater für sie gewesen war. Er tat ihr den Gefallen und sagte nichts über das Unwetter.

»Lass dich ansehen!« Prüfend hielt er sie auf Armeslänge von sich. »Du siehst großartig aus. Gesund und munter, wenn auch ein bisschen dünn.« Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht. »Du bist gerade noch recht­zeitig gekommen. Mach dich auf das Schlimmste gefasst. Sie stirbt.« Er presste die Lippen zusammen, und mit einem Mal sah ihm Julie sein Alter an.

»Es tut mir so leid«, sagte sie und drückte ihn noch einmal, bevor sie endgültig über die Schwelle des Hauses trat, in dem sie aufgewachsen war. Der Duft nach Lavendel und Ysop versetzte sie sofort um zwanzig Jahre zurück.

»Ich kann das nicht«, hörte sie ihre eigene Stimme, damals noch kindlich hoch und zitternd vor Angst.

»Doch, du schaffst es, du musst es nur wollen«, hatte ihre Großmutter bestimmt geantwortet und ihr den Stapel Karten auffordernd hingehalten. »Konzentrier dich und sag mir, was du siehst!«

»Nichts«, hatte ihr kindliches Selbst geantwortet. »Da ist nichts, Granny, wirklich.«

»Julie«, rief Alastair sie zurück in die Realität.

Ohne dass sie es bemerkt hatte, war sie den Flur in Richtung Treppe entlanggelaufen.

»Laurie ist im Salon. Sie kann schon lange keine Treppen mehr steigen, deshalb haben wir ihr hier unten ein Lager aufgeschlagen.« Alastair strich sich über den dichten Schnauzer, wie um seine Gefühle zu verbergen.

Sie schwiegen einen Moment.

»Es tut mir leid«, sagte Julie schließlich noch einmal, während sie auf Alastair zuging. »Ich hätte früher kommen sollen.«

»Ja, das hättest du«, stimmte er ruhig zu und sah ihr mit seinen unergründlichen grauen Augen direkt ins Gesicht. »Aber nun bist du hier, und das ist alles, was zählt.« Er schob sich an ihr vorbei und klopfte verhalten an die Tür. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, betrat er das Zimmer, in dem ihre Tante im Sterben lag.

Das muss ein Irrtum sein, war Julies erster Gedanke, als sie ihre Tante sah. Sie haben ihre Krankheit nur vorgegeben, um mich zurück nach Yarnville zu locken.

Laurie wirkte wie eine Frau in der Blüte ihrer Jahre und so beneidenswert gesund, dass sich jeder Gedanke an Krankheit und Tod verbot. Sie hob die Hand und winkte Julie näher heran. Erst als Julie sich neben ihren Sessel kniete, bemerkte sie die feinen Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln ihrer Tante, die vom Schmerz erzählten.

»Meine Kleine«, flüsterte Laurie und ihre grünen Au­­gen glänzten. »Wie lange habe ich auf dich gewartet. Aber nun bist du endlich da, und ich kann in Frieden gehen.«

»Es tut …«, setzte Julie an.

»Pst«, unterbrach ihre Tante sie und verzog den Mund zu einem mühsamen Lächeln. »Es spielt keine Rolle.« Sie sah an Julie vorbei zu Alastair, der ihr stumm ein Glas Wasser reichte.

Julie erhob sich und trat zur Seite. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, als sie sah, wie zärtlich Alastairs ­Finger sich um Lauries schlossen, als er ihr beim Trinken half. Mit einer Wucht, die sie völlig unerwartet traf, begriff sie auf einmal, was bislang nur theoretisches Wissen gewesen war: Tante Laurie würde sterben. Ein lebendiges, liebendes Wesen würde von der Erde verschwinden und sich in Nichts auflösen. Sie würde ihr fehlen, aber Alastair würde ihr Tod tausend Mal schlimmer treffen.

Bittere Tränen brannten in Julies Augen und sie wandte den Kopf ab, damit Laurie sie nicht weinen sah. Sie war so egoistisch gewesen. Ihre Tante hatte ihr den Wegzug aus Yarnville ermöglicht und sie hatte sich nie gefragt, ob Laurie nicht auch gern ein Leben abseits der Hexentradition gewählt hätte, wäre es ihr möglich gewesen.

So lautlos wie möglich ging Julie in Richtung Tür. Sie wollte ihre Tante und Alastair allein lassen, aber trotz ihrer geschlossenen Augen schien Laurie zu ahnen, was sie vorhatte.

»Du störst nicht«, sagte sie mit einem Anflug ihres alten, stets beherrschten Selbst. »Bleib!«

Julie meinte zu sehen, wie sich Alastairs Schultern anspannten, aber er sagte nichts. Also suchte sie sich einen Sessel nahe am Fenster und wartete darauf, dass ihre Tante den letzten Atemzug tat.

Ihr »Bleib!« hallte in Julies Kopf nach. Einmal, als Lauries Atemzüge immer flacher wurden, fasste sich Julie ein Herz und fragte Alastair, ob sie nicht doch einen Arzt rufen sollte.

