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Zweiter Teil 1 – Elbgold, Övelgönne
ОглавлениеUnter der Elbchaussee, wo sich zwischen Elbstrand und Berghang an einem schmalen Fußgängerweg die jahrhundertealten Häuser Övelgönnes reihten, trank Rosa gerade ihre zweite Tasse Friesentee mit braunem Kandis. Sie saß an einem Fenstertisch im Elbgold, einem kleinen Café mit Blick auf die winterliche Elbe und den dahinter liegenden Hamburger Hafen.
Einst hatten hier vornehmlich Kapitäne und Lotsen ihre arbeitsplatznahe Behausung gehabt. Die undichten Holzfenster gewährten der Kälte in einem solchen Maße Einlass, dass Rosa ihre Daunenjacke anbehalten hatte.
Es war elf Uhr vormittags am Tag nach Neujahr. Außer ihr befanden sich nur noch die kellnernde Cafébesitzerin sowie zwei dienstschwänzende Politessen in dem niedrigen Gastraum.
Seitdem sie vorgestern von ihrem Vater die Namen Bergkrist und von Wolkenburg sowie die Bezeichnung ihrer Kapitalanlagefirma – Flash Capital GmbH & Co. KG – erfahren hatte, hatte sie mehr oder weniger unablässig im Internet recherchiert – in der Wohnung einer Freundin in Ottensen, da sie sich zuhause nach der Entführung ins Alte Land trotz anderslautender Zusicherungen der in dem Fall nach den Hintermännern ermitelnden Polizeibeamten nicht mehr sicher fühlte. Die drei verhafteten Männer schwiegen jedenfalls wie ein Grab zu ihren Motiven und Auftraggebern.
Rosas erfolgversprechendster Fund in Sachen Bergkrist war bisher ein von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg online gestellter Artikel in der Zeitschrift Die Betriebswirtschaft (Heft 3, 2006) gewesen. Er war mit „Stochastische Manipulationstests zur Identifikation von betrügerischen Kapitalanlage- bzw. sog. Schneeballsystemen“ überschrieben. Als Autor wurde darin ein gewisser Wendelin Bergkrist angegeben. Im Fußnotenapparat fand der geneigte Leser den Hinweis, dass der Verfasser des Artikels zu der Zeit als Mathematiker in der Frankfurter Niederlassung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz: BaFin, tätig gewesen war. Als sie vor einer Stunde dort angerufen hatte, teilte man ihr mit, dass in dem Amte niemand mit dem Namen Bergkrist arbeitete und man ihr nicht weiterhelfen könnte.
Über Friedrich von Wolkenburg war da schon mehr in Erfahrung zu bringen gewesen. Bei seinem Vater handelte es sich um den berühmten ehemaligen Bundesbanker und emeritierten Universitätsprofessor Dr. Siegfried von Wolkenburg. Der Filius war inzwischen achtundvierzig und hatte für viele Jahre Investmentfonds erfolgreich gemanagt, bevor er seinen Anteil an der von ihm selbst gegründeten Kapitalanlagegesellschaft 2012 für eine mittlere achtstellige Summe an einen Dax-notierten Münchener Versicherungskonzern verkaufte. Danach verlor sich die Spur. Selbst mittels diverser Telefonate war sie bisher nicht dahinter gekommen, womit sich der Bundesbanker-Spross seitdem beschäftigt hatte. Sein Aufenthaltsort war unbekannt.
Schließlich blieb die Internetrecherche im Hinblick auf eine Flash Capital GmbH & Co. KG bis auf ein paar nichtssagende, beim elektronischen Bundesanzeiger einsehbare Bilanzen vollends ergebnislos. Die verwandten Begriffe Flash Trading und Flash Trader jedoch tauchten allerorten auf. Unter anderem gab es bei Amazon ein Buch mit dem Titel Flash Boys zu kaufen. Der Autor war ein gewisser Michael Lewis. Bei Flash Tradern handelte es sich um Akteure an den internationalen Kapitalmärkten, die von ihnen geschriebene Algorithmen mit Hilfe von high-speed Computern in winzigen Sekundenbruchteilen Handelsstrategien für sie ausführen ließen.
