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3 – Übers Alstereis nach Winterhude

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Zwischen Rosa Peters eiskalten Beinen lief das viskose Sperma ihres Vergewaltigers lauwarm herab. Sie ging vornübergebeugt, weil ihr Unterleib schmerzte. Es dämmerte. Das Thermometer einer Apotheke, an der sie vorbeikam, zeigte minus sechs Grad Celsius an.

„Nimm die Pille danach“, hatte von Schirach ihr noch gebieterisch zugeraunt, als er kaum eine halbe Stunde zuvor den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochzog. Danach war er in sein Büro gegangen, hatte seinen Kamelhaar-Wintermantel geholt und sich zu seiner jungen Familie aufgemacht, die in einer geräumigen Harvestehuder Patrizierwohnung mit viereinhalb Meter hohen Decken am Kamin auf ihn wartete.

Rosa wusste nicht wohin als nach Winterhude, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit drei anderen jungen Journalisten eng zusammengepfercht lebte. Von der Speicherstadt in der Hafencity kommend durchquerte sie zu Fuß die noble Einkaufsstraße Neuer Wall, um unter Leuten zu sein. Doch die quirligen Menschenmassen, die in den edlen Geschäften ihre Weihnachtsgeschenke umtauschten oder Bargeschenke in Sachwerte umwandelten, verstärkten ihr Gefühl der Einsamkeit nur noch.

Auf der Höhe der Schleusenbrücke wechselte sie zu den parallel verlaufenden Alsterarkaden. Unter diesen kämpfte sie sich durch die Kälte zum Jungfernstieg vor, dann am Rathaus vorbei auf dem Laternen beschienenen Ballindamm die zugefrorene Binnenalster entlang, bis sie schließlich mit schlotternden Knien auf der Kennedybrücke stand. Die eisbedeckte Außenalster lag nun mit ihrer ganzen Pracht im amethystfarbenen Glast der Dämmerung vor ihr.

Am gegenüberliegenden Ufer ungefähr zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt flimmerten die Lichter von Winterhude. Der an der nördlichen Spitze des berühmten Stadtgewässers kauernde Stadtteil war inzwischen nur noch schemenhaft im Halbdunkel zu erkennen.

Rosa betrat das Eis.

Die Eisschicht war dünn. Zu dünn. Zwar hatten die Alsterdampfer ihre Punschfahrten mittlerweile eingestellt, womit die Alsterschifffahrt endgültig zum Erliegen gekommen war. Aber erst wenn an 50 Messstellen auf der Alster 20 cm geschlossenes Kerneis gemessen wurde, gab die Stadt die offizielle Freigabe, woraufhin bis zu einer Million Menschen die Eisfläche zum Flanieren, Schlittschuhlaufen oder Glühweintrinken in Beschlag zu nehmen pflegten. Für eine Eisschicht derartiger Dicke bedurfte es in der Regel eines starken Frosts von mindestens zweiwöchiger Dauer. Das Thermometer hatte allerdings erst seit drei Tagen mehr oder weniger kontinuierlich deutlich unter null gelegen. Dicker als ein paar Zentimeter konnte die Eisschicht kaum sein.

Weit und breit war niemand auf dem Eis zu sehen. Dass man es überhaupt betreten konnte, hatte Rosa heute Morgen aus dem öffentlichen Bus auf dem Weg zur Arbeit gesehen. Ein paar todesmutige Halbwüchsige hatten sich von der Alsterwiese Schwanenwik aus auf den schilfbewachsenen flachen Uferbereich des Stadtsees hinausgewagt. Das Eis hatte sie getragen. Keineswegs war dies jedoch eine Garantie dafür, dass es auch für eine Erwachsene und außerhalb des Uferbereichs dick genug sein würde.

Zwar wusste Rosa um die Gefahr, der sie sich aussetzte. Mitnichten war sie jedoch lebensmüde. Sie trieb es trotzdem aufs Eis, weil sie glaubte, nur damit Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit wachrufen zu können. Mit deren Hilfe wollte sie das soeben Geschehene aus ihren Gedanken ein für alle Mal tilgen.

