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Prolog

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London, Kensington Palace Gardens, Boulevard of Billionaires, teuerste Wohnstraße Englands, vielleicht sogar der Welt.

Alexander Büsking stand auf seinem zur Allee blickenden Balkon, den ein Portikus aus dorischen Säulen trug. An der Balustrade klaffte noch das kunterbunte Wappen der Demokratischen Bundesrepublik Nepal. Büsking hatte das fürstliche Herrenhaus im neoklassizistischen Stil vor anderthalb Jahren dem nepalesischen Botschafter für 18 Millionen Pfund abgekauft – ein Schnapperl, wie er fand, belief sich der durchschnittliche Villenpreis an der 800 Meter langen Milliardärszeile doch zurzeit auf gut 20 Millionen Pfund.

Ein kalter Dezemberwind peitschte dem deutschen Finanzjongleur in der Morgendämmerung unablässig Nieselregen ins Gesicht. Er scannte mit seinen hinter der dicken Hornbrille unruhig hin und her springenden Habichtsaugen das Chaos auf seinem Grundstück.

Armageddon. Es sah aus, als ob ein paar Halunken rund 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal von Pas-de-Calais aus eine Batterie von Wernher von Brauns V2-Raketen in Richtung der britischen Hauptstadt abgeschossen hätten – und diese sämtlich ausgerechnet bei ihm zuhause eingeschlagen wären.

Dort, wo normalerweise die Autos um einen spätbarocken Springbrunnen vorfuhren, welcher der römischen Fontana di Trevi mühelos hatte Konkurrenz machen können, befand sich jetzt ein 12 Meter tiefer Krater. Aus den Untergeschossen des ehemaligen Botschaftsgebäudes transportierten Förderbänder steinige Erde nach oben, die von zahlreichen Arbeitern in Schubkarren verladen und weggeschafft wurde.

Der Bauleiter der Unterkellerungs-Firma London Basement stand neben ihm auf dem Balkon. Es war der 27. Dezember. Auch zwischen den Jahren wurde gearbeitet. Ungefähr 1500 Lkw-Fuhren, so hatte der Mann ihm soeben mit einem schelmischen Lächeln verraten, würden nötig sein, bis genügend Erdreich ausgehoben war, um aus seiner Premiumimmobilie auch noch ein veritables Eisberg-Haus zu zaubern. Jetzt verlangte er von Büsking eine weitere Vorauszahlung. Ca. zwei Millionen Pfund für den nächsten Bauabschnitt.

Büsking bat ihn, ihm zu folgen. Sie gingen durch eine weit geöffnete Flügeltür hinein. Ein langer Flur, der mit natur-romantischen Ölgemälden von William Turner ausstaffiert war, welche Büsking vor Kurzem bei Sotheby’s ersteigert hatte, führte zu seinem Arbeitszimmer.

Anfangs waren seine Pläne noch ganz bescheiden gewesen. Bei einem befreundeten Investmentbanker, von dem er vor einiger Zeit zwecks einer Château Margaux-Vertikaldegustation in sein Brownstone-Townhouse in der Nähe des Chelseaer Sloane Squares eingeladen worden war, hatte Büsking zum ersten Mal ein Eisberg-Haus zu Gesicht bekommen. Der gebürtige Argentinier, Sohn einer der größten Rinderbarone der Pampa und Leiter des Mergers-&-Acquisitions-Geschäfts im Londoner Büro einer französischen Großbank, hatte sich im Wege einer Unterkellerung Platz für einen Weinkeller, einen Golfsimulator, eine Sauna, einen Massageraum, einen Heimkinosaal sowie ein Spiel- und Tobezimmer für seine vier Kinder geschaffen. Ähnlich dezent wollte zu diesem Zeitpunkt auch Büsking noch vorgehen.

Allenfalls hatte er damals neben derartigen Annehmlichkeiten an eine unterirdische Garage für seine Sammlung von Ferrari-Oldtimern gedacht. Denn der Mittfünfziger hatte sich seit seinem 29. Geburtstag jedes Jahr, nachdem die Boni ausgezahlt worden waren, davon einen feuerroten Vintage-Boliden gegönnt. Er liebte dieses Ritual und inzwischen war mithin schon ein respektabler Fuhrpark zusammengekommen.