Rosa bezahlte. Sie musste in fünf Minuten am Fähranleger Neumühlen/Övelgönne sein.
Gestern hatte sie in der Ottensener Wohnung ihrer Freundin Besuch von der Frankfurter Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen bekommen, obschon eigentlich niemand wissen konnte, dass sie dort untergetaucht war. In einer zermürbenden zweistündigen Befragung wollten zwei äußert unangenehme Staatsanwälte unter Androhung von Beugehaft aus Rosa den Namen ihrer Quelle herauspressen. Doch Rosa war standhaft geblieben: Weder hatte sie die Identität von Deniz Gül preisgegeben noch hatte sie die Namen Wendelin Bergkrist, Friedrich von Wolkenburg oder Flash Capital herausgerückt. Auch zu ihrer neuen Bekanntschaft mit dem Kölner Oberstaatswalt Matthias Bormann verlor sie kein Wort.
Stattdessen hatte sie mit Bormann das Treffen am Fähranleger verabredet. Denn der Kölner hatte ihr nach ihrem gemeinsamen Besuch bei ihrem Vater vorgestern an der Elbchaussee eine Zusammenarbeit in der Sache angeboten und zugesichert, dass sie ihm ihre Quelle nicht verraten müsse und vor Bergkrists und von Wolkenburgs Verhaftung ein Exklusivinterview mit den beiden bekäme. Rosa hatte ihn also heute Morgen angerufen und gefragt, ob er sie im Auto mit in Richtung Süden zu ihrem Interview der Kämmererin nehmen könnte. Sie wusste, dass er heute fahren würde, weil er ihr vorgestern neben seiner Handynummer noch mitgeteilt hatte, dass er bei einem alten Freund in St. Georg Silvester sowie Neujahr verbringen und tags drauf zurück nach Köln fahren wollte. Sie lag ohne es zu wissen richtig mit ihrer Vermutung, dass es sich bei dem Freund in Wahrheit um eine flüchtige Bettbekanntschaft handelte. Obschon sie nicht wirklich sagen konnte warum, war ihr der Mann auf eine seltsame Art und Weise sofort sympathisch. Sie führte diese Empfindung darauf zurück, dass er sie gestern aus den Klauen dreier Irrer gerettet hatte.
Rosa war schon aufgestanden und wollte ihr MacBook gerade zuklappen, da entdeckte sie auf bild.de den Aufreißer:
Friedrich von Wolkenburg, Mitglied der Hochfinanz, heute Morgen tot in seinem Hotelzimmer im Beau Rivage aufgefunden. Gespenstische Parallelen zum Fall Uwe Barschel.
Sie überflog den zugehörigen Artikel. Viel mehr als diese Überschriftszeilen enthielt auch er nicht an Aussagegehalt. Den leblosen Körper Wolkenburgs hatte das Zimmermädchen gestern in der Badewanne gefunden. Offensichtlich war die Nachricht darüber erst heute an die Öffentlichkeit gelangt. Hinweise auf ein Fremdeinwirken wurden von der Genfer Polizei bisher weder verneint noch bestätigt.
Rosa rannte aufgeregt zu dem am Fähranleger in seinem Defender auf sie wartenden Bormann. Sie hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, dass ihr die Zeit weglief. Die Befürchtung ließ sie nicht los, dass irgendwer die Story unter den Tisch kehren wollte. Sie war überzeugt davon, dass Wolkenburgs Tod kein Unfall oder Selbstmord gewesen war. Es würde entscheidend sein, Bergkrist lebend zu Gesicht zu bekommen. Nur wenn ihr das gelingen sollte, wenn sie ihn aufspürte und als erste exklusiv interviewte, sie über seine Beweggründe erführe, bevor er verhaftet oder getötet würde, wäre es der journalistische Coup, den sie benötigte, um sich auf die Landkarte der berühmten Journalisten der Nation zu setzen.