Das letzte Mal war die Alster 2012 so fest zugefroren gewesen, dass die Stadt das Eis für das Volksfest freigegeben hatte, welches die Hamburger Alstereisvergnügen nannten. Jene märchenhaften Stimmungen waren wieder einmal entstanden, die den Bürgern Hamburgs keine Zweifel daran ließen, dass sie in der schönsten Stadt der Welt lebten. Überall an den Ufern wurden Buden aufgestellt, die Glühwein, warmen Kakao, heiße Maronen, Bratwürste und allerhand anderes feilboten. Wo ansonsten Boote an den Stegen der zahlreichen Ruderhäuser und kleinen Marinas anlegten, sammelten sich Menschentrauben. Aus manchem Lautsprecher ertönte Musik und das Eis wurde zur Tanzfläche. Anstatt den Landweg zu wählen, nutzten die Hamburger fortan die zugefrorenen Fleete und Kanäle, um zu Fuß, in Schlittschuhen oder auf von ihren Hunden gezogenen Schlitten zur Alster zu gelangen. Obwohl offiziell untersagt, konnte man frühmorgens den einen oder anderen Eissegler erspähen, wie er im Sonnenaufgang nahezu lautlos über die leere Eisfläche schoss.

Vor 2012 hatten die Buden sogar mitten auf dem Eis gestanden. Als kleines Mädchen war Rosa mit ihren Eltern in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Schlittschuhen durch ganz Hamburg gefahren. Seitdem liebte sie dieses Venedig des Nordens abgöttisch. Doch die Erinnerung daran konnte ihren Ekel nicht vertreiben.

Sie war inzwischen schon eine gute Viertelstunde mitten auf dem Eis unterwegs. Es knackte zwar ab und an gespenstisch, hielt ihrem Gewicht aber stand.

Plötzlich war ihr speiübel. Rosa fasste sich unwillkürlich an ihren Bauch, wo die Kleidung unter der Jacke pitschnass von der Milchkaffeelache war, in der sie während der unsäglichen Tat gelegen hatte. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Als sie wieder aufblickte, erkannte sie, dass sie sich genau vor dem Eingang zum Uhlenhorster Feenteich befand. Etwas zog sie dorthin. Sie unterquerte eine Brücke und befand sich bald auf dem im Verhältnis zur Alster kleinen Oval aus Eis.

Ringsherum standen zumeist weiße Patrizierhäuser, die genauso von vergangenem wie von neuem Reichtum der Kaufmannschaft der Hafenstadt sprachen. Die großzügigen Gärten reichten hinunter bis zur hölzernen Spundwand des Feenteichs. Auf dem Steg eines Privatanlegers sah sie einen Mann rauchen, der ihren Spaziergang auf dem dünnen Eis offensichtlich missbilligte, jedenfalls folgerte Roas dies aus seinem langsamen Kopfschütteln. Durch die raumhohen Fenster der Villen konnte sie einen Blick in die hell erleuchteten Zimmer auf die üppig geschmückten Weihnachtsbäume des Großbürgertums erhaschen.

Eine wehmütige Stimmung befiel sie und ertränkte für einen kurzen Moment die Abscheu davor, dass sie noch immer das Stakkato von von Schirachs schmerzhaften Stößen in ihrem Unterleib zu spüren glaubte. Sie selbst hatte einmal zu diesem Großbürgertum gehört, war noch immer Tochter eines berühmten Hamburger Reeders, Schiffsfondsinitiators und Senators. Als Absolventin der Bucerius Law School war sie zwei Jahre lang angestellte Anwältin mit besten Karriereaussichten im Hamburger Büro einer großen US-amerikanischen Wirtschaftskanzlei gewesen.

Doch dann hatte sie sich mit ihrem Vater zerstritten und alsbald auch mit dem Rest der Familie gebrochen.

Warum?