Doch dann weckte die plötzlich über London gekommene Iceberg-Home-Manie allmählich seinen Ehrgeiz. Überall in Westlondon, wo An- und Ausbauten der in georgianischer, viktorianischer und edwardischer Zeit entstandenen Häuser nicht erlaubt waren, baute man ganze Luxuspaläste in die Erde: in Chelsea, in Knightsbridge, in Kensington, in Notting Hill, in Mayfair, in Belgravia, in Westminster. Flächenmäßig überstiegen diese den überirdischen Teil der Gebäude nicht selten bei Weitem.

Und überall, wo das Portemonnaie ordentlich gefüllt und die Großmannssucht hinreichend hypertroph war, kannte der Erfindungsreichtum keine Grenzen. Unter den Extravaganzen, die sich die nach London in Scharen strömenden Superreichen des Erdkreises für ihre dekadenten Katakomben einfallen ließen, hatte Büsking unter anderem imponiert: der unterirdische Tennisplatz eines durch den IPO seiner Maklerfirma reich gewordenen englischen Immobilienvermarkters, das Below-Ground-Basketballfeld eines in die Jahre gekommenen irischen Rockstars sowie die Unter-Null-Bowlingbahn eines deutschen Industriellen.

Genüsslich hatte Büsking kürzlich über eine Labour-Abgeordnete gelesen, die in ihrem Wahlkreis Westminster in den Keller eines Eisberg-Hauses hinabgestiegen war und sich an das Deck eines Flugzeugträgers versetzt gefühlt hatte. Besonders gefiel ihm auch die Tatkraft eines texanischen Bankiers, der vier Geschosse tief hatte in die Erde bauen lassen, damit sein Untertage-Schwimmbad mit einem Dreimeter-Sprungbrett ausgestattet werden konnte. Sein Favorit aber war der gigantische Underground-Pool eines kanadischen Medienmoguls, dessen Boden auf Knopfdruck automatisch hochfuhr, um sich im Handumdrehen in einen repräsentativen Ballsaal zu verwandeln. Letzteres deshalb, weil es den passionierten Cineasten Büsking immer an eine der finalen Szenen in dem James Bond-Film Goldeneye erinnerte, in der aus einem kubanischen Bergsee das Wasser so lange abläuft, bis eine riesige Satellitenschüssel zum Vorschein kommt.

Er hatte angesichts derartig bombastischen Pomps nicht zurückzustehen vermocht. Schließlich wohnte Büsking in unmittelbarer Nachbarschaft zum britischen Thronfolger im Kensington Palace; ein paar Steinwürfe weiter auf der für den Durchgangsverkehr gesperrten, schwer bewachten Kensington Palace Gardens residierte die saudische Königsfamilie; außerdem hatte der Sultan von Brunei hier seine Londoner Residenz, durch deren sämtliche Fenster goldene Lüster zu sehen waren; des Weiteren zählten zu den illustren Anwohnern der ukrainisch-russische Oligarch Leonard Blavatnik sowie der gebürtige Inder und Stahl-Baron Lakshmi Mittal, seines Zeichens Großbritanniens reichster Mann, welcher seine erste (weitere Zukäufe folgten) Kensington Palace Gardens-Immobilie – nunmehr „Taj Mittal“ genannt – im Jahr 2004 für 57 Millionen Pfund von Bernie Ecclestone erworben hatte; und während der blasierte französische Botschafter sich noch nie dazu hatte herablassen können, Büsking auf der Straße zu grüßen, taten dies unter den dort wohnhaften Botschaftern etlicher anderer Nationen der japanische und russische es erst seit jenem Zeitpunkt nicht mehr, als Büsking trotz ihres Protests mit dem lärmenden Bauprojekt auf seiner Parzelle begonnen hatte.

