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11 – Semperstraße 14, Winterhude

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Die Wohngemeinschaft, in der Rosa mit zwei anderen Journalisten auf 70 Quadratmetern zusammenlebte, befand sich im vierten Stock eines alten Mehrfamilienhauses in der Semperstraße. Als sie am Abend des 30. Dezembers die Bibliothek der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg verließ (sie hatte dort den ganzen Tag über Vergewaltigungsprozesse gelesen) und nach Hause kam, stand die Tür von Philipp, der als fest angestellter Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ arbeitete, sperrangelweit offen. Das Zimmer war leer. Wie meistens war der sympathische Mittdreißiger anscheinend ausgeflogen. Die Tür der zehn Jahre jüngeren Mareike, eine Volontärin beim Hamburger Abendblatt, war hingegen verschlossen. Aus dem Raum dahinter kamen Geräusche, die Rosa vorerst nicht zu identifizieren vermochte.

Sie hing ihre Jacke an die Garderobe im Flur und ging in ihr eigenes Zimmer. Dort drehte sie die Heizung auf. Anschließend legte sie sich aufs Bett, weil sich auf dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster allerlei Krimskrams zollhoch stapelte und der Schreibtischstuhl bereits von einem unentwirrbaren Kleiderknäuel okkupiert wurde.

Allmählich wurde Rosa klar, worum es sich bei den durch die hellhörige Wand nun gut vernehmbaren Geräuschen handelte. Ihre Mitbewohnerin, die ein unglaublicher Schreihals beim Liebesspiel zu sein imstande war, hatte mal wieder Sex. In letzter Zeit hatte Mareike ihren Verschleiß an Sexualpartnern signifikant gesteigert. Jetzt kam beinahe alle drei Tage ein neuer Typ an die Reihe, mit dem sie es laut stöhnend, manchmal vier Mal an einem einzigen Abend, hemmungslos trieb.

Es hatte Zeiten gegeben, da war Rosa ganz verrückt nach Sex gewesen und hätte vermutlich eine Weile vergnügt zugehört. Doch heute Abend fühlte sie sich extrem unwohl dabei. Sie nahm ihr MacBook, setzte einen Kopfhörer auf und hörte online über den Streamingdienst Spotify Musik.

Während sie die Nachrichten im Internet durchging, sah sie aus dem Augenwinkel einen behaarten, recht hässlichen, an die fünfzig Jahre zählenden Mann an ihrem Zimmer vorbei zur Toilette schlurfen. Sie erschrak. Hoffentlich hatte Mareike nicht ebenfalls was mit ihrem Chef. Angewidert beschloss Rosa, dass es langsam Zeit für sie wurde, das WG-Leben an den Nagel zu hängen und sich eine eigene kleine Wohnung zu mieten.

Sie ging alle Nachrichten-Portale durch, die sie für gewöhnlich frequentierte. Darunter befanden sich sowohl progressivere Webseiten wie diejenigen etwa von Vice Media, der Huffington Post und Gawker, aber auch die Online-Angebote der etablierten Print-Medien, als da wären die Bildzeitung, die FAZ, der Spiegel, etc.

Als sie handelsblatt.com aufrief, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht auf einem Photo. Der Titel darüber lautete: „Ex-Banker der Germanischen Bank seit heute Nachmittag in Untersuchungshaft“. Sie verschlang den Artikel regelrecht. Es handelte sich um Alexander Büsking, einen ehemaligen Mitarbeiter im Londoner Büros der Germanischen Bank, den man seitens der britischen Strafverfolgungsbehörden verdächtigte, an der Manipulation des LIBOR beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage stützte sich auf kompromittierende Emails, die kürzlich aufgetaucht waren.

Rosa kannte Büsking. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zuerst Griedl, jetzt kurz darauf Büsking. Irgendetwas war im Gange.

Sie stand auf und machte sich in der Küche einen Kaffee. Auf dem Rückweg schloss sie ihre Zimmertür. Zurück im Bett und dankbar darüber, unterwegs nicht den Misnick – Mareikes haariges Ungeheuer – getroffen zu haben, dachte sie nach.

Was wäre, wenn all dies nicht auf Zufall basierte; wenn Griedl und auch Büsking Opfer desselben Finanzbetrügers bzw. derselben Finanzbetrügerin waren wie offensichtlich der Hannoveraner Drückerkönig Walter Rokamp? Wenn all dies System hätte? Wenn der oder die Unbekannte das gestohlene Geld gezielt dafür einsetzte, die Bestohlenen für ihre Sünden dranzukriegen? Wenn er oder sie sich als moderne Robin Hood-Version entpuppen sollte? Wer war ihm oder ihr noch alles aus der Welt der korrupten Reichen zum Opfer gefallen?

Ein kalter Schauer lief Rosa den Rücken herunter. Das wäre eine Story, wenn sie alles aufdeckte und diesen Robin Hood als Erste interviewte, weil sie ihn vor der Polizei fände. Wer war es nur? Was für eine Person? Wie hat sie es hinbekommen, die reichsten und gewieftesten Finanzgauner mit ihren eigenen Waffen aufs Kreuz zu legen? Bestimmt nicht mit dem einfältigen Verkauf von Lebensversicherungspolicen und Schiffsfonds, das war ein alter Hut, so viel war sicher. Und viel wichtiger noch: Wo befand diese Person sich jetzt?

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