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2 – Heron Tower, City of London

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„Was hat das zu bedeuten ‚Belsazar aber ward in selber Nacht von seinen Knechten umgebracht‘?“, fragte Alexander Büsking seinen Freund Fiete Peters hoch oben in den Wolken über der City. Die Tonalität geriet ihm alles andere als freundlich.

Es war diesig und regnete noch immer leicht in London. Von ihrem Fenstertisch im 40. Stockwerk des Heron Towers konnten sie wegen des schlechten Wetters kaum Themse und umstehende Wolkenkratzer erkennen.

„Das ist aus einer Ballade von Heinrich Heine, du literarischer Analphabet, du schamloser Kulturbanause.“

„Ach, weiß ich doch selber, dass das eine Heine-Zitation ist, du Arsch. Ich hab mein Abitur mit 1,0 gemacht. Kenne die Hälfte der Klassiker der deutschen Literatur noch heute auswendig. Nein, ich meine: Was will man uns damit sagen? Ist das eine Morddrohung?“

„Blaff mich nicht so an, Alexander. Mir ist auch nicht gerade danach zumute, bei Moët & Chandon in der Champagne anzurufen und quer durch die Nordsee eine Dom Pérignon-Pipeline nach Sylt legen zu lassen.“

Büsking musste lachen. Offensichtlich hatte sein Buddy trotz der misslichen Lage den notorischen Appetit des Investmentbankers für derben und stumpfen Humor noch nicht verloren. Er gluckste:

„Und das ganze West Stream zu nennen, Gerhard Schröder als Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft mit einem Jahressalär von sieben Millionen Euro einzusetzen und so zu tun, als habe das nicht den geringsten politischen Hintergrund und geschähe das allein um der Management-Qualitäten des Altkanzlers wegen?“

Schallendes Gelächter. Sie saßen im Duck & Waffle und aßen ungefähr zur gleichen Zeit, zu der Rosa Peters in Hamburg Opfer einer Vergewaltigung wurde, ein zweites Frühstück. Fiete Peters hatte eine 50-Pfund-Note Schmiergeld gezückt und dem Personal am Empfang zugesteckt, um nachmittags noch an ein English Breakfast zu kommen. Vor noch nicht einmal einer Stunde war er mit seiner Cessna Citation auf dem London City Airport gelandet. Seinem Piloten hatte er beim Verlassen des Jets mitgeteilt, dass er nach seiner Unterredung mit Büsking umgehend zurück nach Sylt fliegen wollte.

„Ich denke“ – Peters gab nur widerwillig eine Antwort auf Büskings Eingangsfrage – „dass das eher metaphorisch zu verstehen ist. Man will uns nicht tatsächlich umbringen, sondern uns nur unser Vermögen nehmen, uns sozusagen in unserer Eigenschaft als vermögende Person annullieren.“

„Aber wieso? Wenn ich mich recht entsinne, hat Belsazar in Heines gleichnamiger Ballade Gotteslästerung betrieben:

Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;

Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.

Und der König ergriff mit frevler Hand

Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.

Und er leert ihn hastig bis auf den Grund

Und ruft laut mit schäumendem Mund:

Jehova! dir künd ich auf ewig Hohn –

Ich bin der König von Babylon!

Was haben wir mit derlei Blasphemie zu schaffen?“

„Das meinst du nicht im Ernst, Alexander, oder?“

Sie waren Freunde seit dem gemeinsamen Studium der Betriebswirtschaftslehre in Münster. Peters wartete ab, bis die junge Kellnerin ihm Kaffee nachgeschenkt hatte. Das tat er nicht, weil er die blutjunge Latina nicht an ihrem Gespräch teilhaben lassen wollte, sondern vielmehr, weil ihr abyssisches Dekolleté seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als sie sich Gästen am Nebentisch zuwandte, fuhr er fort:

„Denk doch mal nach! Welche Leichen liegen bei dir im Keller? Wo kommt das Geld her, mit welchem du dir gerade dein Eisberg-Haus baust mitten im Babylon des 21. Jahrhunderts? Wie viel Zeit ist denn verstrichen, seitdem du dich selbst zum Gott über die Finanzmärkte aufgeschwungen hast? Soll ich das wirklich ausführen?“

Büsking winkte ab. Das brauchte sein Freund nicht zu tun. Schweigend aß er seine Colombian Eggs mit Avocado auf und dachte dabei über seine kometenhafte Karriere nach.

Schon als kleines Kind hatte er, der Sohn eines ostwestfälischen Landwirts, welcher mit seinem Hof im Bielefelder Umland eher schlecht als recht über die Runden gekommen war, nicht verlieren können. Während Büskings BWL-Studiums an der westfälischen Wilhelms-Universität bescherte ihm eine gewisse mathematische Begabung gepaart mit der Fähigkeit, stupide PowerPoint-Slides auswendig zu lernen, Traumnoten. Schließlich verhalf ihm sein gutes Aussehen zu einem Auslandssemester an der berühmten London School of Economics, indem er der Leiterin der Auswahlkommission den Kopf verdrehte.