Büsking selbst dünkte sich als ein Alphatier mindestens vom majestätischen Format seiner Nachbarn. Und als diese ihre Häuser erdwärts zu erweitern begannen, ließ eine Mischung aus Wettbewerbsgeist und Neid seine ursprünglichen Ausbaupläne immer weiter ausufern. Beinahe stündlich wurde es teurer und teurer. Immer spektakulärere Groteskerien fielen ihm ein. Inzwischen war er bei zweitausend neuen Kellerquadratmetern zu deren standesgemäßer Beherbergung angelangt, was bei einem Quadratmeterpreis von 6800 Pfund insgesamt 13.600.000 Pfund Sterling machte – allein für den Rohbau versteht sich. Die verschwenderische Inneneinrichtung und zahllosen coolen, als Füllmasse intendierten Gadgets noch nicht eingerechnet!

Hinter seinem massiven Schreibtisch angekommen, wischte sich Büsking die nassen Brillengläser sauber. Er bat seinen Gast von London Basement, sich auf dem Chesterfield Sofa gegenüber niederzulassen. Die raumhohen Walnussholzregale ringsum ächzten unter der Last tausender antiker Bücher, die von Büsking noch nie aufgeschlagen worden waren und in die er auch niemals einen Blick zu werfen beabsichtigte.

Büsking öffnete sein Online-Account bei Flash Capital, jenem Fondsunternehmen, bei dem er den größten Teil seines liquiden Vermögens investiert hatte.

Auf einmal erschrak er. Eine Ganzkörpergänsehaut machte alsbald kaltem Schweiß Platz. Das konnte einfach nicht sein. Der Kontostand von Alexander Büsking bei Flash Capital betrug null. Statt seines dort eigentlich vermuteten Guthabens von inzwischen rund 27.000.000 Euro fand sich in dem Account bloß eine Nachricht, auf die er sich beim besten Willen keinen Reim machen konnte:

Das gellende Lachen verstummte zumal;

Es wurde leichenstill im Saal.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand

Da kam’s hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

Der König stieren Blicks da saß,

Mit schlotternden Knien und totenblass.

Die Magier kamen, doch keiner verstand

Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar aber ward in selber Nacht

Von seinen Knechten umgebracht.

Kampen auf Sylt, Hobookenweg, exklusivste Straße der Bundesrepublik, das deutsche Pendant zu Kensington Palace Gardens. Kaufpreis pro Quadratmeter Wohnfläche im aktuellen Marktumfeld: immerhin um die 35.000 Euro.

Kaum eine Stunde bevor Alexander Büsking in die Verlegenheit kam, London Basement um einen Zahlungsaufschub beten zu müssen, hatte sein Freund Fiete Peters sich die neonfarbenen Joggingschuhe in der Diele seines reetgedeckten Wochenendhauses zugeschnürt. Draußen war es zu diesem Zeitpunkt noch stockdunkel gewesen. Seine bezaubernde dritte Frau Nele hatte sich genauso noch im Tiefschlaf befunden wie die fünfjährige Emma und die dreijährige Julia.

Der Hobookenweg lag an der Wattseite der auf dieser Höhe nicht viel mehr als einen Kilometer breiten Insel. Als Peters von dort Richtung westlicher Meerseite durch das noch schlummernde Kampen joggte, erinnerte ihn die Szenerie an J. R. R. Tolkiens fiktiven Literaturort Auenland.

Die sanft geschwungenen Dächer aus Reet schützten im nordisch-insularen Kapitänshaus-Baustil errichtete, in ihrer Gedrungenheit extrem gemütlich wirkende Backsteindomizile vor Wind und Wetter. Peters hätte es ganz und gar nicht überrascht, wenn sogleich eine Kolonie von drolligen Märchengestalten aus den geduckten Behausungen entstiegen wäre und geschäftig den Tag begonnen hätte.

Auf den immensen Reichtum, der sich hier konzentrierte, deuteten allenfalls die in den Einfahrten allerorten parkenden Luxuskarosserien hin, welche zwischen den perfekt getrimmten Hecken bling-blingten.