Eines Tages hatte sie im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihn gewartet und hatte dabei aus Langeweile durch einen auf dem Schreibtisch liegenden Stapel Verträge geblättert. Mit einem Schaudern realisierte sie, dass ihr Vater seine Anleger systematisch betrog. Sie konfrontierte ihn damit, er wiegelte ab, forderte ihre bedingungslose Loyalität, appellierte an ihren Familiensinn, rief ihr in Erinnerung, wie auch sie zeit ihres Lebens von seinem Geld profitiert und feudal gelebt hätte.

Der Streit war heftig, aber letzten Endes versprach sie ihm, niemandem davon zu erzählen. Um trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können und weder direkt noch indirekt aus den illegalen Machenschaften ihres Vaters Vorteile zu ziehen, mied sie ihren Vater und seine neue Familie, nahm keinen Cent mehr von ihm an. Ihren gut bezahlten Anwaltsjob hängte sie kurz drauf ebenfalls an den Nagel, hatte man sie dort doch vor allem auch deshalb so gern eingestellt, weil ihr Vater einer der größten Mandanten der Kanzlei war.

Mit einer Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie rückblickend bisweilen heute noch in Erstaunen versetzte, hatte sie sich seit zwei Jahren nun komplett dem investigativen Wirtschaftsjournalismus verschrieben. Wenn sie es schon nicht übers Herz brachte, ihren Vater der gerechten Strafe zuzuführen – so die Logik ihres Ablasshandels –, wollte sie zumindest dafür Sorge tragen, dass anderen Schuften in der von Schuften nicht gerade armen Wirtschaftswelt das Handwerk gelegt wurde.

Aber wohin hatte sie das gebracht?

Diese Frage hämmerte geradezu unerbittlich auf die feinfühlige Klaviatur ihrer zarten Seele, als in Rosas Tasche etwas vibrierte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und las darauf die folgende Textnachricht:

Liebe Rosa, dass es eben noch einmal zwischen uns zum Sex gekommen ist, bereue ich sehr. Nicht nur, weil ich meine Frau betrogen habe, sondern auch, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen, ich dich nicht verletzten will. Nicht zuletzt um deinetwillen muss es bei dem bleiben, worum ich dich kurz zuvor so nachdrücklich gebeten habe: Lass uns mit den Frivolitäten um Gottes Namen aufhören! Ich flehe dich an! Ich bin sicher, dass du bald ebenfalls jemanden finden wirst, mit dem du glücklich sein kannst, jedenfalls hoffe ich das inständig!

Sie schäumte vor Wut. Was für eine zum Himmel schreiende Farce! Rosa durchschaute von Schirachs mieses Spiel augenblicklich. Er agierte strategisch, schaffte schon jetzt in kühl-berechnender Vorausschau die Voraussetzungen, auf denen seine Verteidigung aufbauen würde. Die Nachricht diente einzig und allein dem perfiden Zweck, sie im Falle eines Gerichtsprozesses als eifersüchtige, rachedurstige Lügnerin dastehen zu lassen, während er sich darin den Heiligenschein eines zwar treulosen, nichtsdestominder aber reumütigen, ihr gegenüber gutmeinenden Opfers aufsetzte.

Plötzlich erschien eine weitere Nachricht auf dem Display:

Sehr geehrte Frau Peters, ich habe unser letztes Treffen sehr genossen. Leider konnte ich Ihnen damals noch nicht weiterhelfen. Jetzt glaube ich, etwas zu haben, was Sie und Ihre Leser interessieren könnte. Bitte melden Sie sich möglichst bald bei mir! Mit freundlichem Gruß, Deniz Gül

Für einen kurzen Moment mischte sich ein Klecks Neugier unter die dunklen Farbmassen aus Wehmut, Ekel und Wut auf Rosas Gefühlsleinwand. Dann überließ die Neugier wieder der Wehmut, dem Ekel und der Wut allein das Feld. Dann wichen auch die Wehmut und der Ekel; zurück blieb die Wut.

Dann brach Rosa durch die Eisdecke.

Der Schneeball

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