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13 – Altes Land bei Hamburg

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Matthias Bormann war das, was man einen Profi nannte – in doppelter Hinsicht. Unter einem Vorwand hatte er gestern Nachmittag Rosa Peters Wohnadresse in der Redaktion des homo oeconomicus in Erfahrung gebracht. Dasselbe galt im Übrigen auch für die Handynummer der hübschen asiatischen Empfangsdame, mit der er dort sprach. Bei ihr zuhause hinter dem Hauptbahnhof in St. Georg verbrachte er dann schließlich den längeren Teil seiner ersten Nacht hoch im Norden.

Um fünf Uhr des darauffolgenden Morgens fuhr Bormann mit seinem forstgrünen Land Rover Defender in der baumbestandenen Semperstraße vor. Er hatte Glück. Gegenüber dem Mehrfamilienhaus, in welchem Rosa wohnte, war noch eine einzige Parklücke unter einer haushohen Linde vakant. Jemand musste früh zur Arbeit aufgebrochen sein, da er sofort zu erkennen imstande war, dass in diesem urbanen Viertel über Nacht alle Parkplätze besetzt zu sein pflegten.

Er drehte den Zündschlüssel um. Es war zwar kalt und die Heizung ein Segen, aber ein laufender Motor würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Bormann hatte die Haustür gut im Blick. Der Standpunkt eignete sich hervorragend für seine Observation. Er setzte sich die Kapuze seines gut gefütterten Anoraks auf, stellte die Rückenlehne zurück und schlürfte aus einem Pappbecher einen Kaffee, den er sich vorhin auf dem Weg hierher in einer rund um die Uhr geöffneten Tankstelle gekauft hatte.

Bald schon war die Luft im Innenraum des Fahrzeugs soweit herunter gekühlt, dass Bormanns Atem kondensierte. Als er seinen Kaffee leer getrunken hatte und die Finger nicht mehr an dem mit der heißen Flüssigkeit gefüllten Becher warmhalten konnte, zog er sich seine Lederhandschuhe an. Er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein. Fünf Uhr morgens hatte er als Ankunftszeit gewählt, weil er sich sicher war, dass die Journalistin vorher auf keinen Fall das Haus verlassen würde. Er ging davon aus, dass dies aller Voraussicht nach frühestens erst um acht, neun Uhr der Fall sein dürfte. Wenn überhaupt.

Um 6:13 Uhr fuhr ein schwarzer Mercedes-Lieferwagen sehr langsam an ihm vorbei. Im linken Seitenspiegel hatte er ihn von hinten kommen sehen. Drei ebenfalls in Schwarz gekleidete, dem ersten Anschein nach außergewöhnlich füllige Männer mit rauschenden Vollbärten saßen in der Führerkabine.

Bormann sank tief in Fußraum und Sitz. Er hoffte, nicht entdeckt zu werden. Als der Wagen an Peters Haustür vorbeigefahren war, beschleunigte dieser wieder. An der nächsten Kreuzung bog er nach links ab. Kaum eine Minute später erschien er erneut im Rückspiegel und hielt dort an der letzten Kreuzung vor Rosa Peters Haus. Zwar handelte es sich nicht um einen offiziellen Parkplatz, aber dort würden sie stehen bleiben können, solange jemand am Steuer blieb.

Um 7:34 Uhr kam Rosa mit einem sehr geschäftigen Ausdruck im Gesicht aus der Haustür. Bormann erkannte sie von ihren Facebook-Photos her, welche die IT-Abteilung des BKA ihm auf sein Ersuchen hin besorgt hatte. Sie entfernte sich von ihm auf dem Bürgersteig in der dem wartenden Lieferwagen entgegengesetzten Richtung. Hinter ihm hörte er einen Motor aufheulen. Als Rosa die Straße überqueren wollte, war der Lieferwagen auf einmal neben ihr. Zwei Männer sprangen heraus, packten sie jäh, zogen ihr ein Tuch über den Kopf und hoben sie gewaltsam in den Laderaum. Dann flog die Tür des Lieferwagens wieder zu. Das ganze hatte kaum fünf Sekunden gedauert. Soweit Bormann das beurteilen konnte, hatte außer ihm niemand auf der Straße etwas davon mitbekommen.

Er startete den Motor und begann die Verfolgung. Während er versuchte, nicht allzu dicht an der Stoßstange des Lieferwagens zu hängen, folgte er diesem zunächst am westlichen Ufer der Alster sowie dann der Elbe entlang durch Harvestehude, Rotherbaum, St. Pauli, Altona und Ottensen. Als Bormann auf der Autobahnauffahrt klar wurde, dass sie den Elbtunnel nehmen würden, stellte er sich auf eine längere Reise ein.

Unmittelbar nachdem sie aus dem Untergrund aufgetaucht waren fuhren sie schon wieder von der Autobahn ab auf die Finkenwerder Straße Richtung Altes Land. Bormann erlaubte jetzt mehr Abstand zwischen sich und dem Lieferwagen. Die Gegend war weithin einsehbar und die Morgendämmerung hatte eingesetzt.

Auf der rechten Seite ließen sie den direkt an der Elbe gelegenen Flugplatz des europäischen Luftfahrtkonzerns Airbus liegen. Dann mäanderten sie für ungefähr eine Viertelstunde parallel zum südlichen Elbdeich durch die nebelverhangenen Obstwiesen der Elbmarsch. Sie durchzog ein aus Abertausenden kleinen Kanälen bestehendes Bewässerungssystem. Im Sommer reiften hier unzählige Äpfel, Birnen und Kirschen heran.

Als der Lieferwagen vor ihm in die ein paar Hundert Meter lange Schottereinfahrt eines verlassen aussehenden Gehöfts einbog, stoppte Bormann sofort seinen Wagen. Er ließ ihn am Straßenrand stehen und ging den Rest des Weges zu Fuß durch die kahlen Bäume der Obstwiesen. Das Gebäudeensemble des Obsthofes aus rotem Backstein lag mutterseelenallein in der Marsch. In jede Richtung musste man nahezu einen Kilometer bis zur nächsten Behausung laufen.

In einem Schuppen brannte Licht. Durch ein verschmiertes Fenster entdeckte Bormann Rosa. Zwei der Gorillas hielten sie auf einen Stuhl gedrückt und der dritte ging auf und ab. Er schien mit ihr zu reden. Plötzlich nahm er eine Gartenschere und hielt sie an den linken Daumen der Journalistin.

Bormann sah sich zum Handeln gezwungen. Er brach berserkerhaft durch die Tür, überwältigte hastenichtgesehen die Aggressoren, hieß Rosa die Polizei rufen, während er die Gorillas in Schach hielt, und übergab Rosa schließlich den bald eingetroffenen Ordnungshütern – heil mit beiden Daumen: Er hatte den Inquisitor gerade noch rechtzeitig wegstoßen können, sodass die Zange bloß Luft gefressen hatte.

„Würden Sie so freundlich sein und mich zum Haus meines Vaters an der Elbchaussee fahren?“ fragte Rosa, als die stundenlangen Befragungen der Polizeibeamten und Psychologen endlich vorbei waren.

„Ich bin doch nicht …“ ihr Taxi, wollte Bormann sagen, vollendete den Satz jedoch nicht mehr, als er ihr Gesicht sah. In ihrem Ausdruck lag eine animalische Entschlossenheit.

Der Schneeball

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