Die Morgendämmerung setzte ein, während Peters einen Trampelpfad durch die Dünen nahm. An der höchsten Stelle angekommen stellte er dankbar fest, dass der Wind von Norden her blies. Aber auch bei Gegenwind wäre er den Strand am Roten Kliff entlang zum südlichen Ende der Insel gelaufen.

Allmählich ging die Sonne auf. Ein wunderbarer klarer kalter Wintermorgen kündigte sich an. Die Brandung ging leicht. Der Rückenwind beschleunigte seine Schritte auf dem schmalen nassen Strandabschnitt, den die einsetzende Ebbe bereits hinterlassen hatte. Indessen man in dem trockenen Sand weiter oben zu tief einsackte, eignete sich die relativ harte Bodenbeschaffenheit hier ausgesprochen gut zum Laufen. Keine drei Meter von ihm liebkosten die vorsichtig züngelnden Wellen der Nordsee das Land. Muschelschalen knackten jedes Mal, wenn er mit seinen Füßen aufsetzte.

Peters liebte sich und sein fabelhaftes Leben. Gestern noch hatte er einen zweistrahligen Privatjet für 63 Millionen US-Dollar bestellt. Eine Gulfstream G650. 12.964 Kilometer Reichweite. Mit einer Maximalgeschwindigkeit von Mach 0,925 war es das schnellste seiner Klasse. Damit spielte er in der Champions League.

Seit er als mittelloser junger Mann in John Grishams Romanen gelesen hatte, wie die dort durch Sammelklagen in den USA unvorstellbar reich gewordenen Anwälte sich derartige Trophäen leisteten, hatte er sich ein solches Luxusflugzeug gewünscht. Und als ob der Reeder und Initiator zahlreicher Schiffsfonds sich damit noch nicht genug Gutes getan hätte, wartete in den Dünen vor Wenningstedt-Braderup nun noch eine Belohnung ganz besonderer Art auf ihn.

Er bog nach links ab und steuerte auf eine kleine Bretterbude zu. Als Jenny Dumbkowski ihn erkannte, rief sie sofort sehnsuchtsvoll:

„Fieetä, Fieeetää, Morschn!“

Peters hatte die dreiundzwanzigjährige gebürtige Dresdnerin in der letzten Staffel der RTL-Fernsehserie „Der Bachelor“ entdeckt. Die platinblonde, 1,81 Meter große Sächsin war damals unter die letzten drei Kandidatinnen gekommen. Während eines Flirts mit dem braungebrannten „Bachelor“ im Whirlpool hatte die vollbusige Nixe herrlich affektiert von ihrem BWL-Studium in Leipzig und der angeblichen Leidenschaft für Wirtschaftsfragen parliert.

Er rief sie sofort nach Ausstrahlung der Sendung an. Es waren weniger ihre guten Noten als vielmehr ihre optischen Vorzüge, die ihn dazu bewegten, ihr ein Bruttojahresgehalt in Höhe von 96.000 Euro für den Job der Assistenz der Geschäftsleitung zu zahlen. Oder besser gesagt: Für ihre Dienste als seine Kurtisane – er liebte die Bezeichnung „cortigiana“, kam ihm seine Geilheit dann doch immer wie diejenige eines venezianischen Renaissance-Kaufmanns vor, was ihm die Fremdvögelei als etwas durch und durch Ehrbares erscheinen ließ.

„Fieetä, isch muss der edwäsch zeischn.“

„Schhhhhhh.“

Peters ließ sie nicht zu Wort kommen, bevor er das lodernde Feuer zwischen seinen Lenden gelöscht hatte. Er konnte seine verkommenen Finger einfach nicht von ihr lassen. Trotz der klirrenden Kälte – und des für einen Hanseaten gewöhnungsbedürftigen Dialekts – riss er ihr die Kleider vom zitternden Leib.

