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“Adventsnacht”

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Lieber Pater K

Darf ich Ihnen wieder einmal schreiben? Ich schreibe Ihnen öfters, ohne dass Sie es wissen, und richte meine Tagebucheinträge an Sie.

Im Moment beschäftigt mich so vieles. Mein Inneres ist aufgewühlt, wie schon oft in meiner Vergangenheit. Darf ich Ihnen die Umstände schildern?

Die Crux der ganzen Geschichte ist die Liebe. Eben bin ich einem Menschen wieder-begegnet, der mir bewusst macht, wie ausgehungert ich mich beziehungsmässig fühle. Und das obwohl ich nun schon seit einigen Jahren enge Freundschaften pflege. Dieser Mann, er kommt aus Bulgarien, hat mir auch weniger einen gegenwärtigen Stand aufgezeichnet als vielmehr ein Defizit, welches ich seit früher Kindheit entwickelt habe. Er spiegelt mir so sehr die Fülle eines satten Beziehungsbedürfnisses, dass seine Ausstrahlung mich richtiggehend überflutet und ich kaum nach Luft schnappen kann. Dabei ist nichts anderes zwischen uns vorgefallen als eine Wiederbegegnung ohne Berührung.

Vor ungefähr zwei Jahren, ich müsste im Tagebuch zurückblättern um den genauen Zeitpunkt auszumachen, hat er seine Anstellung in der Klinik begonnen. Ich erinnere mich an jene Pause, die ich mit einem Teamkollegen im Garten der Cafeteria verbracht habe – und er entfernt allein unter einem Vordach sass. Mein Herz strömte über, ich weiss es klingt kitschig, aber ich kann die Empfindung nicht anders wiedergeben. Es war mir, als wäre ein Heiliger gegenwärtig. (Ich habe meine Auffassung von „Heiligen“ inzwischen in Abhebung von der katholischen Lehre für mich gefunden: Es sind dies schlichtweg Menschen, unvollkommen wie sie sein mögen, die ich liebe und deren Ausstrahlung mich heilsam berührt. Es erübrigt sich, Ihnen zu sagen, dass auch Sie, seitdem ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, für mich ein Heiliger sind.) Natürlich musste ich mich nach diesem Ereignis eingehend mit Christus über ihn unterhalten. Ich fragte Ihn, was es für mich bedeute, wenn die Klinik nun plötzlich, was vorher nicht der Fall war, ein Herz und eine Seele hat.

Sie müssen sich ihn klein und untersetzt und sehr kräftig vorstellen, ruhig, behutsam, natürlich. Ein freundliches, ernstes Gesicht und ein dünner, schwarzer Haarkranz, fast wie eine mönchische Tonsur. Wie ich erst gestern herausfand war er vor zwei Jahren erst 23, er ist aber bereits Vater von zwei Kindern, die heute sechs und zwei Jahre alt sind.

Dieser Kinder willen war er eine Woche später zur Nachtschicht angetreten, und war seither aus meinem Blickfeld verschwunden, ohne dass ich darauf reagieren konnte. Ich hab ihn nicht mehr gesehen und langsam vergessen. Nicht ganz allerdings. Einmal machte ich den Versuch, auf dem Schriftweg an seine Geburtsdaten zu kommen, um sein Horoskop deuten zu können. Er hat aber nicht darauf reagiert, was ich als einen Entscheid gegen eine private Kontaktaufahme auffasste und respektierte. Ausserdem hab ich einen Hörspieltext begonnen, in welchem ich ihm meine Verfehlungen gegen jedes der zehn Gebote bekenne und ihm die Rolle eines Gesandten Gottes, nämlich eines Engels, zuweis. Aber davon weiss er natürlich nichts.