Wie in einer Trance schaute er sie an. Sein Blick war leer und er wirkte selbst wie ein Sterbender, nein, wie ein Toter. Unter der papierdünnen Haut sah Julie die Knochen seines Schädels und auch, wie sich das Kiefer­gelenk bewegte, als er mit den Zähnen knirschte. Mit pochendem Herzen betrachtete sie die Schwärze, die dort lauerte, wo eigentlich seine Augen hätten sein sollen. Erst als sie blinzelte, kehrte die Realität zurück.

Ich bin übermüdet, nichts weiter, sagte sie sich und fragte sich für einen Moment, ob sie wohl verrückt würde. Der nahende Tod ihrer einzigen Verwandten, die Rückkehr nach Yarnville und alles, was das für sie bedeutete, mochten zu viel gewesen sein.

»Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen«, schlug Alastair vor. Er las sicher nicht ihre Gedanken, sondern sprach nur das Offensichtliche aus. »Und nein, Laurie möchte keinen Arzt. Sie will nicht unter Drogen gesetzt werden, bis sie einschläft. Das hat sie mir mehr als einmal gesagt und wir sollten es respektieren.«

Julie senkte den Kopf und nickte. »Schon gut, ich ­verstehe.« Dann stand sie auf und ging zu ihm hinüber.

Warum hatte er sich nicht einen Stuhl genommen und kniete stattdessen auf einem Sofakissen? Wahrscheinlich war er der Meinung, diese Position sei die einzig würdevolle Möglichkeit, Laurie in ihrer schwersten Stunde beizustehen.

Julie hockte sich neben ihn und legte besänftigend ihre Hand auf seine. Zuerst glaubte sie, er wolle sie zur Seite stoßen, aber dann entspannten sich seine Finger unter ihren. Mit ihrer Hand in seiner Linken und Lauries in seiner Rechten war es wie ein Kreis, in dem die Energie ungehindert fließen konnte – so wie früher, wenn ihre Großmutter und Tante Laurie sie in die Mitte genommen hatten, um eines der harmloseren Rituale mit ihr durchzuführen.

Bei dieser Erinnerung begann Julie, sich unwohl zu fühlen. Sie wollte ihre Finger lösen, aber Alastair hielt sie fest.

»Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte er und verstärkte seinen Griff.

Und tatsächlich tat Laurie kurz darauf ihren letzten Atemzug – mit offenen Augen, die Julie bis zuletzt nicht losließen. Es war ein merkwürdiger Moment, denn obwohl Julie sah, dass Laurie nicht mehr lebte, hatte sie nicht das Gefühl, dass ihre Tante wirklich fort war. Erst als Alastair ihr sanft die Lider schloss und etwas murmelte, das Julie nicht verstand, begriff sie, dass es wirklich und wahrhaftig vorbei war.

»Jetzt kannst du einen Arzt rufen«, sagte er, während er aufstand und sich auf die Hosenbeine klopfte.

Julie erhob sich ebenfalls und wollte ihn umarmen, aber er drehte sich fort von ihr und ging zum Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe und Julie sah, dass er lächelte. Ihre Blicke trafen sich in der Fensterscheibe und kurz glaubte Julie, eine Bewegung hinter ihrem Rücken zu sehen, einen Schatten, der sich drohend erhob. Sie rieb sich die Augen und die Erscheinung verschwand.

»Wärst du so lieb, mich ein paar Minuten mit deiner Tante allein zu lassen?«, fragte Alastair.

»Natürlich«, antwortete Julie, ging in den Flur hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Dann sah sie sich um.

Das Telefon stand noch immer auf dem Tischchen und daneben lag Tante Lauries kleines schwarzes Adressbuch. Julie fand die Nummer ihres Arztes, rief ihn an, und die Maschinerie geriet in Bewegung.

Der Arzt kam, stellte den Totenschein aus und gab Julie den Prospekt des einzigen Beerdigungsunternehmens der Stadt. Ohne den bunten Bildern einen Blick zu gönnen, suchte sie nach der Telefonnummer und bat den Bestatter, ihre Tante abzuholen. Alastair wich unterdessen nicht von Lauries Seite. Erst als der Bestatter ihn behutsam an der Schulter berührte, schien er aus seinem Dämmerzustand zu erwachen und wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Der Bestatter sprach ihm sein Beileid aus, bevor er sich wie in einem Nachgedanken Julie zuwandte und ihr ebenfalls die Hand drückte. In diesem Moment begriff sie, dass nicht sie, sondern Alastair, der langjährige Vertraute ihrer Tante, als der Hauptleidtragende galt.

Nachdem der Bestatter gegangen war, folgte Julie Alastair in die Küche. Auch hier war fast alles noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Die einzigen Neuerungen waren technischer Natur, wie etwa die Spülmaschine und ein riesiger Kühlschrank.

»Soll ich uns einen Tee kochen?«, bot Julie an.

Alastair nickte stumm und setzte sich an den Küchentisch. Julie nahm zwei Tassen und die angeschlagene Teekanne mit dem verblassten Rosenmuster, die ihre Großmutter so oft benutzt hatte, aus dem Schrank. Alles fühlte sich vertraut und fremd zugleich an.

