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6 – Sahlkamp, Hannover

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Vor ihrem ersten Besuch letzte Woche hatte Rosa sich noch gewundert, warum das Hochhaus, in dessen 14. Stockwerk sich Deniz Güls Zweizimmer-Sozialwohnung im Hannoveraner Problemstadtteil Sahlkamp befand, von Gül selbst im Rahmen ihrer Wegbeschreibung am Telefon als „Springerturm“ bezeichnet worden war. Als Rosa dann aber vor einer Graffiti-besprenkelten Wand von Klingeln gestanden hatte, die sich las wie die Namensschilder auf einer UNO-Vollversammlung, und keine zehn Meter neben ihr etwas Schweres dumpf auf den Asphalt gekracht war, hatte sie begriffen. Die Menschen sprangen, weil sie das Leben hier nicht mehr aushielten. Oder weil jemand nachhalf.

Rosa dachte an jenem 28. Dezember, an dem in München die Bits & Pretzles stattfand, ungläubig daran zurück, wie professionell und unbeteiligt sie vor einer Woche reagiert hatte. Sie hatte nebenan nachgeschaut, den zerfetzten körperlichen Überrest eines menschlichen Wesens gesehen, pflichtbeflissen die Polizei gerufen, geduldig gewartet, ihre Aussage präzis gemacht und war dann unbekümmert in einem nach Urin stinkenden Fahrstuhl zu Frau Gül hinauf gefahren, um endlich das Interview zu führen, wofür sie die Anreise aus Hamburg auf sich genommen hatte. Heute, wo ihre Vergewaltigung durch von Schirach kaum 24 Stunden zurücklag, traf sie die Hoffnungslosigkeit dieses Ghettos hingegen mit voller Wucht. Sie wischte sich Tränen aus den Augen und drückte die Klingel.

„Hallo meine Liebe.“

Rosa wurde mit einer Selbstverständlichkeit umarmt, als ob sie die Tochter gewesen wäre, die Deniz Gül nie gehabt hatte. Die Herzensgüte der Begrüßung einer Quasi-Fremden versetzte sie wieder einmal in Staunen, hatte das Leben Frau Gül doch nicht das beste Blatt ausgeteilt.

„Guten Tag, Frau Gül.“

Zehn Jahre hatte die mittlerweile sechzigjährige Türkin aus Izmir als Haushälterin des Hannoveraner Drückerkönigs Walter Rokamp gearbeitet. Eines Morgens, als sie ihm den Kaffee beim Frühstück einschenkte, hatte sie ihren Arbeitgeber nach einem Anlagetipp für ihr auf dem Girokonto dahindarbendes Kleinkapital gebeten. Rokamp, der zwar ganz unten angefangen hatte, inzwischen aber ein großes Rat drehte und solcherlei Brosamen eigentlich am Wegesrand liegen lassen konnte, roch sofort das Geschäft. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert! Er verwies sie an die nächste Hannoveraner Niederlassung seines inzwischen bundesweit operierenden Finanzvertriebs Deutsche Anlageberatung (DAB). Leichtgläubig deckte sie sich dort auf wärmste Empfehlung ihres Chefs hin mit sämtlichem hoch provisionierten Schrott ein, den deutsche Finanzvertriebe sich zu der Zeit ganz vorne ins Schaufenster zu hängen pflegten. Mit Ausbruch der Finanzkrise 2007 / 2008 verlor sie dann nahezu ihre gesamten Ersparnisse. Als sie Rokamp damit konfrontierte und vorsichtig nach einer Entschädigung fragte, wiegelte er ab. Drei Monate später wurde sie entlassen. Seitdem war sie nicht nur vermögens-, sondern trotz intensiver Jobsuche wegen ihres fortgeschrittenen Alters auch noch langzeitarbeitslos.

„Kommen sie herein. Ich habe Tee für uns gemacht. Außerdem habe ich ein fantastisches Baklava im Hause. Möchten Sie etwas davon, Frau Peters?“

„Gerne.“

Gül führte Rosa zu einem liebevoll gedeckten Tisch in ihrem winzigen Wohnzimmer. Trotz der bescheidenen Verhältnisse fühlte Rosa sich wie auch schon bei ihrem ersten Besuch letzte Woche sofort wohl. Die Gastgeberin schenkte ihnen schwarzen Tee in kleine Glasbehältnisse ein. Sie probierten von dem Baklava.

„Wie ich beim letzten Mal schon gesagt habe, kann ich mit Ihnen leider keine pikanten Details aus dem Privatleben meines ehemaligen Arbeitgebers Herrn Walter Rokamp teilen. Die simple Wahrheit ist, dass ich ihn als einen zwar von seiner Arbeit besessenen, ansonsten aber stinknormalen, durch und durch biederen Mann erlebt habe.“

Für einen Moment lang befürchtete Rosa, dass sie umsonst gekommen war, dass Frau Gül nichts Neues für sie zu berichten hatte. Letzte Woche war sie erschienen, weil sie über Rokamp einen Artikel schreiben wollte und sich durch eine Recherche in seinem privaten Umfeld Aufschluss darüber erhofft hatte, was für ein Mann er war. Rokamp hatte seit Abbruch seines Medizinstudiums, das heißt quasi sein ganzes Leben lang einen militärisch geführten Finanzvertrieb aufgebaut und diesen kurz vor der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers an einen Luxemburger Versicherungskonzern veräußert. Während er dadurch zum Milliardär avancierte, verloren im Anschluss daran Abertausende Kleinanleger, welche die von ihm vertriebenen Finanzprodukte gutgläubig gekauft hatten, im Verlaufe der Finanzkrise ihre Ersparnisse. Der mediale Aufschrei war groß. Den wenigsten Journalisten gelang es jedoch, über das Vorgesagte hinaus wirklich neue Einsichten in der Causa Rokamp zu Tage zu fördern. Rosas Kalkül war da gewesen, dass wenn jemand etwas wüsste, es die Frau sein müsste, die ihm tagein, tagaus das Frühstück serviert, die seine Hemden gebügelt und die passende Krawatte herauslegt hatte. Leider hatte sich letzte Woche jedoch gezeigt, dass Deniz Gül nichts Nützliches zu ihrem Artikel beizusteuern wusste. Vielleicht hatte sie Rosa heute deshalb zu sich eingeladen, weil ihr schlichtweg einsam und dies die einzige Möglichkeit war, jemanden zu bewegen, ein Glas Tee mit ihr zu trinken.

Doch dann, so als ob Frau Gül Rosas Gedanken erraten hätte, zog sie etwas Funkelndes unter ihrer mit einem Rosenmuster dekorierten Küchenschürze hervor. Rosa schaute näher hin.

Zum Vorschein kam Fabelhaftes. Das Licht brach in tausend Farben. Rosas Kenntnisse über Diamanten waren zwar im besten Fall rudimentär (sie hatte natürlich über Blutdiamanten aus Sierra Leone & Co. gehört, den Film Blood Diamond mit Leonardo DiCaprio gesehen und darüber hinaus jüngst einen kritischen Bericht im Manager Magazin über die Geeignetheit von Diamanten als Kapitalanlageobjekt für Privatpersonen gelesen). In diesem Fall war sie sich aber sicher. Hier hatten sie es mit einem lupenreinen Diamanten von mindestens einem Karat in einem perfekten Brillantschliff zu tun.

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