Wegen eines Krankheitsfalles war ich nun angefragt worden, zwei Nachtschichten zu übernehmen. Der gute Gott (wer sonst?) hat es so arrangiert, dass ich die erste von zwei Nächten noch ohne ihn arbeiten und mich an den fremden Ablauf und die Gäste gewöhnen konnte. In der zweiten Nacht aber würde er erscheinen, passend im Advent. Am Abend vorher (das Schlafen am Tag hat nur halbwegs funktioniert) war ich vollkommen aus dem Häuschen. Ich musste Gott ins Gewissen reden, was ich in einem Tagebucheintrag festhielt. Und dann kam die Nacht. Ich habe mich nicht getäuscht. Er hatte seine ganze Bedeutung für mich erhalten. Ja, der Eindruck, den er auf mich machte, war noch grösser als in meiner Vorstellung. Um drei Uhr ging ich ihn auf seiner Abteilung besuchen. Es war der dritte und letzte Versuch, denn vorher war er nicht aufzufinden. Ich wollte ihn fragen, ob mein Brief mit dem Horoskopangebot zu aufdringlich war. Und er setzte sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit mit mir an einen Tisch und schrieb die Angaben auf. Ich fühlte mich wie schon während der Zusammenarbeit sehr unsicher, aber er war geduldig. Am morgen war ich halbwegs „durch“. Alles war ein bisschen viel für mich gewesen. Ich machte einen Computerausdruck von seinem Horoskop, kombinierte es mit meinem, und mich überfiel ein grosses Verlangen. Auch er kennt eine tiefe, religiöse Sehnsucht nach Beziehung, auch wenn sie nicht auf mich gerichtet ist wie meine auf ihn. Dennoch sah ich seine Annahme meiner Person im gemeinsamen Horoskop reflektiert, und das rührt mich sehr. Es ist möglich, dass er mich mag. So unwahrscheinlich das ist, und so wenige Grundlagen, die ich ihm bieten kann, vielleicht ist es dennoch so, dass auch ich ihm ein Spiegel bin für etwas, was ihm wichtig ist.

Dienstag Abend ist für mich immer Therapiegruppenabend bei einem Analytiker. Heute fiel die Sitzung aus, aber ich hatte die Meldung auf meinem Telefonbeantworter nicht abgehört. Die vergebliche Reise störte mich nur insofern, als dass ich vorher begonnen hatte, sein Horoskop schriftlich zu deuten. Mein Zustand führte mich während der Wartezeit auf dem Bahnhof in einen Musikladen. Aufenthalte in solchen Geschäften, wo Kopfhörer mit Musikproben aufgehängt sind, sind für mich selten fruchtbar. Gestern schon. Ich hörte Musik, ich hörte Texte, und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Jedes Wort, das ich gesungen hörte, wollte ich in dieser From an ihn richten. Eine neue Produktion eines deutschen Interpreten traf mich genau in die Mitte. Der Titel der CD lautet "Mensch“. Es ist ein sehr persönliches Werk des Interpreten, der darin den Tod seiner Ehefrau verarbeitet. Die tiefen Sinnfragen, auf die ihn seine Trauer führt, hat er musikalisch und literarisch in eine überzeugende, zeitgemässe Form gebracht. Ich vergass die Zeit, betete und wurde mir der grundlegenden Bedeutung bewusst, die Liebe für mich hat. Er ist für mich eine solche mensch-gewordene Gestalt der Liebe. Er ist ein Spiegel für die Sehnsucht, die Kraft, die Fürsorge, die Annahme und das Verantwortungsbewusstsein nicht gegenüber der ganzen Menschheit, aber gegenüber denen, welche ihm nahestehen. Und es ist mein grosser Wunsch, zu seinem weiteren Umfeld zu gehören.

Danke, dass ich Ihnen dieses anvertrauen durfte. Falls auch Sie einmal etwas brauchen, was ich Ihnen besorgen kann, dann tue ich es gern. Sie haben bei mir ein Stein im Brett! nm.

Animus oder Die Seele eines Stärkeren

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