Alastair räusperte sich. »Du weißt, dass Laurie diesen ganzen modernen Kram nur für dich hat einbauen ­lassen. Es gibt jetzt sogar eine Internetverbindung hier.«

Julie setzte Wasser auf und versuchte, das wachsende Gewicht auf ihren Schultern zu ignorieren. Alastair war wie eine Katze, die sich ihrer Beute nicht direkt näherte, sondern sie zuerst in Sicherheit wiegte. In dem Augenblick, in dem Julies Wachsamkeit nachließ, würde er zuschlagen. Sicher, er hatte nur »ihr Bestes« im Sinn, aber das machte es nicht leichter für sie.

»Ja«, antwortete sie schließlich. »So wird sich das Haus leichter verkaufen lassen.« Sie gab Teeblätter in die Kanne, und als das Wasser kochte, goss sie es hinein. Sofort stieg der Duft von Kräutern und Blüten auf.

Julie setzte sich Alastair gegenüber und spürte, wie sich das schlechte Gewissen in ihr ausbreitete. Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand.

»Du weißt, dass ich nicht hierbleiben werde«, sagte sie leise. »Ich kann nicht. Ich habe ein eigenes Leben, eines, das mit Yarnville nichts zu tun hat.«

Alastair schnaubte, sagte aber nichts, sondern sah sie einfach nur an. Julie ließ seine Hand wieder los und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Es spielte keine Rolle, dass sie Mechanismen wie sein Schweigen zu durchschauen gelernt hatte – sie entfalteten ihre Wirkung trotzdem.

Verdammtes Yarnville! Seit sie die Stadtgrenze passiert hatte, fühlte sie sich, als wäre sie wieder sechs Jahre alt.

»Ich bin eine erwachsene Frau«, beharrte sie. Sehr überzeugend, Julie, dachte sie und hielt sich an ihrer Tasse fest. »Sobald das Testament verlesen wurde, werde ich wieder fortgehen.«

»Ach ja?«, fragte Alastair. »Und deshalb hast du deinen Haushalt aufgelöst und tauchst hier mit jeder Menge Gepäck auf? Erzähl mir nichts, Julie! Ich kenne dich. Du läufst wieder einmal davon. Was ist es diesmal? Ein Mann?«

Julie zuckte zusammen. »Das geht dich nichts an. Und nur weil du mich seit meiner Geburt kennst, hast du nicht das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe.«

»Nein«, stimmte er ihr überraschenderweise zu. »Aber wie üblich bist du blind für das, was die Menschen in ­deiner Umgebung antreibt.«

Autsch, das tat weh!

»Es ist nicht die Tatsache, dass ich dich gut kenne, die mich so offen sprechen lässt«, erklärte er. »Ich kann vielleicht nicht behaupten, dir ein Vater gewesen zu sein, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich immer für dich da war, wenn du mich brauchtest.«

Die umständliche Formulierung zeigte ihr, wie verletzt er sein musste. Tatsächlich war er der einzige Mann, der konstant von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenwerden ein Teil ihres Lebens gewesen war, auch wenn er immer weiter in den Hintergrund getreten war, je älter sie geworden war.

Er schien nach den passenden Worten zu suchen. »Wärst du mir gleichgültig, dann würde ich einfach den Mund halten und gehen«, sagte er schließlich. »Aber das kann ich nicht, meine Zuneigung zu dir ist zu groß.«

Die letzte und schärfste Waffe war immer die Liebe. Julie hatte es geahnt. Gerade als sie den Mund öffnete, um Alastair zu antworten, hob er die Hand.

»Bitte, lass mich aussprechen!«

Sie nickte. Was blieb ihr auch anderes übrig?

»Ich weiß, du willst nichts mehr mit Yarnville, mit deiner Vergangenheit hier zu tun haben. Aber du bist es deiner Tante schuldig, es zumindest einmal zu versuchen. Gib Yarnville eine Chance! Gib dir selbst eine Chance, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen, Julie! Der Laden ist ebenso wie das Haus bereit für dich.«

Julies Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ihre Tante hatte alles getan, damit sie sich hier wohlfühlte. Einen letzten Einwand hatte sie aber noch, auch wenn sie ahnte, dass Alastair ihn ebenfalls als unbedeutend abtun würde.

»Ich kann das Itchy Witchy nicht übernehmen.« Der alberne Name des Geschäfts kam ihr nur schwer über die Lippen. »Ich glaube nicht an Hexerei. Wie kann ich in einem Laden arbeiten, der davon lebt, nicht nur ­esoterische Bücher, sondern vor allem Bedarfsartikel für die Hexe von heute zu verkaufen?« Sie schüttelte den Kopf.

Zu spät bemerkte sie das Glitzern in Alastairs Augen. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln zeugten von seiner Heiterkeit. Es war beinahe eine Erleichterung, seine Trauer weichen zu sehen, aber eben nur beinahe. Wäre es nicht um ihre Zukunft gegangen, hätte Julie sich gefreut. So aber hatte sie das dumpfe Gefühl, der Katze tatsächlich in die Falle gegangen zu sein.

»Du wirst dich wundern«, sagte er geheimnisvoll.

Und so war es auch.


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