Sein allmorgendliches Joggingritual war der einzige plausible Vorwand, um vor seiner Familie die Abwesenheit zu rechtfertigen, die das plumpe Schäferstündchen mit seiner verboten heißen Assistentin nun mal verlangte. Zu nachtschlafender Zeit hatte er seine Bettgespielin heute mit seiner Cessna Citation X aus Hamburg einfliegen lassen (die Cessna nahm sich – gebraucht gekauft und mit 15 Flugjahren auf dem Buckel – im Vergleich zu der Gulfstream geradezu wie sozialer Wohnungsbau in der Luft aus). Seine Crew bestach er mit gelegentlichen Gefälligkeiten, damit sie seine Seitensprünge geheim hielt. Bisher hatte das noch immer funktioniert. Außerdem wusste er, dass auf dem Dünenwanderweg, an dem dieser abgelegene Holzverschlag den Passanten Unterschlupf vor einem plötzlichen Regenschauer bieten sollte, nur selten jemand vorbeikam, zumal zu dieser Uhrzeit.

Nach dem ruppigen Sex hing jeder für eine kurze Weile seinen eigenen Gedanken nach. Die Strahlen der Morgensonne fielen in einem solch schrägen Winkel auf die Insel, dass das Dünengras in Flammen zu stehen schien. Peters, der alles durch das Prisma seiner abklingenden Geilheit sah, wähnte sich in einem erbarmungslosen Fegefeuer. Dumbkowski blinzelte, als sie ihm ihr iPhone reichte und noch immer ganz außer Atem sagte:

„Isch wolld es der schön de gansche Zeit zeischn, abar du haschd mer ja nischd de gerinschde Schanzä gelaschn.“

Sie lachte anzüglich. Dann sächselte sie fort:

„Den Göntö bei Fläsch Gäppitäl, es is lärr. Is dasch rischtisch söö?“

Was für eine dümmliche Frage. In Peters Magen fuhr jemand Achterbahn. Er schaute wiederholt auf die App von Flash Capital, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrten. Tatsächlich, sein Kontostand wurde dort mit null angezeigt. Als er gestern das letzte Mal nachgeschaut hatte, hatte da noch die nicht unkomfortable Zahl 78.546.733 Euro gestanden. Jetzt entdeckte er eine Nachricht in seinem Postfach auf der Flash Capital-App. Er blickte auf dieselbe Zeile, die ungefähr zur gleichen Zeit auch Büsking las. Ihm war plötzlich, als ob jemand den Boden unter seinen Füßen weggezogen hätte. Er verzichtet darauf, sich von seiner deflorierten Mätresse zu verabschieden und rannte wie von der Tarantel gestochen zurück zum Hobookenweg.

Seine Frau stand mittlerweile in der mit blauweißen Delfter Fliesen gekachelten Küche und bereitete für ihn das Krabbenrührei mit Schnittlauch vor, das er so liebte. Einen besseren Mann als Peters hätten spätestens jetzt wohl Gewissensbisse heimgesucht. Aber nicht ihn. Er betrog Nele mit erstaunlicher Kontinuität seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren, ohne dass diese auch nur einen blassen Schimmer davon hatte. Und seine Gemahlin war wahrlich nicht die Einzige, die er hinterging.

Nein, das Einzige, was ihn jetzt interessierte, war der Verbleib seines Flash Capital-Geldes. Er holte sein iPhone aus der Jackentasche und wählte ohne seine Laufgeschwindigkeit auch nur einen Deut zu verlangsamen die Nummer seines Freundes Alexander Büsking.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand

Das kam’s hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

Was in Gottes Namen hatte das zu bedeuten?

Ammerland am Starnberger See, Südliche Seestraße, der Hobookenweg Süddeutschlands.

Horst Griedl saß in seinem Arbeitszimmer am knisternden Kaminfeuer und hörte seinem sechsundzwanzigjährigen Sohn Alois zu. In der Ecke am Panoramafenster stand einer von vier kolossalen Weihnachtsbäumen des Hauses.

Das Display von Griedls iPhone blinkte auf. Inzwischen summierte sich die Zahl der verpassten Anrufe auf sieben. Die eine Nummer gehörte seinem Amigo und ehemaligen Kollegen bei der Germanischen Bank Alexander Büsking und die andere seinem Kumpel Fiete Peters.