Ins Berufsleben startete er auf dem Trading Floor der Germanischen Bank in der City of London. Doch schon bald musste der bisher so erfolgsverwöhnte Berufsanfänger feststellen, dass es für gewöhnliche Derivatehändler am Kapitalmarkt kein Erbarmen gab. Man konnte in dem einen Moment gigantische Summen verdienen, nur um im nächsten alles wieder zu verlieren.

Irgendwann fiel ihm auf, dass Mitarbeiter seiner Bank die Höhe des Referenzzinssatzes LIBOR zusammen mit anderen Banken selbst bestimmten. Und dass der LIBOR wiederum für die Entwicklung der Kapitalmarktpreise verschiedener Finanzinstrumente verantwortlich war. Stellte man es also richtig an, war das Reichwerden nicht mehr aufzuhalten, weil man schon im Vorhinein wusste, ob bestimmte Kurse steigen oder fallen würden. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er in diesem Augenblick der Klarsichtigkeit spürte, dass er sich fortan wieder auf der Siegerstraße befinden würde.

Mit deutscher Gründlichkeit schuf und orchestrierte er ein Kartell, das die internationalen Medien später, als es in 2012 aufflog, „French Connection“ tauften. Letzteres deshalb, weil die daran aus seiner und anderen Banken beteiligten Banker in ihren Emails untereinander auf Französisch kommunizierten, um die zu der Zeit nur auf auffällige englische Begriffe abstellenden automatischen Suchprogramme der britischen Finanzaufsicht zu umgehen.

Das Prinzip war einfach: Der LIBOR (London Interbank Offered Rate) sollte idealtypisch dem Zinssatz entsprechen, zu dem sich Banken am Finanzplatz London untereinander Geld leihen konnten. Arbeitstäglich erfolgte die Fixierung des LIBOR dergestalt, dass die in London international tätigen Banken der British Bankers’ Association den Zinssatz meldeten, zu dem sie sich vermeintlich Geld von anderen Banken borgten. Der britische Bankenverband bildete sodann einen Durchschnittswert, den LIBOR. Die bei den jeweiligen Banken für die Mitteilung zuständigen Geldhändler wurden nun von den eingeweihten Derivatehändlern ihres jeweiligen Bankhauses bestochen, damit sie je nach Wunsch der „French Connection“ zu hohe oder zu niedrige Sätze angaben. Die Manipulation des LIBOR war perfekt.

Da es weltweit üblich war, die Höhe der Zinsen von Sparguthaben und Krediten, aber auch von diversen anderen Finanzprodukten an den LIBOR zu koppeln, zählten zu den Geschädigten der Verschwörung unter anderem vor allem Gläubiger, die bei einem nach unten hin manipulierten LIBOR zu geringe Haben-, sowie Schuldner, die bei einem nach oben hin verschobenen LIBOR zu hohe Sollzinsen verzeichneten. Betroffen war vom Sparer über den kleinen Häuslebauer bis hin zum Unternehmer also fast jeder.

Aber das war Büsking schnuppe. Denn unter diesen Vorzeichen war das Trading von Termingeschäften auf den Drei- und Sechs-Monats-LIBOR regelrecht eine Goldgrube. In seinem Rekordjahr allein machte er für sein Bankhaus einen legendären Gewinn von Pi mal Daumen 300 Millionen Euro. Selbstredend wanderte davon ein beträchtlicher Teil in Gestalt eines saftigen Bonus in seine eigene Tasche.

Inzwischen wurden von den Aufsichtsbehörden gegen die beteiligten Banken, darunter neben Büskings eigener Bank unter anderem Barclays, die Royal Bank of Scotland und die UBS, Milliardenstrafen verhängt. Vor dem Hintergrund, dass nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weltweit Finanzprodukte im Wert von mehr als 500 Billionen Euro am LIBOR hingen, war auch mit einer Welle zivilrechtlicher Verfahren zu rechnen, gleichwohl die Beweisführung sich hier als schwierig gestalten dürfte. Ferner sahen sich einige Mitverschwörer bereits persönlicher Strafverfolgung ausgesetzt.

Büsking jedoch, der nach dem Auffliegen des Kartells in 2012 bei der Germanischen Bank gekündigt hatte, blieb weiterhin unbehelligt. Niemand von der Finanzaufsicht oder Staatsanwaltschaft klopfte bei ihm an. Niemand stellte unangenehme Fragen. Stets hatte er im Gegensatz zu seinen Mittätern peinlich genau darauf geachtet, keine Spur zu hinterlassen. Stets hatte er sich wie in diesem Traum gefühlt, in dem man einen Mord begangen hatte und davor zitterte, von der Polizei als der Mörder enttarnt zu werden. Und jetzt war es geschehen, irgendein Möchtegern-Gott, irgendeine kackfreche autodeifizierende Götze maßte sich an, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Schneeball

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