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12 – Von der Straße

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Silvester. Rosas Wecker klingelte am Morgen des 31. Dezembers früh. Seit Rosa gestern Abend der Einfall gekommen war, dass unter Umständen ein Zusammenhang zwischen dem Gül-Rokamp-Fall sowie den Verhaftungen von Griedl und Büsking bestand, ließen die Spekulationen sie nicht mehr los. Sah sie in den Tagesnachrichten auf einmal Verbindungen und Muster, die tatsächlich gar nicht existierten? Sie packte plötzlich eine schreckliche Angst davor, dass die traumatische Erfahrung der Vergewaltigung sie womöglich in ein labiles paranoides Wrack verwandelt haben könnte.

Um kurz nach halb acht Uhr wechselte Rosa die Sicherheit und Geborgenheit des Hauses für die Dunkelheit des Wintermorgens ein. Die Banker Büsking und Griedl waren Kommilitonen ihres Vaters gewesen. Bevor Rosa mit ihrer Familie gebrochen hatte, hatte die Tochter des Hauses die beiden Freunde der Familie zu verschiedenen Anlässen gelegentlich zu Gesicht bekommen. Es half nichts. Obwohl es ihr davor graute, musste sie den eisernen Vorhang, den sie vor zwei Jahren zwischen ihrer Wohnung im Hamburger Norden und dem Neubau ihres Vaters an der Elbchaussee gezogen hatte, für einen Tag lüften. Sie musste ihren Vater einfach zu den Verhaftungen befragen. Vielleicht wusste er etwas, was ihr weiterzuhelfen vermochte.

Rosa überquerte die Semperstraße, um zu der Bushaltestelle Goldbekplatz zu gelangen.

Auf einmal tauchte ein schwarzer Lieferwagen direkt neben ihr wie eine jäh aus dem Boden geschossene undurchdringliche Wand auf. Alles ging furchtbar schnell. Ein Tuch wurde ihr über den Kopf gezogen. Kräftige Männerhände zerrten sie rabiat auf eine Ladefläche. Eine blecherne Tür krachte zu. Ihre Hände wurden mit etwas auf ihrem Rücken zusammengebunden, was ein Teppichbinder sein konnte. Plastik schnitt in ihre Handgelenke. Höllischer Schmerz. Sie brüllte auf, woraufhin eine schwielige Handinnenfläche so stark auf ihre rechte Gesichtshälfte niederfuhr, dass sie für mehre Sekunden einseitig taub war. Sie wurde geknebelt. Panik. Eine Entführung. Der Einstich einer Spritze in der linken Armbeuge. Schwindendes Bewusstsein.

Als sie allmählich wieder zu sich kam, saß Rosa auf einem Stuhl, die Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt, aber ohne Knebel im Mund. Obwohl sie noch etwas benommen war, registrierte sie schnell, dass sie sich in einem alten Schuppen befand. Durch ein Fenster konnte sie dann erkennen, dass es draußen inzwischen hell geworden war und sie irgendwo aufs Land verschleppt worden sein musste. Nichts als kahle Baumkronen vor einem fahlen Winterhimmel lagen in ihrem Sichtfeld.

Drinnen marschierte ein massiger, komplett in Schwarz gekleideter Mann mit einer Sturmmaske vor ihr auf und ab. Sobald er merkte, dass sie wieder bei Bewusstsein war, fragte er sie grob:

„Woher hast du die Information, dass jemand Diamanten unter geschädigten Kleinanlegern verteilt?“

Rosa schwieg.

„Rede schon, Miststück.“

Der Mann schrie jetzt. Offensichtlich lief er an diesem gottverlassenen Ort keine Gefahr, von Leuten gehört zu werden, die für sie Rettung versprachen. Mithin konnte sie auf Hilferufe wohl getrost verzichten. Sie spuckte vor sich auf den Boden, um ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Niemals würde sie Deniz Güls Namen dieser verdorbenen Drachenbrut preisgeben.

„Okay, du willst es nicht anders. Macht sie los!“

Rosa schaute zunächst über ihre linke, dann über ihre rechte Schulter. Dort stand auf jeder Seite eine identische Kopie ihres Inquisitors. Zwei rabenschwarze Maulwürfe, die ihr gerade die Plastikfesseln lösten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Schuppen allerhand Gartenwerkzeug enthielt. Während seine Komplicen sie fixierten, hielt der Inquisitor eine geöffnete verrostete alte Gartenzange an ihren linken Daumen.

„Letzte Chance. Wer sind deine Informanten, Lügenpresse?“

Rosas Verstand überschlug sich. Er hatte sie Lügenpresse genannt. Ein prominenter Verwender dieses Begriffs war Goebbels im Dritten Reich gewesen. Noch heutzutage wurde er bisweilen von Rechtsradikalen gebraucht, um negativ über sie Bericht erstattende Medienvertreter zu diffamieren. Wer sind diese Leute? Sicherlich würden sie nicht so weit gehen und ihr einen Finger abtrennen. Schließlich waren sie hier immer noch in Deutschland, einem Rechtsstaat, nicht in irgendeiner Dritte-Welt-Bananenrepublik.

Sie schüttelte den Kopf.

Dann schnappte die Zange zu.

Der Schneeball

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