Der fünfundfünfzigjährige Bajuware, dessen gigantischer Körper die Ausmaße eines Allgäuer Braunviehbullen hatte, beschloss, dass die Rückrufe bis nach dem Gespräch mit seinem Sohn warten konnten. Er ließ den Blick schweifen vom schneebedeckten Rasen seines fußballfeldgroßen Seegrundstücks über den Holzsteg am Ufer, das unter dem Eis karibisch-türkisfarben war, hin zu den weißen Gletschergipfeln der Alpen, die sich an diesem kristallklaren Vormittag mystisch am blauen Horizont auftürmten.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll, Papa. McKinsey und BCG hat nicht geklappt, Goldman Sachs hat vor ein paar Tagen geschrieben, die laden mich noch nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein“, resümierte Alois niedergeschlagen das Ergebnis seiner nun schon knapp ein halbes Jahr andauernden Bewerbungsbemühungen.

Der Vater machte sich keine Illusionen darüber, was sein Sohn zu leisten imstande war. Es hatte vor fünf Jahren exorbitanter Spenden bedurft, damit Alois an der renommierten Vallendarer Privathochschule WHU zum Studium der Betriebswirtschaftslehre angenommen wurde. Vergangenen Sommer hatte Alois es dann, wie sein Abitur zuvor auch schon, nur mit Ach und Krach zu Ende gebracht. Seitdem war er recht erfolglos auf Jobsuche. Wie alle WHUler wollte er entweder zu einer der zwei, allenfalls drei Top-Unternehmensberatungen (Roland Berger fiel da gegenüber McKinsey und der Boston Consulting Group schon ab) oder zu einer – möglichst angelsächsischen – Investmentbank oder – was besonders en vogue unter den Elitestudenten war – sein eigenes Unternehmen gründen.

„Was willst du denn am liebsten machen?“ fragte der Vater.

„Am liebsten ein Startup gründen. Erstmal nirgendwo als Arbeitnehmer anfangen. Erstmal reisen. Den Kopf freikriegen. Eine Geschäftsidee entwickeln.“

Horst Griedl hatte diese Antwort antizipiert, als er vor einigen Wochen das heutige Gespräch mit seinem Sohn im Geiste durchgespielt hatte.

„Ist das nicht ein Vorwand, um nicht arbeiten zu müssen? Eine andere, elegantere Art mir zu sagen, dass du einfach keinen Bock hast?“

Der Vater wirkte bierernst, als er dies zu seinem Sohn sagte. Alois reagierte daraufhin verschnupft. Er riss die Arme ungläubig hoch und schnaufte trotzig.

Einige Zeit verstrich in Stille. Alois fühlte sich sichtlich unwohl. Dann erschien plötzlich doch noch ein versöhnliches Lächeln auf Horst Griedls derbem Antlitz. Es verriet, dass alles nur ein Spaß gewesen war. Aufmunternd sagte er:

„Wie heißt noch mal der Absolvent eurer Uni, der in Berlin mit seinem Inkubator Rocket Internet ein Internet-Startup nach dem anderen hochzieht und kurz darauf versilbert? Oliver Samwer? Was hältst du davon, wenn wir beiden unseren eigenen kleinen Inkubator gründen? Wir es den Saupreiß mal zeigen?“

Alois Antlitz hellte sich merklich auf. Seine giftgrünen Augen begannen auf einmal wie zwei weintraubengroße Smaragde im Licht des Kaminfeuers zu leuchten, als sein Vater fortfuhr:

„Wie du weißt, habe ich während meiner Karriere bei der Germanischen Bank ausgezeichnet verdient. Die Finanzkrise führte dazu, dass ich kündigte. Ich habe somit jede Zeit dieser Welt.“

Nach Alois Kenntnisstand hatte sein Vater hochspekulative Finanzprodukte an Kämmerer diverser Kommunen verscherbelt. Während seine Bank und er in der Tat vortrefflich an den Provisionen verdient hatten, trieb es die ein oder andere deutsche Stadt beim Ausbruch der Krise an den Rand des Bankrotts. Die negative Berichterstattung der Medien hierüber hatte den Vorstand der Germanischen Bank veranlasst, seinem Vater die Kündigung nahe zu legen.

„Für mein Geld habe ich vor einiger Zeit eine äußerst rentable Anlage gefunden: Einen Fonds namens Flash Capital. Das Startkapital in Höhe von acht Millionen Euro hat sich inzwischen vervierfacht. Wir haben also auch jedes Spielgeld dieser Welt. Lass uns was Eigenes machen!“

Als Horst Griedl fertig mit seinem Vorschlag war, stellte er befriedigt fest, dass Alois Feuer und Flamme für die Idee zu sein schien. Er genoss es, wie sein Sohn ihn jetzt gerade ohne Einschränkungen und Vorbehalte bewunderte. Die Griedls waren Gewinner, und er würde dafür sorgen, dass es bei seinem Sohn nicht anders war. Nur weil sein einziges Kind akademisch vielleicht nicht der Beste war, bedeutete dies nicht gleichzeitig, dass er am Ende des Tages nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen würde.

„Komm her Alois, ich zeige dir den Stand meines Kontos bei Flash Capital.“

Alois stand auf und folgte seinem Vater hinter den Mahagonischreibtisch zum Computer. Als Horst Griedl online sein Account öffnete, erschrak er.

Das gellende Lachen verstummte zumal;

Es wurde leichenstill im Saal.

Er wusste nicht, was ihn mehr schmerzte, der Verlust seines Geldes oder das ungute Gefühl, vor seinem Sohn wie ein windiger Hochstapler dazustehen.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand;

Das kam’s hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

Jetzt hatte er eine leise Ahnung davon, warum seine beiden Freunde aus der gemeinsamen Studienzeit in Münster, Alexander Büsking und Fiete Peters, so dringend mit ihm sprechen wollten.

Der König stieren Blicks da saß,

Mit schlotternden Knien und totenblass.

Neben dem LIBOR-Manipulator Büsking in London, dem Schiffsfonds-Initiator Peters auf Sylt und dem Croupier der deutschen Kämmerer Griedl am Starnberger See stellten zwischen Weihnachten und Silvester noch weitere dubiose Gewinnler des globalen Finanz- und Sportsystems fest, dass sie mit ihrer Geldanlage bei Flash Capital einem Betrüger auf den Leim gegangen waren. Darunter: ein Hannoveraner Drückerkönig in seiner spektakulären Finca in Port d’Andratx, Mallorca; ein Essener Steuerberater und Organisator von Cum-Ex-Trades in seinem Hide-Away-Chalet in Zermatt; ein Genussschein-Verkäufer eines bankrotten Windkraftanlagenunternehmens in seinem barocken Lustschlösschen auf einem Privateiland nahe Potsdam; ein ehemaliger Landesbanker in seinem Cottage tief in der Naturpark-Idylle der sächsischen Schweiz; der Hausbanker der Warlords am Zuger See; ein zweifacher deutscher Fußballweltmeister im Tiroler Oberndorf; der Präsident der FIFA im Wallis; zwei Vertreiber geschlossener Immobilien-, Erneuerbare-Energien- und Flugzeugfonds im paraguayischen Dschungel; der dekadente Patriarch eines adligen Banker-Clans auf dem weitläufigen Familiengestüt im Kölner Speckgürtel; der Betreiber eines Umsatzsteuer-Karussells in seinerm Serail auf der künstlichen Palmeninsel vor Dubai; ein sogenannter Kunstberater in seinem Oberkasseler Townhouse in Düsseldorf; und last but not least ein kleptomanischer britischer Rennserien-Impresario in Fort Lauderdale, Florida.

Alle fanden sie, statt ihres Geldes, dieselben merkwürdigen Reime in ihren Online-Accounts bei Flash Capital vor:

Die Magier kamen, doch keiner verstand

zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar aber ward in selber Nacht

von seinen Knechten umgebracht.

Der Schneeball

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